Prof. Helle liest sich ein:

Ein Profikampf

Vorlesungsrezension aus dem Fachbereich Soziologie

Am soziologischen Institut der LMU wirkt seit dem Sommersemester ein weiterer „Mann ohne Eigenschaften“: Prof. Helle war noch München gekommen, um sich hier intensiver der Lehrtätigkeit widmen zu können, als ihm dies bspw. in Aachen oder in Wien möglich gewesen war. Er hatte sich dort vornehmlich mit Hochschulpolitik beschäftigt. Seinen eigenen Angaben zufolge, wendet er sich nun von diesem Kapitel seiner Laufbahn ab, um sich hauptsächlich der Soziologie zuzuwenden, denn – wenn schon nicht über Hochschulpolitik – so „muß man mit jedem Soziologen wenigstens darüber reden können.“

Doch scheint seine hochschulpolitische Vergangenheit nicht spurlos an ihm vorübergegangen zu sein: Gerüchten zufolge, soll sich der Professor um die Liquidation des Hauptfachstudiums Soziologie in München bemühen. Darüber dürfte er sich aber vornehmlich mit BWL-Profs unterhalten, als mit Soziologen geredet haben. Doch folgen wir dem, was uns gilt: Prof. Helles wissenschaftlichem Dialog.

Jeden Donnerstag zwischen zehn und zwölf Uhr wird die Große Aula Schauplatz einer Einführung in die Soziologie. Der Kampf zwischen Prof. Helle und' dem, was Soziologie sein will, Wissenschaft, ist auf ein Semester angesetzt, das entspricht etwa 15 Runden: ein Profikampf also.

Um das Ergebnis vorwegzunehmen: die erste Runde ging eindeutig an Prof. Helle. Über sämtliche Tricks verfügend hatte er die Wissenschaft fast ausgeknockt; lediglich die Zeit konnte dem Treiben im Ring ein Ende bereiten. Schildern wir kurz den Verlauf dieser dramatischen Minuten.

Prof. Helle hatte seinen Gegner kommen lassen: die „Spannung zwischen Wesen und Erscheinung“ (Alle Zitate – soweit nicht anders angegeben – sind wortgetreue Mitschriften aus der Vorlesung „Einführung in die Soziologie“ von Prof. Helle), die er thematisierte, brachte die Wissenschaft leicht in Vorteil. Helle hatte seine Deckung einen Augenblick lang vollkommen offen: an Platons „Höhlengleichnis“ demonstrierte er die Situation der Sozialwissenschaften. In der Höhle hockend, die Schatten betrachtend, so muß man sich Soziologen vorstellen, deren Ziel „zuverlässige und geordnete Erkenntnis“ ist.

Der Kampf schien ausgeglichen. Die Frage, die sich das Publikum stellte, war eindeutig: wie würde Helle es fertigbringen, sein Ziel zu erreichen, also wie wird er argumentieren, um herauszubekommen, was das Wesen sozialer Erscheinungen ist?

Es war vollkommen ruhig in der Aula, als Helle seinen Konter anbrachte: „das Wesen ist die Sozialbeziehung zwischen Partnern.“

Damit hatte keiner rechnen können. Helle war mit einer Definition gekommen. Er hatte den Gegner (und das Publikum) auf eine falsche Fährte gelockt und war ihm dann in den Rücken gefallen. Hatte er mit dem Problem von Wesen und Erscheinung noch den Eindruck provoziert, als wolle er erklären, wie dieser Gegensatz zu überwinden wäre, und zeigen, was Wissenschaft ist, so war er mit diesem„Definitionskonter“ allen Problemen enthoben. Zwar hatte er nichts über das, was wissenschaftliches Arbeiten konstituierende, Problem ausgesagt, aber immerhin war er einen Schritt zur Vernichtung der Wissenschaft weitergekommen.

Der Kampf hatte eine neue Wendung genommen. Nun ging es Schlag auf Schlag; die Wissenschaft geriet immer mehr in Rückstand. Die methodischen Ansätze der Soziologie sollen dafür ein Beispiel sein.

Prof. Helle kennt mehrere davon. Der Neopositivismus ist einer, die Phänomenologie und die Hermeneutik sind auch welche. Über den Neopositivismus wußte Helle zu sagen, daß er sich nur auf die Erscheinungen richtet, daß das Wesentliche für diesen Ansatz keine Rolle spielt. Die beiden anderen hingegen machen sich anheischig „zum Wesen der Erscheinungen vorzustoßen.“ Ungeachtet der Problematik einer „Methodendiskussion“, die immer mit der Unterstellung arbeitet, um erkennen zu können, also um sagen zu können, was die Dinge sind, muß ich mich eines Werkzeugs bedienen, das ich vorher als richtiges Werkzeug erkannt haben muß, erzählte Helle alles, was er wußte über diese Ansätze. Es kam ihm dabei weniger auf Richtigkeit als auf Vollständigkeit, weniger auf Eindeutigkeit, als auf den Stolz des Sammlers an.

Der neopositivistische Ansatz, so referierte er -- nun ganz Herr im Ring-- sei besonders gut geeignet zur Erfassung mikrosoziologischer Probleme. Der Wissenschaft war deutlich anzusehen, daß sie die Frage quälte, ob sie vorzeitig aufgeben sollte. Denn ging es Helle vor Minuten noch darum, hinter die Erscheinungsebene sozialer Phänomene überhaupt zu gelangen, so war« er im Augenblick dabei, die Erscheinungen für den Bereich der Mikrosoziologie identisch zu setzen mit dem, was er vormals als „Wesen“ bezeichnet hatte. – Mit der frechen Unterstellung, der Gegenstand, also Kleingruppen u. ä., diktierten ihm sein Vorgehen.

Was nun folgte, war weder eine Werbung für die Wissenschaft, noch eine für den Boxsport: Helle definierte nur noch, er schlug einfach zu. So bestimmte er Handeln als „Verhalten plus Sinnhaftigkeit“; das Ziel des Handelns definierte er als „auf Erwerb, Verleihung und Entzug von Mitgliedschaft“ zu Gruppen oder Organisationen gerichtet und Erkenntnis machte er ganz von der eigenen Fragestellung abhängig: „. . . Diesem breiten Spektrum der Erkenntnisobjekte muß eine Vielfalt der angewandten Methoden entsprechen; ob der neopositivistische, der phänomenologische oder der hermeneutische Ansatz gerechtfertigt ist und ob dabei wiederum die aristotelische oder die dialektische Logik angewandt werden soll, läßt sich nur relativ zu der bearbeitenden Fragestellung entscheiden.“ (Hervorhebung von uns.)

Was Helle hier unterstellt, leugnet nun endgültig alle Wissenschaft. Denn es geht nicht mehr darum, was der zu erforschende Gegenstand ist, sondern es wird nur mehr so verfahren, wie es die jeweilige Fragestellung erfordert. Das aber heißt, daß Helle schon wissen müßte. was die jeweiligen „Erkenntnisobjekte“ sind, bevor er sich für eine Methode entscheidet. Diese Variante von .“Wissenschaft“ richtet sich nun nicht mehr darauf, als was die Gegenstände bestimmt sind, sondern, bei Unterstellung man (hier: Helle) wüßte es bereits, nur noch darauf, wie -- bei gegebener Fragestellung, also Zwecksetzung -- mit ihnen verfahren werden muß.

Zu diesem Zeitpunkt hätte die Wissenschaft das Handtuch werfen sollen. Sie trug deutliche Spuren des Kampfes.
Doch ihr Gegner trieb es noch schlimmer: er bereitete den K.o.-Schlag gegen die Wahrheit vor.
Bekenntnisgruppen – jubelte er – sind solche die Wahrheiten hochhalten. Das Publikum applaudierte verlegen. Von all dem keine Notiz nehmend, bestand Helle, der fighter, auf dieser Aussage, in der er Wahrheit unmittelbar mit dem Glauben an Wahrheit identifiziert hatte. Wahrheit also, so lautet die Konsequenz, gibt es gar nicht und wer sich anheischig macht, eine solche zu behaupten, allein nach ihr zu fragen, setzt sich dem Gespött des Siegers aus. Wissenschaft, kann man nun resumieren, hat mit Wahrheit nichts zu tun. Wenn sie nund amit nichts zu tun hat, womit dann?

Der Kampf war zu Ende, Helle hatte obsiegt. Freundlich lächelnd -- im Bewußtsein, seine Zuhörer würden auch das nächste Mal wieder kommen. müssen – verschwand er in sein Trainingslager in der Konradstraße, nicht ohne dem erstaunten Publikum noch zuzurufen: „Soziologie soll Freude machen!“
„Die fast unlösbare Aufgabe besteht darin, weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen.“ (Theodor W. Adorno) Dies flüsternd ging ein Zuhörer am Chronisten vorüber. Er hatte donnerstags noch zwei Vorlesungen zu hören. Ihm schwante, daß dieser Kampf nicht der einzige gewesen sein dürfte, der an diesem Tag in der Universität stattfand.

 

aus: MüSZ 9 – 1973

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