60 Jahre nach der Sozialistischen Oktoberrevolution:

SOWJETUNION HEUTE


„Ein beglückendes Menschheitsdatum“ nannte der Generalsekretär der KPdSU, Leonid Breshnew, den 7. November, und die Freunde seiner Partei hierzulande sehen in der Sowjetunion nicht nur das Ideal ihres politischen Wollens verkörpert, sondern sind sich mit Breshnew darin einig, daß er nicht nur „das Vermächtnis des großen Lenin“ vollstreckt, die „Ideen von Marx und Engels“ in die Tat umgesetzt, sondern darüber hinaus noch einen „Jahrtausende alten Menschheitstraum“ verwirklicht habe. Kein Wunder, daß der so Geehrte zu seinem Jubeltag Anlaß für die Einführung neuer Ehrentitel wurde, weil die alten schon zahlreich genug seine Heldenbrust bedeckten. Bürgerliche Stimmen stehen nicht an, der SU zu bescheinigen, sie könne sich als zweite Supermacht durchaus sehen lassen, und auch dem Staatsmann Breshnew gilt Bewunderung, wegen „der Machtfülle, die er in seiner Person vereint“ und die – zumindest, was die Zahl der Posten betrifft, – diejenige eines Stalin übertrifft, ganz zu schweigen von Lenin, der es nie weiter gebracht hat als zum Vorsitzenden des Rats der Volkskommissare, wie die Bolschewiki damals die Sowjetregierung nannten, weil sie wußten, was es heißt, als ersten Schritt nach der proletarischen Revolution gleich wieder eine Regierung einzusetzen. Solche Sorgen plagen die modernen Sowjetführer mitnichten, in deren Kabinett der Ministerpräsident Kossygin über 145 Minister verfügt. Formalia dieser Art sind es aber, neben den genüßlich reponierten gehobenen Lebensformen der Sowjetelite, die bürgerliche Schreiber, die den Standpunkt der Bourgeoisie in kritisch-distanzierter Form verfechten, zu der hämischen Pointe veranlassen, der Sowjetstaat heute sei das schiere Gegenteil von dem, was Lenin und die Bolschewiki wohl beabsichtigt hätten. Hauptsächlich aber bezieht der bürgerliche Antisowjetismus sein Material aus der schadenfrohen Reportierung von Planungsmängeln, aus Schwierigkeiten des Sowjetstaates mit seinen Dissidenten und der mangelnden Bereitschaft seiner arbeitenden Bürger, die hochgesteckten Planungsziele zu erfüllen, was sich paart mit ihrer Vorliebe für Produkte des westlichen Kommerzes, über die Moskau-Touristen allerlei zu berichten wissen. Einerseits also die Geringschätzung eines Staates, in dem so gut wie nichts funktioniert, andererseits verweist die ständige Herumhackerei auf der Sowjetunion, die vor allem in der Form eines Vergleichs vorgetragen wird, bei dem sich regelmäßig die Überlegenheit von Demokratie und Marktwirtschaft herausstellt, darauf, daß man weiterhin im Umgang mit diesem Staat seine Probleme hat. Ungeachtet dessen, daß man mit ihm jetzt als Partner des Friedens und der Zusammenarbeit im Rahmen der KSZE die Modalitäten der wechselseitigen „politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Kooperation“ aushandelt: vielmehr verweist dies auf die Bereitschaft des Westens, den Gegner als Konkurrenten zu behandeln, mit dem sich ein Geschäft machen läßt, wofür man ihm noch allerlei politische und ökonomische Zugeständnisse abringen kann, um seine gewinnbringende Erschließung fürs Kapital zu befördern.

Weil die Sowjetunion heute weltweit nicht als Proletariat im Besitz der Staatsmacht auftritt, sondern im Gegenteil als mächtiger Staat, der sein Proletariat für sich schuften läßt und damit dem Imperialismus Konkurrenz macht, kann dieser den Sowjetstaat gelassen wie einen Konkurrenten behandeln und sich auch in die Gratulationscour zum 60. Jahrestag der sozialistischen Oktoberrevolution einreihen. Warum andererseits die Sowjetunion heute allen Grund hat, „den Geist des Roten Oktober“ zu beschwören und ihre Bürger anzutreiben, in diesem zu handeln, warum dieser Staat also mit der Revolution der Arbeiter, Soldaten und Bauern nichts mehr im Sinn hat, sondern nur noch an ihnen interessiert ist, wird im folgenden erklärt. Dabei interessiert uns nicht, wann und an welchem Punkt der Geschichte der Übergang zum Revisionismus erfolgt ist, mit der Entmachtung Trotzkis, wie seine zeitgenössischen Fans meinen, mit der Alleinherrschaft Stalins, wie die Verfechter des „demokratischen Sozialismus“ sagen, oder gar mit dem „Staatsstreich der Chruschtschow-Clique“, wie die Maoisten „enthüllt“ haben. Da dies jedoch das einzige Interesse moderner Antirevisionisten oder Antistalinisten ist, wird über sie zumindest eines klar: Weder geht es ihnen um die proletarische Revolution, die im russischen Oktober stattfand, noch um eine Kritik der Sowjetunion heute. Vielmehr wollen sie sich an Lenin und an Breshnew ihr eigenes Revi-Ideal bestätigen. Einmal als Hoffnung, das andere Mal als Enttäuschung.

„Die Grundaufgabe der für den gegenwärtigen Augenblick des Übergangs bestimmten Konstitution der RSFS besteht in der Errichtung der Diktatur des städtischen und ländlichen Proletariats und der ärmeren Bauernschaft in Form einer machtvollen Allrussischen Sowjetregierung zum Zwecke der völligen Niederhaltung der Bourgeoisie, der Beseitigung aller Ausnutzung des Menschen durch den Menschen und der Einsetzung der sozialistischen Gesellschaftsordnung, unter der es weder eine Klasseneinteilung noch eine Staatsmacht geben wird.“

Verfassung der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik von 1918, Art. V.9

„Als Diktatur des Proletariats entstanden ist der Sowjetstaat mit dem Aufbau des entwickelten Sozialismus, mit dem Übergang aller Bevölkerungsschichten auf die politisch-ideologischen Positionen der Arbeiterklasse zu einem Staat des ganzen Volkes gewachsen, der den Willen und die Interessen der Arbeiterklasse, der Bauernschaft und der Intelligenz aller Nationen und Völkerschaften des Landes ausdrückt.“

Präambel zur Verfassung der UdSSR von 1977 (Entwurf)

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I. Ein Staat des ganzen Volkes

Um den ,,großen Siegen des Sozialismus“, die dieser in den vergangenen Jahrzehnten errungen hat, einen Spiegel vorzuhalten, in dem sie – was offenbar nötig ist – endlich einmal für jedermann „offensichtlich widergespiegelt werden“ (Breshnew I), hat die sowjetische Staatsführung sich für den diesjährigen runden Jahrestag der Oktoberrevolution ein besonderes Festgeschenk für ihr Volk ausgedacht: Außer den bereits traditionsreichen Militärdemonstrationen, mit denen der Sowjetstaat die weltpolitische Defensive des „sozialistischen Lagers“ in den Sieg zu verwandeln pflegt, in der militärischen Konkurrenz der Supermächte bislang mithalten zu können, und neben den beliebten Sonderarbeitstagen, an denen stets neue Teilsiege über den unverändert bleibenden Mangel errungen werden, beschert sie ihren Bürgern diesmal eine neue Verfassung für sich selbst, deren Zweck darin besteht, die nächsten Aufgaben der proletarischen Weltmacht zu formulieren und den Status quo als eine einzige Ansammlung von Siegen zu feiern und diese Feier als weiteres Glied in der Kette von Siegen zu begehen.
Revolution als Staatsgründung
Für einen Staat, der am einstigen Sieg der russischen Arbeiter und Soldaten über die zum kapitalistischen Staatswesen sich mausernde Zarenherrschaft nichts mehr zu feiern findet als seine Entstehung –

„Genau wie jeder Lebenslauf eines Menschen beginnt die Geschichte eines Staates an seinem Geburtstag. Die Geburt des Sowjetstaates ... fällt auf den 25. Oktober (7. November) 1917. Und geboren wurde er in Rußland durch die sozialistische Oktoberrevolution“ (IX, S. 5) –

ist nichts klarer, als daß der Fortschritt des Sozialismus sich schlüssig in einem staatsrechtlichen Akt zusammenfaßt, in dem er sein Verhältnis zu seinen Bürgern neu definiert: Er will nicht mehr Instrument der Diktatur des Proletariats sein müssen, sondern empfiehlt sich seinen Bürgern als ganz der ihre: „Staat des ganzen Volkes“ heißt die Jubelparole, Die Feier der neuen Verfassung wird allerdings aus dem Feierungswürdigen an den Ereignissen des Jahres 1917 zumindest den Art. V der damals von den Bolschewiki erlassenen Konstitution ausklammern müssen, die sich „die Einsetzung der sozialistischen Gesellschaftsordnung“ unter der es weder eine Klasseneinteilung noch eine Staatsmacht geben wird,“ zum Ziel setzte. Selbst die Stalinsche Verfassung von 1936 enthielt noch die verfassungsrechtlich bedenkliche Vorstellung, der „Anwendungsbereich von Zwangsmethoden“ in der „sich entfaltenden sozialistischen Gesellschaft“ könnte eines Tages überhaupt verschwinden, so daß es mit dem Staat selbst ein Ende hätte. Damit räumt die neue Verfassung explizit auf (vgl. X, S. 53):


Sozialismus als Volksgemeinschaft

Im Gegensatz zur Diktatur des Proletariats ist der allgemeine Volksstaat ein Gewaltverhältnis, das sich nicht am Zweck der klassenlosen Gesellschaft begrenzt, sondern als Selbstzweck auf Dauer angelegt ist. Zum zweiten hat der Staat, indem er sich per Gesetz als einer „des ganzen Volkes“ deklariert, damit von Anfang an klargestellt, daß die Übereinstimmung zwischen ihm und seinem Volk sich zwar nicht von selbst versteht, eine Nichtübereinstimmung aber erst recht völlig ausgeschlossen ist; und da er als Staat diese Unmöglichkeit feststellt, bedeutet seine Selbstdefinition das Versprechen, der Identität von Staatsmacht und Volkskörper Geltung zu verschaffen, indem er jeden Opponenten als erklärten Volksfeind behandelt. In dieser vom Staat durch die Ernennung aller Volksgenossen zu gleichberechtigten Bürgern geschaffenen harmonischen Volksgemeinschaft gibt es allerdings immer noch Klassen, nur ist jeglicher „antagonistische Widerspruch“ zwischen ihnen weg und auch ,,kontradiktorische“ treten nur höchst selten auf. Wo von Klassen die Rede ist, handelt es sich stets um einen bestimmten Teil des Sowjetvolkes, an dem der Sowjetstaat seine besondere Freude hat.

So sehr er es als seinen Fortschritt feiert, daß er nunmehr

„sämtliche Bürger des Staates (vereint) und ... sie mit gleichen Rechten in die Leitung der gesellschaftlichen Angelegenheiten ein(bezieht)“,

seine ,,soziale Basis“ also erklecklich „breiter“ geworden ist (X, S. 53), so sehr lobt er sich gleichzeitig dafür, daß er

„damit jedoch nicht seinen Klassencharakter verliert. Die Arbeiterklasse spielt nach wie vor die führende Rolle“ (X, S. 52).

Der logische Widerspruch, daß jeder Bürger die gleiche, die Arbeiterklasse aber die führende Rolle spielt, findet seine schlüssige Auflösung vom Standpunkt des besonderen Interesses aus, das dieser Staat an seinen arbeitenden Bürgern nimmt:


Arbeiter im Arbeiterstaat ...

Die Sowjetunion hält sich als historisches Verdienst die Leistung zugute, daß die proletarische Revolution die alten Ausbeuter abgeschafft und die Produktionsmittel in der Hand der Sowjetmacht konzentrierte. Dies war nun keineswegs das Werk des Sowjetstaats, den es in den Monaten der revolutionären Umwälzung noch gar nicht gab, sondern des Kampfes bolschewistischer Arbeiter, Soldaten und Bauern, die gerade keine Macht neben oder über sich mehr haben wollten: Alle Macht den Sowjets! Die moderne Sowjetmacht hingegen hält sich etwas darauf zu gute, alles für die Proleten zu tun, Macht über sie auszuüben als ein Staat, der es zum Wohle der Arbeiter, Bauern und der „werktätigen Intelligenz“ richten wird. Dabei verweist dieser Arbeiterstaat gerne auf seine bürgerlichen Pendants und versucht, sich selbst seinen Bürgern mit dem Argument anzupreisen, er tue mehr für seine Arbeiter als die Staaten, in denen die Monopole das Sagen haben. Daß damit das Klassenmerkmal der Proleten, einen Reichtum zu produzieren, der für sie selber Armut bedeutet, keineswegs aufgehoben, sondern der Staat sich selbst zur Instanz des gesellschaftlichen Reichtums dessen Produzenten gegenüber gemacht hat, ist der Sowjetmacht nicht nur kein Problem, sondern Anlaß, auf sich als Arbeiterstaat stolz zu sein: Sie meint die Abschaffung der Kapitalistenklasse nicht so, daß die einstmals von dieser Ausgebeuteten nun aufhören könnten, als proletarische Klasse zu existieren, sondern sie hat damit schon längst den Zweck verbunden und durchgesetzt, als Staat jene einzige gesellschaftliche Macht zu sein, die nun einmal nötig ist, damit die Arbeiter die Klasse der eigentumslosen Schaffer für den Reichtum der Nation bleiben.

„Zwischen dem sozialistischen Staat und seinen Bürgern, die sich in ihrer Mehrheit durch soziale, politische und Produktionsaktivität auszeichnen, besteht gleichsam ein Arbeitsvertrag. Der Staat übernimmt die Sorge und Sicherung des Wohlstands und der Freiheit des Menschen, und der Mensch gibt der Gesellschaft seine Arbeit“ (IX, S. 83).

Dieses intime Verhältnis zwischen sich und seinen Proleten, in das er keine fremden Ausbeuter hineinreden läßt – oder doch nur zu seinen Bedingungen: Ost-West-Kooperation! –, diese Liebe zum Proletariat als dem, was es ist, und als solches für den Staat zu leisten vermag, liegt der stolzen Selbstbezichtigung des Sowjetstaates als Klassenstaat zu Grunde. Und die Eifersucht, mit der er darüber wacht, daß keiner neben ihm oder ohne ihn das Proletarierdasein für sich ausnutzt, die Ausbeuterklasse also abgeschafft bleibt, verkauft er seinen Proleten als die Wahrung ihres Klasseninteresses, weshalb diese ihn als ihren Klassenstaat so ganz besonders lieben sollen:

„Für die meisten sowjetischen Menschen ist das (ihr Arbeitsvertrag mit dem sozialistischen Staat) nicht irgendeine Verpflichtung, die ihre persönliche Freiheit unterdrückt, sondern ein natürliches (!) Bedürfnis, das ihren eigenen Interessen entspricht.“ (sehr nötig hervorzuheben!) (IX, S. 83)


… sind Staatsarbeiter mit Staatsvertrag

Die Tatsache, daß im 60-jährigen Erzstaat des ,,realen Sozialismus“ die Abschaffung der Ausbeutung in der Abschaffung der Ausbeuter, die Befreiung des Proletariats in seiner Verstaatlichung und seine Freiheit in der Arbeit für den Staat besteht, hat die dazugehörige Staatsideologie auf die unübertrefflich prägnante Kurzformel gebracht, das wahrhaft und eigentlich Schöne und zutiefst Proletarische am sowjetischen Klassenstaat sei das dort verwirklichte Recht auf Arbeit:

„Der Sowjetstaat bemühte sich von seinen ersten Schritten an um reale Freiheit für den Werktätigen. Dazu rief er vor allem das Recht auf Arbeit aus.“ (IX, S. 71).

Das fürs Proletariat seit jeher praktisch unumstößliche Gesetz: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen „ – in der alten SU-Verfassung noch ein Kampfparagraph gegen Großgrundbesitzer und die müßige Klientel des Zarenhofes – und die dazugehörige brutale Maxime, daß der Mensch erst mit dem Verkauf seiner Arbeitskraft Daseinsrecht und Daseinsmöglichkeit gewinnt, stoßen bei der sowjetischen Staatsmacht inzwischen auf solche Begeisterung, daß sie daraus die obersten Prinzipien der staatlich geschützten Menschenwürde macht, nämlich die Arbeit für sie zur Bedingung jeglicher „realen Freiheit“ für den Arbeiter erklärt (s. Tschernenko: „Rechte, ohne die es keine Freiheiten gibt“: IX, S. 71 ff) und diese Verknüpfung als natürliches Grundrecht verkündet. Und wo der sowjetische Staatsideologe sich mit dem brutal apologetischen Einwand konfrontiert sieht, im kapitalistischen Westen ginge es den Arbeitern ohne durchgesetztes Recht auf Arbeit immer noch besser als den Ostproleten, hat er nicht die geringsten Hemmungen, dieser Lüge Recht zu geben: ,,relativ hohe Arbeitslosenunterstützung ...“ Er kontert mit dem faschistischen Spruch, daß erst die Arbeit das Leben lebenswert macht:

„ ... erlebt der Mensch, der seine Arbeit verliert, eine starke moralische Erschütterung. Amerikanische Psychologen stellten fest, ...“ (IX, S. 73).

Damit räumt er jeden Zweifel daran aus, daß das Lob proletarischer Arbeit als verwirklichtes Recht der Menschenwürde schmeichelt, weil es die bittere Realität ausspricht, daß es daran für den Arbeiter selbst nichts zu loben gibt. Wenn die neue Verfassung dieses Grundrecht, das den Menschen beim Arbeitstier beginnen und enden läßt, erweitern will um das

„Recht auf Wahl des Berufs, der Beschäftigung und der Arbeit gemäß Eignung, Fähigkeiten, Bildung und fachlichen Kenntnissen“ (XI, S. 19),

so wird nicht erst durch den Verfassungszusatz, wonach

„diese Wahl den Erfordernissen der Gesellschaft zu entsprechen hat“ (ebd.),

klargestellt, daß hier der Staat sich selber das Versprechen gibt, die Pflicht zur Arbeit effektiver zu handhaben: Schon die Festlegung der Berufswahl nach Maßgabe verwertbarer individueller Fähigkeiten als Recht kann, nachdem es private Arbeitgeber doch nicht mehr gibt, gar keine anderen Adressaten haben als erstens den Staat, der so seinen Entschluß verkündet, sein Problem mit einem optimalen Einsatz seiner Arbeitskräfte, bei dem deren Individualität nun einmal in Betracht gezogen werden muß, in Zukunft besser zu lösen, – und die Arbeiter selbst, denen damit der Schutz ihrer beruflich vermittelten Menschenwürde gegen Faulheit, Selbstüberschätzung und das Interesse an leichterer und besserer Arbeit zugesagt wird. Was also im kapitalistischen Westen die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt besorgt, daß jeder den Job kriegt bzw. nicht kriegt, für den man ihn brauchen kann, regelt in der Sowjetunion der Staat selber: hüben wie drüben kommt es nicht darauf an, was einer leistet, sondern ob seine Leistung für die „Erfordernisse der Gesellschaft“ erstens tauglich und zweitens besser im Vergleich mit derjenigen anderer ist. Einen Nachteil haben die Sowjetmenschen allerdings: während ihre Klassenbrüder im Westen wenigstens die Auswahl zwischen verschiedenen Arbeitgebern haben, gibt es in der Sowjetunion nur einen: die Sowjetunion.


Intelligenz fürs Volk

Wenn der Sowjetstaat also darin proletarischer Klassenstaat ist, daß er das Proletarierdasein seiner Lieblingsbürger für ihn als deren Menschenrecht verwirklicht, so ist damit auch schon klar, daß ihm neben seinem Proletariat die Klasse jener „sozial und politisch“ Werktätigen ebenso unentbehrlich ist, die durch ihre nicht-proletarische Tätigkeit dafür sorgen, daß die Proletarier ihr Menschenrecht auch wirksam verwirklichen. So hält der Staat sich neben seinem eigenen Verwaltungsapparat einen umfänglichen Stab von Betriebsleitern aller aus der kapitalistischen Betriebssoziologie bekannten hierarchischen Stufen, die die Produktion so zu organisieren haben, daß dem Proletariat seine „spezifische Stellung“ darin erhalten bleibt, sowie die Funktionäre des Wissens, das, unentbehrlich für solchermaßen vergesellschaftete Produktion, auf gut proletarisch getrennt von den wirklichen Produzenten existiert. Er sorgt überdies durch Bezahlung und Privilegien dafür, daß diese Leute unter dem Titel „Volksintelligenz“ eine veritable anerkannte gesellschaftliche Klasse werden. Indem er den Produktionsprozeß vorwiegend so organisiert, daß dabei für ihn Mehrwert herausschaut, verschafft er weiteren gesellschaftlichen Klassen die ökonomische Grundlage für ihre nicht-proletarische Werktätigkeit.


Die realsozialistische Klassengesellschaft

Die Sowjetunion ist also proletarischer Klassenstaat mit solcher Konsequenz, daß sie sich neben ihrem Proletariat und auf dessen Kosten alle für dessen proletarische Existenz erforderlichen nicht proletarischen Klassen erhält. Und ihre Absicht, diese selbsterzeugte Klassenspaltung und damit sich selbst für alle Zukunft zu erhalten, verkündet sie unermüdlich: Unbekümmert um Realitäten und Widersprüche behauptet sie die prästabilierte Harmonie der gegensätzlichen Interessen ihrer diversen Klassen:

„Die führende Rolle der Arbeiterklasse als fortgeschrittenster Und bestorganisierter Klasse der sozialistischen Gesellschaft bleibt im Staat des ganzen Volkes nicht nur gewahrt, sondern erhöht sich noch,. Das bedeutet allerdings nicht, daß dadurch die Interessen der Kollektivbauernschaft und der Volksintelligenz; beeinträchtigt und deren gesellschaftspolitische Aktivität eingeschränkt werden“ (X, S, 55) – wie auch: „Das Klassenprogramm der Arbeiterklasse ist nun aber auch Anliegen der anderen Klassen und sozialen Gruppen“ (X, S. 52) –

Zugleich widerlegt sie die eigene Behauptung, indem sie die Erhaltung dieser Harmonie als ureigenste Staatsaufgabe verkündet: der Staat des „entwickelten Sozialismus“ muß der Tatsache, daß seine

„Klassen und sozialen Schichten ... sich nach ihrer Stellung in der Produktion unterscheiden und spezifische Bedürfnisse und Interessen besitzen, … Rechnung tragen, um eine optimale Verknüpfung (!) der Interessen der ganzen Gesellschaft mit den Interessen und Bedürfnissen jeder Klasse und sozialen Gruppe zu finden. Dabei werden eventuelle Widersprüche rechtzeitig und gerecht überbrückt (!)“ (X, S. 54).

Womit auch noch ausgesprochen ist, welches der übergeordnete Gesichtspunkt ist, unter dem die Unterschiede zwischen den Klassen für den Sowjetstaat gleichgültig werden: Unter dem Kriterium des Beitrags, den die diversen „sozialen Gruppen“ zu seinem Funktionieren als Klassenstaat leisten, sind alle Klassengegensätze in die Harmonie der einen großen Volksgemeinschaft hinein aufgehoben. Indem die Sowjetunion also sich selbst stolz und programmatisch zum „Staat des ganzen Volkes“ deklariert und dies als epochalen Sieg feiert, bekennt sie sich für alle Zukunft dazu, im Interesse des besonderen Nutzens, den sie vom Klassendasein ihrer Arbeiter hat, alle gesellschaftlichen Klassen gleichmäßig zu erhalten, also Klassen-Staat bleiben zu wollen – weshalb in der Tat kein Widerspruch zwischen ihrer Selbstdefinition als Volksstaat und dem gleichzeitigen Bekenntnis zur in jeder Hinsicht dominierenden Rolle des Proletariats besteht.


Probleme mit dem Volk im Volksstaat

Indem die SU sich als integrierten Volksstaat auf proletarischer Grundlage lobt, äußert sie sich jedoch nicht nur über den Nutzen, den sie als Staat erstens von ihren Lohnarbeitern und zweitens von den dazu erforderlichen nichtproletarischen Volksgenossen hat. Sie gibt zugleich darüber Auskunft, welches Problem sie mit Volk und Proleten hat, sowie, wie sie dieses Problem löst und auch weiterhin zu lösen gedenkt.

Wenn der Sowjetstaat die größten Anstrengungen unternimmt, um zu seinem »60. Geburtstag« sich selbst seinen Bürgern zum Geschenk zu machen, so zeigt er damit in aller Offenheit, wie sehr ihm seine Verankerung im Willen des Volkes Sorge bereitet – vor allem im Interesse seiner Proleten, deren Klassenstaat er sein will.

Wenn er die Übereinstimmung seines Handelns mit den Interessen der Arbeiterklasse mit dem Hinweis auf deren Anteil an den Volksvertretungen belegen will, riskiert er nicht nur eine rechnerische Bauchlandung:

„Unsere Arbeiterklasse macht heute zwei Drittel der Bevölkerung des Landes aus“ (Breshnew II, S. 8)
+ „Im obersten Sowjet der Republik, der im Juni 1975 gewählt wurde, sind 31,6 % aller Deputierten Arbeiter“ (X, S. 56)
+ „In der entwickelten sozialistischen Gesellschaft erhöht sich die sozialpolitische Aktivität der Arbeiterklasse“ (ebd.).

Er dokumentiert schon darin, daß er eine solche Rechnung überhaupt sinnvoll findet, die Abgetrenntheit seiner Existenz vom Willen seiner werktätigen Massen.

Wenn er diesen bei jeder Gelegenheit vorerzählen läßt, erstens wie gut sie es bei ihm haben – er garantiert

„den Werktätigen solche fundamentalen Rechte und Freiheiten real (!) über die sich viele bürgerliche Verfassungen und die bürgerliche Propaganda hartnäckig ausschweigen. Es handelt sich z.B.(!) um die Freiheit von Ausbeutung und das gesicherte Recht auf Arbeit...“ usw. (II, S. 23 f.) –

und zweitens, daß sie das gefälligst auch zu merken haben –

„Es steht aber ganz außer Zweifel, daß jeder Sowjetbürger spürt, wie ständig für sein Wohl gesorgt wird, dafür, daß sein Leben immer besser gesichert ist und immer gehaltvoller wird“ (II, S. 19)

so beweist folgerichtig jedes seiner Argumente, daß hier nicht etwa eine im Besitz der Macht befindliche und mit ihrer eigenen Aufhebung befaßte Arbeiterklasse Bilanz zieht. Vielmehr reagiert da ein Staat, dem die Ansprüche seiner Lohnarbeiter lästig sind, mit einer propagandistischen Offensive auf ein Nutzenkalkül seiner Bürger, in dem er nicht gut aussieht.


Der Staat als Partei

Wenn der Staat sich daraufhin als Staatspartei vorstellt, die zugleich als Partei des Proletariats Werkzeug seiner Interessen sei –

„Ihre führende Rolle nimmt die Arbeiterklasse in erster Linie (!) über die kommunistische Partei wahr“ (X, S. 56);            ,
„Die führende und lenkende Kraft der Sowjetgesellschaft, der Kern ihres politischen Systems, aller staatlichen und gesellschaftlichen Organisationen ist die KPdSU“ (XI, S. 17) –

so ist damit explizit ausgesprochen, daß der offizielle Wille der Arbeiterklasse erstens als besonderer, abgetrennter Wille neben ihr in einer Partei existent bleiben soll und zweitens in dieser seiner Existenzweise seine Hauptaufgabe darin hat, dem Staat als belebender „Kern“ zu dienen. Der Apologet bestätigt dies, indem er die Interessenübereinstimmung zwischen Partei und Proletariern nach deren Anteil an jener berechnet (was nebenbei, wieder schiefgeht):

„Ihrer Natur nach war und bleibt die KPdSU eine Partei der Arbeiterklasse. Derzeit sind 41,6 % der Parteimitglieder Arbeiter, desgleichen 58 % der Neueintretenden“, (X, S. 56)

und nicht vergißt zu beteuern:

„Aufbau, Mitgliederzahl und Arbeitsstil der kommunistischen Partei sind so, daß man ihr Isolierung von den Massen unter keinen Umständen vorwerfen kann“ (IX, S. 41).


Die Partei als Staat

Woraus unschwer geschlossen werden kann, daß es diesen Vorwurf unter den Massen sehr wohl gibt. Kein Wunder schließlich, daß die Funktion der KPdSU als Staatspartei sie in Gegensatz gerade zu den Arbeitern bringt, deren Klassenpartei sie sein soll. Die Partei jedoch leugnet jeglichen Widerspruch zwischen den Ansprüchen des Staates an seine Werktätigen und deren Unwillen über eine Arbeiterpartei, die als Staatsmacht das Geschäft ihrer Ausbeutung besorgt, schlicht weg und fordert die „Werktätigen in Stadt und Land“ auf, massenhaft in die Partei einzutreten und so ihre „ Verbundenheit mit ihr“ zu demonstrieren. In der Partei verstärken sie dann durch ihre Mitgliedschaft die „Kraft, Stärke und Geschlossenheit“ dieser „Vorhut der Arbeiterklasse“ als die der Sowjetstaat in seiner Eigenschaft der staatstragenden Partei auftritt, deren Aufgabe darin besteht, allenthalben den Antreiber zu machen:

„Die tagtägliche Arbeit der Partei nach demokratischen Prinzipien ist jene Stimmgabel, die der ganzen Gesellschaft den Ton angibt“ (IX, S. 38);

das tönt dann z.B. so:

„Wir treten in die Diskussion über die neue Verfassung in einer Periode ein, da das Sowjetvolk unter der Führung der Partei eine angespannte Arbeit zur Erfüllung der Beschlüsse des XXV. Parteitags der KPdSU leistet. ... Die Parteiorganisationen und Parteiorgane sind verpflichtet, eine umfassende Diskussion der Verfassung zu fördern, ... Wenn es ihnen gelingt, das richtig zu tun, werden sich dadurch die wirtschaftlichen und politischen Ergebnisse dieses Jahres ... zweifellos verbessern“ (Breshnew II, S. 22 f.)

Spätestens an dem darin offen erklärten Gegensatz zwischen Führern und Geführten wird erkennbar, daß den Proleten das von ihrem Staat an ihnen vollstreckte Recht auf Arbeit nicht von selbst gefallen kann.


Der sowjetische Mensch ...

Für den proletarischen Klassenstaat ohne Ausbeuterklasse ist freilich ebenso wesentlich wie dieser Gegensatz zu seinem werktätigen Volk, daß es ihn nicht geben darf; denn so wie die Existenz dieses Staates sich daraus begründet, daß er an die Stelle der Kapitalisten getreten ist, so hängt die Rechtfertigung seiner Existenz davon ab, daß die Ausgebeuteten diesen Wandel als ihre Selbstbefreiung anerkennen. Folgerichtig bespricht die Staatspropaganda der SU den Gegensatz zwischen Staatszweck und Sonderinteressen nie anders als in der Form seiner Abstreitung; und das ist die ideologische Seite der Manier dieses Staates, praktisch mit seinem Volk fertig zu werden. Dabei streicht die SU nicht nur sich selbst als den verwirklichten Wunschtraum aller ihrer Bürger heraus; sie vergißt vor allem nicht die andere Seite, daß es den Aberwitz eines Staates, der als Staat nicht die geringste Interessendifferenz zu seinen Bürgern aufweist, nicht geben kann ohne die Figur eines Bürgers, der seine Interessen ohne Rest im Staatszweck aufgehen läßt, und malt sich in ihrer propagandistischen Selbstbespiegelung, was ihr in der Wirklichkeit schmerzlich abgeht: den idealen Sowjetmenschen:

„Unsere größte Errungenschaft ist der sowjetische Mensch, der heute kommunistische Überzeugung und mächtige Lebensenergie, hohe Kultur, Kenntnisse und die Fähigkeit, sie anzuwenden, in sich vereint. ... Durch seine selbstlose (!) Arbeit stärkt er die Macht des sozialistischen Vaterlandes“ (II, S. 22).

„Der sowjetische Mensch zeigt großes Verständnis für die Aufgaben des ganzen Staates, der ganzen Partei ... betrachtet alles, was im Sowjetlande geschieht, als sein eigenes Anliegen“ (IX, S. 45).

Und der Parteigenosse setzt diesem Ideal die Krone auf:

„Die sowjetischen Kommunisten haben, bildhaft gesprochen, nur ein Recht, nur ein Privileg – nämlich dort, wo es am schwersten ist, stets die Ersten, stets allen anderen Vorbild zu sein“ (IX, S. 42).


... schönstes Produkt des Sowjetstaats

Nicht einmal der Sowjetstaat erfindet nun allerdings solchen idealistischen Quatsch über seine Bürger und deren Liebe zu ihm, um daran zu glauben. Wenn er sich im Lob seiner Massen ergeht, dann will er ihnen klarmachen, was er sich von ihnen erwartet und ihnen daher beizubringen gedenkt:

„Der Anerziehung (!) dieser Eigenschaften, der ideologischen Arbeit insgesamt gilt unablässig die ganze Aufmerksamkeit der Partei“ (II, S. 22) – die hier auch mit der Zeit geht: „Die Partei, die für die Entwicklung der sozialistischen Demokratie sorgt, schenkte in den letzten Jahren den Problemen des »psychologischen Klimas« in den Betrieben und Institutionen ... große Beachtung“ (IX, S. 39 f.).

Und dieser Unterricht ist keineswegs nur theoretisch: Da der Staat das Fortkommen in den Karrieren, die er einrichtet, oft genug aber auch schon die einfache Selbstbehauptung gegen die erfolgreichen Karrieristen an das Engagement im sozialistischen Wettbewerb, die Beteiligung an staatsdienlichen Diskussions- und Aktivierungskampagnen, die Wahrnehmung von ehrenamtlichen Funktionen aller Art, insgesamt also daran bindet, daß der „sowjetische Mensch“ sich die Sache des Staates praktisch zu seinem Anliegen macht, zieht er sich die Staatsbürger heran, die er braucht, produziert damit aber gleichzeitig die Schwierigkeiten mit seinen Bürgern, die ihn zu deren ständiger moralischer Agitierung zwingt. Und weil die Parteimitgliedschaft unter allen Bedingungen fürs Vorwärtskommen die entscheidende Bedingung ist – eine Wahrheit, über die die diesbezüglichen Dementis des Ideologen Tschernenko beredte Auskunft geben –, lobt der Staat seine Parteimitglieder als Edelproleten mit besonders tiefem Staatsverständnis und unerschütterlicher Allzeit-bereit-Gesinnung und macht ihnen damit klar, daß die Partei, auf die sie sich in ihrem Interesse eingelassen haben, sein Mittel ist, um die Bürger beständig für sich zu mobilisieren: eine auf Dauer gestellte staatliche Aktivierungskampagne, in der alle Sauereien, die sich die verkommensten bürgerlichen Wissenschaften wie die Soziologie und die Psychologie ausgedacht haben, ihre Anwendung finden und als Methoden der „sozialistischen Menschenführung“ die höheren Weihen erfahren. Zwar kennt auch der kapitalistische Westen die permanente Agitation seiner Bürger, jedoch beläßt er das Nebeneinander von Konkurrenz und Privatsphäre, weil er sich auf die produktiven Wirkungen jener verlassen kann und die in dieser gehegten Ideale als nützliche Moral zum harten Alltagsgeschäft durchaus erwünscht und gefördert sind, keineswegs jedoch seine Basis bilden wie im Osten, wo der Einsatz in der Konkurrenz Dienst am Staat ist. Wo man sich nicht für den eigenen Vorteil zum Schaden anderer abplagen darf, sondern ständig für Höheres in die Pflicht genommen wird, man also konkurrieren muß, ohne das Ziel der Konkurrenz verfolgen zu dürfen, ist eine persönliche moralische Haltung verlangt; mit der der einzelne ganz im Ganzen aufgeht. Der Faschismus hat dies zur Vollendung getrieben, indem er überhaupt den Tod als Erfüllung des Lebens feierte. Obwohl auch der Sowjetstaat seine toten Helden leben läßt, als wären sie gleichsam in ein atheistisches Walhall eingezogen, bleibt sein Reich von dieser Welt: die sich ihm hingeben, sollen noch auf Erden belohnt werden, im Kommunismus, wo bekanntlich jeder nach seinen Bedürfnissen... (wenngleich man nicht vergißt, bereits jetzt vor allzu überzogenen Bedürfnissen zu warnen: mehr als einen PKW zu besitzen, bleibt auch in der Klassenlosen dem Generalsekretär der KPdSU vorbehalten!) Weil aber die Versprechung des kommenden Zustands der Befriedigung aller zu kurz kommenden Bedürfnisse den Materialismus der dafür jetzt Schuftenden nicht satt macht, teilt der Revisionismus mit dem Faschismus das Konzept vom „neuen Menschen“, der sich nur noch vom Idealismus leiten läßt. Die Progressivität der Sowjetideologie beweist sich aber auch hier darin, daß ihr neuer Mensch derjenige der Zukunft ist, den nur der Kapitalismus bislang an seiner Genesis verhinderte, während die Faschisten bekanntlich ihre „Blonde Bestie“ durch die Freilegung des Urariers aus den Verkrustungen und Schlacken der Zivilisation auf die Welt loslassen wollten.


Kampf dem Genossen Ohneiwan

Weil der permanente Einsatz für den Klassenstaat nichts Erfreuliches ist, steht dieser immer wieder vor dem Ergebnis, daß die Seinen tatsächlich gemerkt haben, worauf es ankommt bei der Verknüpfung von Staatszweck und Eigennutz:

„Leider gibt es noch Menschen, die unsere Politik und unsere Prinzipien kennen, sie aber nicht immer in der Praxis befolgen und nicht für ihre Verwirklichung kämpfen, sondern sich versöhnlerisch zu den Übertretungen der Normen der sozialistischen Gesellschaft verhalten. Die Diskrepanz zwischen Wort und Tat, in welcher Form sie auch immer sich äußern mag, schadet dem Wirtschaftsaufbau“ (um den es dem Staat bei seiner Moral ja schließlich zu tun ist) (Breshnew I, S, 100).

Und wenn der Staat sich mit dem Zwang selbstlose Begeisterung für den Staat als Bedingung für einen Konkurrenzvorteil zu demonstrieren, und mit seiner dazugehörigen moralischen Erziehung ein Volk von Opportunisten schafft, das seinen Staat zwar aufrechterhält, aber eben in der Weise, daß es sich vor dem Recht auf ertragreiche Arbeit nach Kräften drückt und deshalb permanenter Überwachung zum Schutz gegen „Rückfälle in philisterhafte, kleinbürgerliche Denkweise“ (ebd.) bedarf, so verfügt er in seinen extra organisierten Vorzugsbürgern über die dazugehörigen Heuchler, die seinen Bürgern die proletarische Staatsmoral beizubringen wissen:

„Leider gibt es bei uns noch Parteimitglieder, die sich nicht als wirkliche politische Kämpfer zeigen. Stoßen sie auf Mängel und negative Erscheinungen, dann tun sie, als würden sie nichts bemerken und halten sich an den »Spießbürgergrundsatz« »Mich geht das nichts an, sollen darüber andere nachdenken«“ (die illegale sowjetische Version des legalen alten westdeutschen »Herrn Ohnemichel« aus der Zeit vor dem Zeitalter der Bürgerinitiativen). „Man trifft auch solche, deren Aktivität zur Schau getragen ist“ (als wäre nicht die Schau das, worauf es ankommt!) „und auf äußeren Effekt berechnet ist. Sie reden mehr als andere von der Notwendigkeit, diese oder jene Sache in Angriff zu nehmen, belehren stets alle und rufen immer zu etwas auf. Sobald es aber darauf ankommt, praktisch die Sache anzupacken, bringen sie es fertig, sich irgendwo abseits zu halten, im Schatten zu bleiben.“ (Breshnew 1971)

Indem er seine Bürger zum Idealismus prügelt, weil so, wie er sie behandelt, Selbstlosigkeit in großen Portionen nötig ist, um als Betroffener die verlangte Übereinstimmung mit ihm zuwege zu bringen, schafft der Staat sich das Erziehungsproblem der Ehrlichkeit; und dessen Unlösbarkeit bereitet ihm Sorgen. So leitet er immer neue Kampagnen in die Wege, die der sozialistischen Moral auf die Beine helfen sollen. Die Jubiläumsverfassung ist somit der geeignete Gegenstand für eine Kampagne von Jubiläumsausmaßen:

„Die Erörterung (der neuen Verfassung) durch das ganze Volk wird die weitere Aktivierung des gesamten gesellschaftlichen Lebens fördern. Sie soll im Volke neue schöpferische Kräfte wecken, dem sozialistischen Wettbewerb zu einem neuen Aufschwung verhelfen und die Verantwortung eines jeden für die ihm übertragene Angelegenheit erhöhen“ (Breshnew II, S. 22) –,

und gibt sich von vornherein selber als eine einzige Offensive des Staates gegen sein unfeierliches Volk zu erkennen:

„Die Verwirklichung der neuen Verfassung wird Millionen und aber Millionen Sowjetmenschen ermöglichen, sich noch aktiver (!) an der Leitung der Wirtschaft und der Kontrolle der Tätigkeit des Staatsapparats zu beteiligen“ (ebd., S. 20).

Und weil

„die Demokratie unter den Bedingungen des Sozialismus ein wichtiger Hebel zur Entwicklung der Wirtschaft und aller Gebiete des wirtschaftlichen und kulturellen Lebens der Gesellschaft ist und bleibt“ (ebd.),

rangieren alle staatlichen Mittel, die Breshnews Verfassungskommission für die neue Offensive des Staates sich hat einfallen lassen, unter dem gemeinsamen Obertitel:

„Entwicklung der sozialistischen Demokratie“.


Der Staat als Volk: Volksdemokratie

Hier findet sich auf der einen Seite der Auftrag an alle Volksorgane, durch vermehrte Kontrolle und vergrößerte Effektivität dafür zu sorgen, daß der Wille des Staates sich auch wirklich und wirksam bis in die letzte ostsibirische Amtsstube hinein durchsetzt und das Volk in allen seinen Verrichtungen ereilt, womit das Ideal der Demokratie auf realsozialistische Weise verwirklicht werden soll:

„Der systematische Charakter der von den Sowjets auszuübenden Kontrolle über die Vollzugs- und die Verfügungsorgane, über die Tätigkeit der Organisationen und Amtspersonen wird ganz besonders hervorgehoben“ (Breshnew II, S. 12); ihre „maximal wirksame Kontrolle über die Arbeit der Exekutivorgane sämtlicher Ebenen“ hat „zu einer wesentlichen Verbesserung der Arbeit sämtlicher Organe (zu) führen, denen die Sicherung der strikten Einhaltung der Forderungen der sowjetischen Gesetze obliegt“, als da sind „Staatsanwaltschaft, Gericht, Schiedsgericht und andere Verwaltungsorgane sowie die Volkskontrolle“, die allesamt mit „noch mehr Initiative, Prinzipientreue und Unversöhnlichkeit im Kampf gegen alle Verletzungen der sowjetischen Rechtsordnung“ vorgehen sollen (ebd., S. 19).

Das in solchen Vorschriften praktisch demonstrierte Vertrauen des Staates in die spontane Linientreue seines Volkes findet seine Entsprechung auf der anderen Seite in jener Neudefinition und Ausweitung der Bürgerrechte des Sowjetmenschen, womit er westlichen Menschenrechtsfreunden die Genugtuung verschafft, diesen Teil des Verfassungsentwurfs als hoffnungsvollen Teilerfolg ihrer Kampagne zu werten, den sie freilich sogleich mit der Warnung versehen, es handle sich womöglich um den Versuch eines taktischen Ablenkungsmanövers der stets hinterlistigen Sowjetmacht. Der Entwurf zeigt zwar, daß der Staat der sozialistischen Demokratie an all den Formen Gefallen findet, unter denen sich in den Demokratien des kapitalistischen Westens die Verwandlung des renitenten Eigeninteresses der Bürger in konstruktive Anteilnahme an ihrem Staat und damit die freiwillige Unterwerfung unter die Staatsräson vollzieht; das Moment kritischer Distanzierung von den Staatsmaßnahmen jedoch, das darin wenigstens der Möglichkeit nach stets eingeschlossen ist und in einer gescheiten Demokratie Unterwerfung doch erst so richtig schön macht, gedenkt er nicht zuzulassen, weil er damit nicht nur seine Selbstrechtfertigung als die verwirklichte Freiheit des Proletariats in Frage gestellt sieht, sondern befürchten muß, auch seine tatsächliche Existenz als exklusiver Nachfolger der Kapitalistenklasse aufs Spiel zu setzen.

Während im kapitalistischen Westen die Demokratie ein Instrument für den friedlichen Verlauf des Klassengegensatzes zwischen der Arbeit und dem Kapital ist, solange sich die Bürger freiwillig der Konkurrenz unterwerfen und darin ihren Vorteil suchen, wobei das demokratische Verfahren bei der Durchsetzung der Staatsgewalt ihnen einerseits die Möglichkeit einräumt, zwischen unterschiedlichen Formen ihrer Unterwerfung unter die von ihnen getragene Gewalt zu wählen und andererseits im Medium der Öffentlichkeit alles dies noch kritisch besprochen werden darf, ist die Volksdemokratie das schiere Gegenteil: nicht Ausdruck der Zustimmung der Bürger zum Staat, sondern farcenhafte Demonstration völliger Einheit, die nicht vorhanden ist. Wahlen mit 99,9 % für den offiziellen Vorschlag sind der krasseste Ausdruck einer Demokratie, die lediglich den Versuch darstellt, den Gegensatz des Volkes zur Staatsführung so zu organisieren, daß es so aussieht als gäbe es ihn nicht. Das gleiche gilt für die Form, in der die klassischen bürgerlichen Freiheitsrechte, die im Westen den Rahmen der kritischen Öffentlichkeit abstecken, in der Sowjetgesellschaft realisiert sind.

Der Sowjetstaat will auf diese bewährten Verlaufsformen der Umwandlung des eigenen Interesses in eine selbstverständlich nur rein persönliche Meinung nicht verzichten und konzediert deshalb in der neuen Verfassung die Rede-, Presse-, Versammlung- und Demonstrationsfreiheit als „Ausbau der sozialistischen Demokratie“. Selbst die Religionsfreiheit wird gewährt, weil man anscheinend davon ausgeht, daß Teile des Volkes auf dieses sein Opium partout nicht verzichten wollen (und daß man mittlerweile sogar davon sich dem Aufbau des Sozialismus Förderliches verspricht, bewies jüngst die Verleihung des „Rotbanners der Arbeit“ an den Moskauer Patriarchen Pimen!)

Gleichzeitig will die Sowjetführung die Bewegungsfreiheit, die für diesen Akt freiwilliger Unterordnung unter das staatlich Notwendige nun einmal erforderlich ist, nicht konzedieren, ohne gegen alle, die daraus ein Verfassungsrecht auf Opposition ableiten wollen, das einzig zulässige Resultat dieser Freiheit im Verfassungstext gleich mitzuformulieren:

„Darum ist im Entwurf klipp und klar gesagt, daß z.B. die Wahrnehmung der Rechte und Freiheiten durch die Bürger den Interessen der Gesellschaft und des Staates, den Rechten anderer Bürger nicht zum Nachteil gereichen darf, daß die politischen Freiheiten im Einklang mit den Interessen der Werktätigen und zur Festigung der sozialistischen Ordnung gewährt (!) werden“ (Breshnew II, S. 15).

Aus dem Kodex seiner Rechte hat der ,,sowjetische Mensch“ vor allem zu entnehmen, ,,daß die Hauptgarantie seiner Rechte letztendlich die Stärke und das Aufblühen seiner Heimat sind“ – eine Erkenntnis, bei der die neue Verfassung ihn treu unterstützt, indem sie ihm seine staatsbürgerliche Ehrenpflicht unter die Nase reibt:

„ehrlich und gewissenhaft zu arbeiten und die Heimat zu verteidigen“, „die Interessen des Sowjetstaats zu wahren, zur Stärkung seiner Macht und Autorität beizutragen, die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung (gegen welche Bedrohung wohl?) nach Kräften zu fördern, Entwendung und Vergeudung von staatlichem und gesellschaftlichem Eigentum zu bekämpfen, die Natur und ihre Reichtümer zu schützen sowie für die Erhaltung von Kulturwerten zu sorgen“.

Hat der Sowjetmensch dies begriffen, so wird er auch das neu verbriefte Recht,

„staatlichen und gesellschaftlichen Organen Vorschläge zu unterbreiten, Mängel in der Arbeit zu kritisieren, gegen Handlungen von Amtspersonen vor Gericht zu klagen“ (Verwaltungsgerichte über die von der Arbeiterklasse ausgeübte Macht?) (Breshnew II, S. 15),

nicht als Aufforderung zu unnützem Querulantentum mißverstehen –

„Übrigens wird die Kritik nicht um der Kritik willen geübt, sondern sie verfolgt immer (!) einen positiven Zweck“ (IX, S. 78)

Vielmehr wird er – in Erwartung positiver Auswirkungen auf das eigene Fortkommen als Staatsaktivist – dem Staat mit den gewünschten Denunziationen unter die Arme greifen:

„Die Briefe der Bevölkerung sind häufig wirksame Hebel der Kontrolle über die Durchführung von Beschlüssen der Partei und Regierung“ (IX, S. 47).

Wenn der Sowjetstaat sich vornimmt, sich in Zukunft mehr räsonierende Öffentlichkeit zu leisten, so bedeutet das nicht wie im Westen, daß er seine Bevölkerung in die Pflicht nimmt, ihr Interesse zur Meinung zu relativieren, die in der jenseits aller Meinung feststehenden Staatsgewalt ihren höchsten Maßstab anerkennt. Wenn der Staat dort mit der vermehrten Öffentlichkeit zugleich deren Inhalt vorschreibt, so praktiziert er Staatsöffentlichkeit als Mittel, Zustimmung zu sich, die es freiwillig nicht gibt, zu inszenieren und, gestützt auf diese, seinem Volk den Herzenswunsch zu erfüllen, den er ihm damit untergejubelt hat:

„Die Oktoberrevolution hat in den Massen das leidenschaftliche Verlangen nach einer Gesellschaft prinzipiell neuen Typs, einer Gesellschaft der befreiten Arbeit geweckt.“ (II, 13)


II. Lohnarbeit und Staat

Daß man mit guten Gründen die Revolution nicht zur Befreiung der Arbeiter, sondern zu der der Arbeit erklärt, dokumentiert eine dem Sowjetstaat liebgewordene Zeremonie :

„Ein bedeutsamer Festtag der freien Arbeit war der traditionelle kommunistische Subbotnik zum Geburtstag Lenins und zum Jahrestag des Großen Oktober.
An diesem Subbotnik nahmen über 140 Mio. Bürger unseres Landes teil.“ (II, 20)


Feier der Arbeit = Arbeitsfeier

Wenn ein Staat, der sich rühmt, einer der Arbeiterklasse zu sein, das Wochenende seiner hochverehrten Proleten um einen zusätzlichen Arbeitstag verkürzt, wirft dies kein gutes Licht auf seine ökonomischen Leistungen. Sein Lob für diese Maßnahme jedoch, die er nicht als Notbehelf verkannt wissen will, sondern als bedeutsamen Festtag schätzt und gar als Tradition beibehalten will, räumt mit allen Vermutungen auf, daß er etwas zur Verbesserung dieser Produktion zu unternehmen gedenkt, die nur durch Sonderleistungen seiner Arbeiter funktionsfähig gehalten wird. Und diese Methode, durch Mehrarbeit die Mängel einer Ökonomie wettzumachen und damit bestehen zu lassen, ist diesem »Klassenstaat« so sehr ans Herz gewachsen, daß er sie über die nicht beliebig vermehrbaren Jubiläen hinaus, für die sich ein arbeitsfreier Tag zum Festtag umfunktionieren läßt, gleich zur Dauereinrichtung gemacht hat.

Gleichzeitig mit Inkrafttreten des neuen Fünfjahresplans, dessen Anforderungen als ,,keineswegs leicht“, sondern „intensiv und angespannt“ (I, 111/118) bezeichnet werden, animiert der Generalsekretär des ZK der KPdSU, ,,Genosse Breshnew“, x-facher „Held der Sowjetunion“, die arbeitende Bevölkerung zur Teilnahme an der ,,Bewegung für die Annahme von Gegenplänen“ (I, 98), einer staatlich inszenierten Kampagne, die die Werktätigen, unterstützt durch kleinere Belohnungen, zu der planmäßigen Selbstdenunziation auffordert, mehr leisten zu können als es der Plan vorsieht, um damit ihrer Planunlust eine plansteigernde Wendung zu geben. Ein Staat, der für die Übererfüllung seines Plans eigens eine Gegenplanbewegung ins Leben ruft, bezieht seine chronische Unzufriedenheit mit dem in seiner Ökonomie geschaffenen Reichtum keineswegs auf seine planerische Tätigkeit: mit dem Lob für „Massenbewegungen“, von denen er sich Sonderleistungen erwünscht, macht er die Ausführenden dafür verantwortlich und gibt mit all diesen Bemühungen zu, daß seine Planung sich nicht an deren Interessen orientiert.


Dem Kapitalismus Kampf ...

Die ebenfalls schon zur ruhmreichen Tradition des Sowjetstaats gehörigen Prognosen,

„Am Ende der Planperiode, das heißt 1980, werde das sowjetische Nationaleinkommen, das gegenwärtig 67 % des amerikanischen betrage, 80 % des amerikanischen Nationaleinkommens von 1975 ausmachen. Die Industrieproduktion der UdSSR, augenblicklich 80 % der amerikanischen, werde dann auf 109 % des US-Wertes vom vergangenen Jahr gestiegen sein.“ (SZ vom 28.10.76),

die ohne jeglichen Skrupel den Vergleich mit der größten Ausbeuternation der Welt anstellen und sich dazu bekennen, diese in deren Geschäft übertreffen zu wollen, geben die Ziele der Planung und damit auch den Grund der Unzufriedenheit mit dem Arbeitseinsatz der Sowjetmenschen preis: die eigene Ökonomie betrachtet man als das Mittel, mit dem Staat des US-Kapitals zu konkurrieren, und da sich auf dem Gebiet der Ausbeutung die Leistungen des Kapitals schwerlich übertreffen lassen, überholt man die Konkurrenz 109prozentig in der Vergangenheit. Das peinlich retuschierte Zurückbleiben in diesem schönen Wettbewerb ist nur der neuerliche Ansporn, die Produktion des eigenen Landes weiterhin der größtmöglichen Steigerung des Nationaleinkommens hinterherjagen zu lassen, was eben nicht mit der Steigerung des Reichtums der Mitglieder der Nation zusammenfällt – auch in der UdSSR steigert nämlich die Produktion von ideologischer Literatur, Uniformen, Panzern und Mondlandegerät das Nationaleinkommen. Das fehlende Verständnis seiner arbeitenden Bevölkerung für solche Planziele stört das Selbstbewußtsein des Staates jedoch recht wenig, meint er doch seiner historischen Rolle gerecht werden zu müssen:

„Zum erstenmal in der Geschichte erhielt der Staat die Möglichkeit, die Entwicklung der Wirtschaft im Rahmen der gesamten Gesellschaft zu organisieren und zu lenken... Infolgedessen ist die sozialistische Gesellschaft frei von der Anarchie bei der Produktion und Zirkulation von Waren, frei von Überproduktionskrisen. Sie hat die Möglichkeit, eine bedeutende Masse gesellschaftlicher Arbeit zu sparen, die im Kapitalismus vergeudet wird.“ (VI, 281/163)


... indem man der Arbeiterklasse im eigenen Land Dampf macht

Diese unverhohlene Begeisterung für die Potenz eines Staates, der sich mit dem lästigen Privateigentum an Produktionsmitteln von den Schranken der Konjunktur befreit habe, bezichtigt den Gegner eines unrationellen Wirtschaftens und keineswegs der Ruinierung seines Proletariats, was für das eigene Proletariat, das in den Stand des Volkseigentümers an seinen Ausbeutungsinstrumenten versetzt worden ist, die ehrenvolle Pflicht zur Folge hat, sich ihnen entsprechend zu widmen. Dies

„bedeutet, daß sich jeder Sowjetbürger, jedes Arbeitskollektiv als wahrhafter Eigentümer um die Verbesserung der qualitativen Kennziffern der Arbeit seines Betriebs sorgen muß, ständig bemüht sein muß, die Qualität der Arbeit auf allen Ebenen unserer Wirtschaft, an jedem Arbeitsplatz zu verbessern.“ (V, 101)

Wenn der Sowjetstaat seine ökonomischen Ziele mit der „Vergeudung gesellschaftlicher Arbeit“ und anderen unwirtschaftlichen Begleiterscheinungen begründet, die die Konkurrenz der Kapitale (die dieses Problem gar nicht kennt) als Verlustgeschäft erscheinen läßt, und stolz auf seine Überlegenheit gegenüber den westlichen Staaten als reeller Gesamtkapitalist pocht, ist es auch nicht weiter erstaunlich, daß in den Plänen dieses Staates allerlei vertraute kapitalistische Einrichtungen auftauchen wie Gewinn, Kredit, Lohn und Prämie allerdings unter dem Titel ökonomische Hebel, d.h. nicht als Bilanzposten kapitalistischer Unternehmungen, sondern als das Handwerkszeug des sozialistischen Staates, mit dem er seine Ökonomie auf Vordermann zu bringen gedenkt.

„Das neue System der ökonomischen Stimulierung, das auf der Festigung und Entwicklung der wirtschaftlichen Rechnungsführung beruht, sieht vor, daß dem Gewinn in der Volkswirtschaft eine größere Bedeutung beigemessen wird. Wir betrachten den Gewinn und die Rentabilität als wichtige Kennziffern für die Effektivität der Produktion. Zugleich ist der Gewinn nicht nur die Hauptquelle für die auf wirtschaftlicher Rechnungsführung basierenden Fonds der Betriebe und Vereinigungen, sondern auch die wichtigste Einnahmequelle des Staates.“ (III, 57)


Sozialistische Betriebswirtschaftslehre:

1. Der Gewinn

Das, was dem Sowjetstaat am Gewinn so gefällt, ist die Tatsache, daß er ihn im Unterschied zur gewinnorientierten sprich kapitalistischen Wirtschaft, wo der Staat den privaten Gewinn seiner Lieblingsbürger sichert und befördert, abkassieren kann. Dabei schert ihn wenig, daß die Vorschrift an die Betriebe, für den Staat rentabel zu sein, etwas ganz anderes als die planmäßige Entwicklung der Produktivkräfte und die Steigerung des materiellen Reichtums darstellt, den er seiner Bevölkerung alle fünf Jahre von neuem verspricht, will er doch gerade mit einem gut dotierten Staatshaushalt seine segensreiche Tätigkeit fortsetzen:

„Der Hauptteil des Reineinkommens“ muß „in den zentralisierten Fonds des Staates gelangen. Nur über ihn können die wichtigsten gesamtgesellschaftlichen Bedürfnisse befriedigt werden.“ (VI, 605)

Die Beseitigung der Profitgeier gilt ihm daher als das sicherste Mittel, um – im Gegensatz zu seinen armseligen Konkurrenten, den von den Monopolen in ihrer Handlungsfreiheit beschnittenen bürgerlichen Staaten – eine planmäßige Profitmaximierung zu garantieren:

„Der kapitalistische Profit wird sporadisch (da schmunzelt der Kapitalist!) im Verlaufe eines erbitterten Konkurrenzkampfs der Unternehmen gebildet. Das Reineinkommen der sozialistischen Betriebe entsteht auf der Grundlage des planmäßigen Prozesses der Produktion...“ (VI, 605)

Die Ausrichtung der Betriebe auf die Steigerung des Gewinns als einer „wichtigen Kennziffer für die Effektivität der Produktion“ und die darin enthaltene Anerkennung kapitalistischer Methoden beim Gewinnemachen scheitert allerdings an dem Umstand, daß der so produzierte Reichtum vom Staat eingezogen wird, die sowjetischen Produzenten also ohne den Stachel des Kapitalisten, der Gewinn macht zur Mehrung seines Reichtums, es immer wieder an „Kosten-Nutzen-Denken“ mangeln lassen, weil deren Relation für ihren Nutzen irrelevant ist.

Um seinen Werktätigen das erwünschte Profitstreben nahezubringen, hat der Staat diesem eine materielle Grundlage verschafft. Er verspricht,

„das Interesse des Betriebs an der Erfüllung der staatlichen Planauflagen dadurch zu sichern, daß ihm ein Teil des Reineinkommens, der von der erfolgreichen Erfüllung seiner Aufgaben abhängt, zur Verfügung gestellt wird“ (VI, 605)

als Mittel für die Weiterentwicklung der Produktion einerseits und die sogenannte „materielle Stimulierung d.h. Zugeständnisse an die Arbeitenden andererseits, wobei eines der interessantesten Probleme sozialistischer Wirtschaftsplanung darin besteht, Minimum und Maximum dessen, was den Betrieben zugebilligt wird, auszukalkulieren.

Die solide Grundlage solchen Wirtschaftens bildet damit eine Konkurrenz „neuen Typs“ zwischen dem solchermaßen gegen sich selbst stimulierten Eigeninteresse seiner Betriebe und dem obersten Volkseigentümer. Klagen darüber, daß

„ungefähr die Hälfte der Betriebe wegen der Vielzahl der Bedingungen“, unter denen der Staat ihnen einen Teil des Reineinkommens zugesteht, „keine Betriebsfonds bilden“ können, (VI, 610)

so daß die Wirkung dieses ökonomischen Hebels ausbleibt und unrentabel arbeitende Betriebe keine Ausnahmeerscheinung bei der ,,planmäßigen Gewinnerzeugung“ darstellen, gehören zum Repertoire der Parteitagsreferate ebenso wie die Beschimpfung des „Betriebsegoismus“, d.h. die erboste Konstatierung der Tatsache, daß es einigen immer wieder gelingt, das vom Staat geförderte Eigeninteresse der Betriebe für die Erwirtschaftung von Überschüssen zu verwenden, die dann nicht an den Staat abgeführt werden.


2. Der Preis

Im Kampf gegen ,,ungerechtfertigte“ Gewinne hat der sowjetische Staat die Preisbildung unter seine Aufsicht genommen:

„Die Preise bilden einen mächtigen Hebel der Wirtschaftslenkung in den Händen des sozialistischen Staats und wir müssen ihn sachkundig und effektiv ausnutzen.“ (III, 59)

Die Preisgestaltung fungiert nicht als Mittel der Betriebe, sich auf dem Markt durchzusetzen, wobei die Konkurrenz die eine, das zahlungsfähige Bedürfnis die andere Schranke darstellen. Eine Orientierung der Produktion an den Absatzmöglichkeiten und am gesellschaftlichen Bedarf, wie dies der kapitalistische Markt bewirkt, reißt daher erst gar nicht ein, vielmehr kalkulieren die Staatsbetriebe ihren Vorteil im Verhältnis zu den staatlich festgesetzten Preisen. Sind sie zu niedrig, bleibt die rechte Freude an der sozialistischen Warenproduktion aus und es entstehen die bekannten Versorgungsschwierigkeiten, freundlich umschrieben als ein ,,Engpaß in vielen Zweigen“ (I, 52), was sich zwischenbetrieblich wiederum unter Mißachtung der staatlichen Preise zum wechselseitigen Vorteil benutzen läßt. Bei hohen Preisen wird rücksichtslos gegen Materialkosten und Bedarf produziert bzw. die Produktion auf die preisgünstigen Güter eingeschränkt, was sich in Materialknappheit und unverkäuflichen Beständen neben dem Mangel anderer Güter bei den Handelsgenossenschaften niederschlägt und Planungsexperten zu der Feststellung bewegt:

„Unter bestimmten Bedingungen – wie die Erfahrung bewiesen hat – kann die Erhöhung der Rentabilität des Betriebes von einem Sinken der Effektivität der Produktion sowie von einem Ignorieren der Konsumtionsinteressen begleitet sein.“ (VI, 615)
„Der sozialistischen Gesellschaft ist es natürlich nicht gleichgültig, wodurch, auf welchem Wege und unter welchen Bedingungen der Gewinn vergrößert wird. Jegliche Versuche, Gewinne unter Umgehung der staatlichen Preise oder durch deren Heraufsetzung, Standards zu erwirtschaften, stellen eine gegen die Interessen des Staats gerichtete Praxis dar ... Es ist notwendig, das System der Gewinnverteilung zu vervollkommnen und das Interesse der Betriebe an einem effektiven Einsatz von Material, finanziellen Mitteln und Arbeitskräften zu orientieren.“ (III, 57 f.)


3. Die Kosten

Das heimliche Eingeständnis der staatlichen Planer, daß ihre Organisierung der Ökonomie die Produzenten dazu veranlaßt, unökonomisch zu wirtschaften, bildet also nur den Auftakt dazu, den staatlicherseits installierten Interessengegensatz, das „System der ökonomischen Stimulierung“ durch mit Sanktionen und Belohnungen versehene Regelungen zu vervollständigen, die durch direkte staatliche Weisung einen nicht-effektiven Produktionsprozeß zur Effektivität bringen sollen und für die Betriebe neue Orientierungspunkte darstellen, ihre Vorteilsrechnung gegen den Staat durchzuführen.

„Diese Kennziffern sind dazu bestimmt, die Interessen des Betriebes mit den Interessen des Staates zu einem ganzen verschmelzen zu lassen und anzuregen, Pläne mit angespannter Zielsetzung anzunehmen (und sie natürlich zu erfüllen), Material einzusparen, die Selbstkosten zu senken, doch gleichzeitig die Produktion neuer Erzeugnisse schneller aufzunehmen sowie hochwertige Erzeugnisse im gewünschten Sortiment herzustellen.“ (I, 78)

Setzt der Kapitalist die Kosten der Produktion im Verhältnis zum größtmöglichen Ertrag ein, sind sie also ein Mittel der Ertrags- und Produktivitätssteigerung, so institutionalisiert obige Weisung den Mangel als Grundlage der Produktion und als seine bleibende, weil so sich selbst erhaltende Voraussetzung.

Das Bündel dieser staatlichen Forderungen, das auf das ökonomische Ideal einer creatio ex nihilo (nisi labore) (1) hinausläuft – gewünscht wird

„die Produktion von Erzeugnissen höchster Qualität bei geringstem Aufwand und in kürzester Zeit“ (V, 24) –

verlangt den Betrieben die Leistung ab, bei einer Minimierung von Ausgaben die Erträge zu maximieren. Abgesehen davon, daß mit diesem Auftrag der Klassenstaat seine Wirtschaftslenker dazu veranlaßt, das Reproduktionsniveau der von ihm so geschätzten Klasse nachhaltig zu senken, da die Löhne selbstverständlich auch in der wirtschaftlichen Rechnungsführung des Sozialismus auf der Ausgabenseite auftauchen, werden die Betriebe zu allerlei anderen Kunststücken animiert, deren Resultate von westlichen Wirtschaftskommentatoren immer wieder genüßlich als Beleg für die Unmöglichkeit geplanten Wirtschaftens registriert werden. Das ,,System der Normung (!) des Verbrauchs“ von Material, das im neuen Planjahrfünft z.B. eine ,,Einsparung von Eisenwalzgut von 14 bis 18 %, eine Senkung der Brennstoffverbrauchsnormen für Kessel- und Ofenfeuerung von 3 bis 4%“ (V, 24 f.) vorsieht, verlangt rücksichtslos gegen die besonderen technischen Bedingungen der Produktion Einsparungen vorzunehmen bei gleichzeitiger Steigerung der Produktion, was sich seltsamerweise auf die Qualität der geforderten „hochwertigen Erzeugnisse“ auswirkt und staatlicherseits gute Ratschläge folgender Art ernten wird:

„Es kann leicht geschehen, daß man (!) auf der Jagd nach Zwischenergebnissen, die an und für sich noch nicht den Ausschlag geben, das Wichtigste, die Endresultate außer Acht läßt ... Um beispielsweise die Nachfrage nach schöner und gediegener Kleidung zu decken, steigert der Staat (!) unter großem Kostenaufwand die Produktion von Wolle, Baumwolle und synthetischen Fasern. Doch das Endergebnis wird wegen der mangelhaften Qualität der Appretiermaschinen und Farbstoffe, wegen des Zurückbleibens der Textil- und der Konfektionsindustrie in vieler Hinsicht entwertet...“ (I, 77)

Der sparsamkeitsbeflissene Staat, dem alle Ausgaben ein Greuel sind, gelten sie ihm doch als Beeinträchtigung der an ihn abzuführenden Erträge, macht Jagd auf die Vorräte in der Produktion:

„In Betrieben der Industrie und anderen Zweigen der Volkswirtschaft wird ein Teil des Materials abgezweigt, um über dem Richtsatz liegende und ungenutzte Vorräte anzulegen.“ (V, 20)

Gleichgültig, ob die Betriebe darauf angewiesen sind, um sich die Bedingungen für die Erfüllung und Übererfüllung der „angespannten Zielsetzungen des Plans zu sichern oder um sich bei chronisch instabilen Lieferbeziehungen über Wasser zu halten, für die Partei handelt es sich dabei um eine zu bekämpfende „Psychologie“ –

„Viele Wirtschaftsfunktionäre sind bemüht, sich mit beinahe allem selbst zu versorgen – das sei sicherer, da die fremden Lieferanten einen sitzenlassen können.“ (I, 60) –

gegen die man mit einer Normierung der Vorratsbestände antritt, was die Versorgung nicht bessert, stattdessen Methoden des Materialorganisierens stimuliert, die die Knappheit erst recht verallgemeinern und einige Gelegenheiten für zwischenbetriebliche Sondergeschäfte bieten.


4. Investitionen

Die verlangte Senkung der Kosten, wirkungsvoll unterstützt durch eine Form der Gewinnabführung, die prozentual auf im Einzelbetrieb vorhandene Produktionsmittel und Materialien berechnet wird und „die bestmögliche Ausnutzung der betrieblichen Fonds stimuliert“ (VI, 612), macht die Erfüllung der Forderung, „in allen Zweigen der Volkswirtschaft sind umfassend moderne Technik und moderne Technologien einzuführen“ (V, 25), zu einem Risiko, das das unternehmerische weit in den Schatten stellt und auch nicht allzuoft eingegangen wird. Gelingt es nicht, innerhalb des staatlich organisierten Chaos der materiellen Bedingungen für die Realisierung der geforderten Neuinvestitionen habhaft zu werden, und entstehen die nicht-konjunkturabhängigen Investitionsruinen des Staatskapitalismus, dann „treffen die Betriebe nicht die erforderlichen Maßnahmen, damit Produktionsstätten und andere Einrichtungen rechtzeitig in Betrieb genommen werden.“ (V, 19 f.) Und nach der Devise „das Sparsamkeitsprinzip in der Volkswirtschaft ist zu verstärken“ (V, 22) wird die obige Aufforderung zur Investitionsfreude um folgende ergänzt:

„Die Investitionen sind den Ministerien und Dienststellen nicht schlechthin, nicht für neue Objekte, sondern für den geplanten Produktionszuwachs bereitzustellen. Die materiellen und finanziellen Ressourcen sind vor allem für die technische Umrüstung und Rekonstruktion der bestehenden Betriebe zu investieren, dort, wo man die Produktionskapazitäten ohne Neubauten oder mit geringerem spezifischen Investitionsaufwand erweitern kann.“ (1,61)

Mit folgendem Resultat:

„Es gibt noch Erzeugnisse, die in den Berichten als »neu« aufgeführt werden, in Wirklichkeit aber nur ihrem Herstellungsdatum, nicht aber ihrem technischen Niveau nach neu sind ... Die Überleitung der neuen wissenschaftlichen Ideen in die Praxis ist heute eine nicht minder wichtige Aufgabe als ihre Ausarbeitung“. (I, 63)

Der Staat muß die Modernisierung der Produktion befehlen (was sich im Kapitalismus unter dem Zwang der Konkurrenz erübrigt):

„Die Revolution in Wissenschaft und Technik erfordert radikale Veränderungen im Stil und in den Methoden der Wirtschaftstätigkeit, die entschlossene Bekämpfung von Konservativismus und Routine ...“ (I, 64)

Gleichzeitig verunmöglicht er ihnen diese Modernisierung durch den Zwang des „eisernen sozialistischen Sparsamkeitsregimes“. Folgerichtig spürt der Staat an allen Punkten der Produktion Reserven auf und lastet alle Mängel der von ihm eingerichteten Ökonomie den Produzenten an, die nicht so wollen wie sie können sollten.

„Hier kommt es vor allem darauf an, das Verantwortungsbewußtsein der Kader, ihre Initiative und die Sorge dafür zu verstärken, daß die vom Staat bereitgestellten Mittel und materiellen Ressourcen mit maximalem Effekt eingesetzt, daß die inneren Reserven besser genutzt werden. Und diese Reserven sind vorhanden!“ (I, 67)


Der Kredit

In diesem Sinne wirkt schließlich auch der Kredit als ökonomischer Hebel, der in den Händen des Staates seine kapitalistischen Unarten verlieren und ganz in den Dienst der Steigerung der Produktion treten soll:

„Im Kapitalismus dient der Kredit in hohem Maße unproduktiven (!) Zwecken.“ (VII, 169)

Zwar hat Marx nicht versäumt, bei der Analyse des Kredits festzustellen, daß er als verselbständigte Abteilung des Kapitals, als Bankkapital Abzug vom industriellen Profit bedeutet, Daß deswegen aber seine Tauglichkeit als mächtigster Hebel der Akkumulation in Frage steht (als ob die Bankiers ihre Gelder lieber unproduktiv als profitbringend anlegen wollten), auf so einen Unsinn kann nur eine Sorte Antikapitalisten kommen, die mit der staatlichen Regie von innerkapitalistischen Widersprüchen 1. deren Beseitigung 2. im Dienste der Arbeiterklasse zu leisten vorhat. Als Mittel zur Ausdehnung der Produktion hat der staatskapitalistische Kredit vor allem der „Funktion der ökonomischen Kontrolle über die Tätigkeit der Betriebe“ (VII, 173) zu genügen, darf nur dem staatlichen Mißtrauen gegenüber den Entscheidungen seiner Wirtschaftsfunktionäre gemäß im Einklang mit dem Sparsamkeitsprinzip,, also nicht als Mittel zur Ausdehnung der Produktion verwendet werden:

„Es kommt im 10. Planjahrfünft darauf an, die Rolle und die Effektivität der Kredite bei der rationellen (!) Verwendung der Produktionsressourcen und der Ausnutzung der Produktionsreserven (!) zu heben.“ (IV, 51)

Die Vergabe von Krediten, auf die Betriebe angewiesen sind, gerade weil sie aus eigenen Mitteln eine notwendige Erweiterung oder Modernisierung ihres Produktionsprozesses nicht leisten können, soll also nur unter der Bedingung geschehen, daß die Produktionssteigerung durch eine bessere Ausnutzung der vorhandenen Einrichtungen erreicht wird. Was zur Folge hat, daß einerseits die Erweiterung allein durch die Ausschöpfung der „Reserve“ Arbeiter bewerkstelligt werden muß und andererseits der Fortschritt der Produktion wirkungsvoll blockiert wird. Die Wirkung seiner ökonomischen Hebel, die allenthalben als Bremsen für das Wachstum der Industrie und die Entwicklung der Produktivkräfte fungieren, bestärken den Staatsmonopolisten nur um so mehr in seiner Absicht, die von ihm beneideten Vorzüge des Kapitals in seiner Ökonomie zu verwirklichen.


Sozialistische Wachstumspolitik ...

Mit der schon zur Selbstverständlichkeit gewordenen Unverschämtheit, die Marxsche Erklärung der kapitalistischen Produktionsweise zur Entdeckung allgemeiner Gesetze umzulügen, die „auch in der sozialistischen Gesellschaft ihre Gültigkeit behalten“ (VII, 44), gemäß derer man also die eigene Produktion zurichten müsse, legitimiert man die besondere Sorge um die auch von jedem kapitalistischen Staat gehegten Investitionsgüterindustrien mit einem „von Karl Marx entdeckten allgemeinen Gesetz des vorrangigen Wachstums der Produktion von Produktionsmitteln.“(VII, 44) Daß Marx diesen Sachverhalt als Begleiterscheinung des kapitalistischen Gegensatzes von Akkumulation und Konsumtion dargestellt und auch noch einige andere Einsichten über dieses Verhältnis zu Papier gebracht hat, wie etwa diejenige, daß die kapitalistische Akkumulation auf der Produktion von Überfluß beruht, allerdings einem Überfluß, der sich ebensosehr der tatkräftigen Anwendung der arbeitenden Klassen wie der durch die Lohnform geregelten Beschränkung ihrer Konsumtion verdankt, hindert die sozialistischen Wirtschaftsplaner nicht nur nicht in ihrer Begeisterung für die daraus gewonnenen „allgemeinen Gesetze“, sondern veranlaßt sie zu der Zeugung eines Theorie-Monstrums, nämlich des prinzipiellen Weiterwirkens dieser Gesetze bei gleichzeitigem Verlust ihrer „antagonistischen Kraft“ (VI, 478):

„Dabei stellt die richtige Verbindung von Akkumulation und Konsumtion einen widersprüchlichen Prozeß dar, weil in jedem Falle die Erhöhung des einen Fonds eine Verminderung des anderen bedeutet. Dieser Widerspruch trägt in der sozialistischen Gesellschaft keinen antagonistischen Charakter und er wird durch ein hohes Entwicklungstempo der Produktion gelöst.“ (VI, 478)

Der akkumulationsfreudige Staat teilt also mit, daß er mit den Bedingungen der Akkumulation überschüssigen Reichtum besitzt, den er für die Produktion von Produktionsmitteln, d.h. nicht für die individuelle Konsumtion bestimmte Güter, zu verwenden gedenkt. Daß dieser Akkumulationsfonds jedoch in einer Produktion, die „unmittelbar für die Befriedigung der Bedürfnisse der Gesellschaft bestimmt ist“ (VI, 206), im Widerspruch zum Konsumtionsfonds gebildet werden muß, ist das Eingeständnis, auf welche Weise dieser Überschuß zustandekommt, auf Kosten der Konsumtion. Die Mittel zur Akkumulation werden durch Einschränkung der Bedürfnisse abgezweigt, die Erzeugung von Reichtum beruht auf der Erzeugung von Mangel und Armut. Was die Lobsprüche auf den realen Sozialismus noch in der Form aussprechen, daß sie die Bedürfnisse selbst für ihre Nichtbefriedigung verantwortlich machen:

„Die Menschen müssen heute den Grad der Befriedigung ihrer persönlichen Bedürfnisse begrenzen, um morgen diese Bedürfnisse weitaus vollständiger befriedigen zu können.“ (VI, 207)

Die versprochene „Lösung“ dieses Widerspruchs „durch ein hohes Entwicklungstempo der Produktion“ bringt die staatskapitalistische Lüge auf den Begriff: die Marx unterschobene Forderung einer „Vorrangigkeit“ der Produktion von Produktionsmitteln ist die Einschränkung der Produktion von Konsumtionsmitteln mit der ewigen Zukunftsversprecherei, sie zu erweitern: die Einschränkung der Konsumtion soll also um ihrer selbst willen sein. Mit dem Gerede über die „richtige Verbindung“ von Abteilung A und B in der sowjetischen Wirtschaft, die es als nicht-antagonistischen Widerspruch zu begreifen gilt, bekennt der Staat also offen seine Vorliebe für den Reichtum der Nation, dessen Steigerung er bereitwilligst auf Kosten der Bedürfnisbefriedigung betreibt.

Er zwingt die aufgrund der Anwendung der ökonomischen Hebel durch Stagnation und Versorgungslücken neben unbrauchbaren Überschüssen gekennzeichnete Produktion gerade auf Grundlage dieser Mängel zu einer beschleunigten Entwicklung, fördert das Wachstum von Abteilung A im Gegensatz zu und auf Kosten von Abteilung B. Ein Industriegigant wie die SU, der seine Kosmonauten auf dem Mond Fahnen aufstellen läßt, hat es auf diese Weise während der letzten Planperiode dazu gebracht, daß zwei Dürrejahre die Futtervorräte in der Landwirtschaft nahezu aufgezehrt haben, die Viehbestände drastisch verringert und der Verkauf von Grundnahrungsmitteln kontingentiert werden mußten.

Neben dem peinlichen Eingeständnis, nach 60 Jahren Industrialisierung eine Landwirtschaft zu unterhalten, die durch „schlechte Witterungsverhältnisse“ (I, 67) (Daß im „entfalteten Sozialismus“ bekanntlich „Die Sonn’ ohne Unterlaß scheint“ kann also auch als Entschuldigung dafür herhalten, daß es mit der Entfaltung nicht so recht klappt!), so weit zu gefährden ist, daß „eine stabile Versorgung des Landes mit Nahrungsmitteln“ (I, 64) nach wie vor als Planungsziel in die Zukunft versetzt wird, durfte der XXV. Parteitag folgende herbe Selbst-Kritik zur Kenntnis nehmen:

„Die Verantwortung dafür tragen viele ... Bei weitem noch nicht alle haben es vermocht, ihre Einstellung (!) zur Produktion von Massenbedarfsgütern als einer zweitrangigen Angelegenheit zu überwinden ...“ (I, 71)

nebst dem Bekenntnis zur Fortsetzung dieser Art von Wachstumspolitik:

„Wir haben es einstweilen noch nicht gelernt, unter Gewährleistung eines hohen Entwicklungstempos der Schwerindustrie auch die Gruppe 'B' und die Dienstleistungssphäre beschleunigt zu entwickeln.“ (I, 71)


... mit privatwirtschaftlicher Hilfestellung

Dabei ist man, um die großzügig der eigenen Unerfahrenheit in den Methoden der Wirtschaftslenkung zugute gehaltenen Pannen zu beheben, zum Zwecke des Weitermachens also, zu Konzessionen an das verabscheute Privateigentum durchaus bereit, weil dieses offensichtlich doch „eine bedeutende Masse gesellschaftlicher Arbeit“ weniger „vergeude“. Die Bauern, die neben ihrer Arbeit in den Kolchosen einen halben Hektar Grund privat bewirtschaften und sich offensichtlich besser zu stehen kommen, wenn sie sich selber ausbeuten anstatt ihre Arbeitskraft in den Kollektiven planmäßig und effektiv nutzen zu lassen, werden in dieser Entscheidung ermutigt. Weil die Lebensmittelversorgung auf ihre Ernteerträge in entscheidendem Maße angewiesen ist, legalisiert die neue Verfassung diese Form der Privatwirtschaft (neben einer Reihe von Schwarzarbeiten im Dienstleistungssektor, die bislang schon geduldet wurden, weil der Staat ohne sie nicht in der Lage war, genügend Dienstleistungen zur Verfügung zu stellen) und der neue Fünfjahrplan fordert die Kolchosen und Sowchosen ausdrücklich dazu auf,

„den Dorfbewohnern die erforderliche Unterstützung bei der Führung ihrer individuellen Hauswirtschaft zu erweisen.“ (V, 65)

Im Rahmen sogenannter Kompensationsabkommen mit den westlichen Nationen läßt man sich sogar das ersehnte Wirtschaftswachstum von ausländischem Kapital als fertige Fabriken ins Land stellen, zu denen man nur noch ein bißchen Proletariat beisteuern muß:

„Uns werden Kredite, Ausrüstungen, und Lizenzen zur Verfügung gestellt und wir zahlen dafür mit einem Teil der Erzeugnisse, die in diesen oder anderen Betrieben hergestellt werden.“ (I, 75)

So arbeitet man kräftig hin auf eine

„Erhöhung der Bedeutung der Außenwirtschaftsbeziehungen für die Lösung volkswirtschaftlicher Aufgaben und die Beschleunigung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts“ (V, 98),

so daß das eigene Proletariat im Rahmen des neuen Fünfjahresplans die Steigerung des Nationaleinkommens zunehmend auch unter dem Druck wachsender Verschuldung gegenüber den westlichen Nationen bewältigen darf. Ein Teil des Mehrprodukts, das die sowjetischen Werktätigen ihrem Staat erschuften, gibt dieser also direkt oder über den Staat vermittelt an die imperialistischen Monopole weiter, gegen die man die Bruderparteien wie z.B. die DKP in der BRD kämpfen läßt. Der Partei fällt dabei die ruhmvolle Aufgabe zu,

„dem Arbeitselan der Massen die Richtung zu weisen, die Werktätigen zum Kampf für die Erfüllung des Fünfjahrplans durch jedes Produktionskollektiv zu mobilisieren und die Sowjetmenschen beharrlich zur kommunistischen Arbeitseinstellung zu erziehen.“ (V, 101)


Löhne und Prämien

Und daß die Parteifunktionäre bei dieser Anstrengung, die Massen dazu zu bewegen, durch ihren Eifer die Mängel der staatlichen Planung zu kompensieren, alle Hände voll zu tun haben, demonstriert ihr einfallsreicher Umgang mit weiteren ökonomischen Hebeln, Lohn und Prämie. Denn ebenso wie durch die staatliche Planung der Konkurrenz die Gesetze der kapitalistischen Konkurrenz außer Kraft gesetzt werden, ebenso bleiben auch die wohltuenden Wirkungen der Konkurrenz der Arbeiter, die Steigerung ihrer Leistung bei relativer Senkung ihres Lohns aus. Die staatliche Festlegung der Löhne erspart dem sowjetischen Arbeitsvolk die Illusion ihrer westlichen Kollegen, für ihre Leistung gezahlt zu werden, so daß auch eine Mehranstrengung als das begriffen wird, was sie ist, und die Garantie der Arbeitsplätze macht jede Mehrleistung für den Erhalt des Arbeitsplatzes überflüssig, zumal die staatliche Regulierung der Produktion, die der Freisetzung von Arbeitern genügend Schwierigkeiten in den Weg legt, nachhaltig dafür sorgt, daß im realen Sozialismus alle Proleten ständig alle Hände voll zu tun haben, um die sich fortlaufend als rückständige reproduzierende Produktion überhaupt am Laufen zu halten. Daß der Kapitalismus im Zuge der Akkumulation des Kapitals die Produktion modernisiert, konzentriert und zentralisiert und damit laufend Arbeitskräfte freisetzt, sich also die Existenz einer industriellen Reservearmee garantiert, veranlaßt hiesige Bewunderer der Sowjetunion, die Abwesenheit einer solchen mit dem dort verfassungsmäßig verbrieften Recht auf Arbeit zu begründen und als Beweis für die Arbeiterfreundlichkeit der sowjetischen Planwirtschaft anzuführen, wo doch auf der Hand liegt, daß Arbeitslosigkeit im Westen und Arbeitskräftemangel im Osten nur von einem zeugen: dem gegen die Arbeiter rücksichtlosen Einsatz der Arbeitskraft in Produktionsverhältnissen, die auf ihrer Ausbeutung basieren.


Staatliches Lob für die Opfer

Beschwerden über die fehlende Bereitwilligkeit, sich ohne Aussicht auf Verbesserung der eigenen Lage selbstlos für die staatlichen Planziele einzusetzen, bilden denn auch jeweils zwischen dem scheinheiligen Lob für die „aufopferungsvolle Arbeit des sowjetischen Volkes“ (I, 47) und der Aufforderung, so weiterzumachen –

„Der XXV. Parteitag der KPdSU gibt seiner Überzeugung Ausdruck, daß das Sowjetvolk durch seine aufopferungsvolle Arbeit die Erfüllung der grandiosen Aufgaben des 10. Fünfjahrplans gewährleisten und neue große Erfolge bei der allseitigen Stärkung der sowjetischen Heimat erzielen wird ...“ (V, 102) –

die obligatorische Mitte;

„Angesichts des Gesagten sind solche Mängel besonders untragbar wie Arbeitszeitverluste, Stillstandszeiten, Unregelmäßigkeiten im Arbeitsrhythmus, sehwache technologische und Arbeitsdisziplin, große Kaderfluktuation in einer Reihe von Betrieben.“ (I, 59)


... und materielle Anreize ...

So wenig der Parteiführung an den materiellen Interessen der Arbeiter gelegen ist, die sich nur in diesen kärglichen Formen der Arbeitsverweigerung zur Wehr setzen, so sehr sorgt sie sich um deren materielle Interessiertheit und bemüht sich unter Einsatz aller Finessen kapitalistischer Entlohnungstechniken die Leistungsfreude der Werktätigen anzufachen:

„Fortschrittliche Formen der materiellen Stimulierung sind weitgehender anzuwenden, so die Entlohnung für das Enderzeugnis oder fertiggestellte Objekte, Systeme der Eigenverantwortlichkeit, die Stimulierung des Ausstoßes hochwertiger Erzeugnisse mit weniger Arbeitskräften. Die Prämien sollen mehr als bisher zur Hebung der Arbeitsproduktivität, zur beschleunigten Inbetriebnahme von Produktionskapazitäten, zur besseren Nutzung der vorhandenen Ausrüstung, zur Einführung der neuen Technik, zur Rohstoff- und Materialökonomie und der Hebung der Erzeugnisqualität beitragen.“ (IV, 50 f.)

Die Form der Entlohnung, die in kapitalistischen Unternehmen zusätzlich diese oder jene Prämie in Aussicht stellt, um schädliche Wirkungen des vorhandenen Leistungswillen zu verhindern (etwa die Verschlechterung der Qualität der Produkte oder Unterbrechungen der Produktion durch Betriebsunfälle bei der mit Zustimmung des Arbeiters betriebenen Arbeitshetze), wird hier bei Grundlöhnen, die zum Lebensunterhalt nicht ausreichen, zum Prinzip: nur der Erfolg, den man dem Staat verschafft, verschafft die Prämie, dann der des Betriebes und überhaupt ist der Erfolg des Plans, d.h. seine Übererfüllung, die Bedingung dafür, daß der Arbeiter die Notwendigkeiten seiner Reproduktion bestreiten kann. Daß jedoch auch das Wundermittel Prämie, als letzte Zuflucht beschworen, um das Proletariat zur Rettung der staatlich organisierten Mißwirtschaft auf den Plan zu rufen, die verlangte Hebelwirkung nicht bringt, liegt nicht allein an den Wahnsinnsforderungen gegenüber den Arbeitern, sich als Betriebswirtschaftler sparsam und effektiv einzusetzen, sich bessere Maschinen an den Arbeitsplatz zu stellen, die neuen Fabriken selbst zu bauen und neue Technologien einzuführen, während gleichzeitig das Übersoll erschuftet wird. Sondern leider auch an der bedenklichen Schwächung des Leistungswillens durch folgenden nationalökonomisch durchaus plausiblen Sachverhalt:

„Bedeutet doch das Wachstum der Geldeinkünfte an und für sich noch nicht, eine reale Steigerung des Lebensniveaus. Hinzu kommt, daß der Mangel an bestimmten Waren und der beschränkte Umfang von Dienstleistungen die Möglichkeiten einer materiellen Stimulierung der Arbeit schwächt.“ (I, 70)


... und soziale Leistungen

Und damit auch diejenigen nicht enttäuscht werden, die nach soviel Schmähung des realen Sozialismus immer noch auf das Lob für die vorbildlichen Sozialleistungen des Sowjetstaates warten, soll auch diese Seite des sozialistischen Arbeiterdaseins noch Erwähnung finden:

„Die Partei, die ein umfassendes Sozialprogramm vorlegt, geht davon aus, daß seine Erfüllung zur Hebung der schöpferischen Aktivität der Arbeiter und als neuer Ansporn zu höheren Leistungen eines Jeden dienen wird. Es erübrigt sich, zu erklären, von welcher Bedeutung das ist.“ (I, 55) Allerdings!

Daß man als Staat für Proleten nicht mehr tun kann als der bürgerliche Staat, jene Wahrheit von der der Systemvergleich lebt, – sie als Proleten erhalten, und sie dazu nötigen, sich erwerbsfähig zu erweisen – bezeugt der Arbeiter- und Bauernstaat recht drastisch: nichts tut er, ohne es im Namen der Arbeiter zu tun und ohne es auf ihre Kosten zu verrichten.


Die Stamokap-Theorie wird zur Praxis

Dieser Staat praktiziert mit seiner Gewalt; was die DKP hierzulande als Ideal propagiert: ein Staat im Dienste der Unterdrückten und Ausgebeuteten, der in ihrem Namen seine Bürger lebenslang für sich schuften läßt. Er hat die Ideale des Sozialstaates zu seiner Politik gemacht und folglich fällt ihm zu seinem Lob ausgerechnet ein, sich mit dem Staat des Kapitals zu vergleichen. Daß er selbst bei diesem Vergleich den kürzeren zieht, ficht ihn nicht weiter an: stolz führt er seine „Helden der Arbeit“ vor, die der Verschleiß ihrer Arbeitskraft vorzeitig kaputtgemacht hat und demonstriert ausgerechnet mit Bildern von Krankenhäusern, Sanatorien und Altersheimen, wie gut er seine Opfer versorgt. Gerade die vom bornierten Antikommunismus bestrittene Tatsache, daß der Revistaat etwas für seine Bürger tut, ist ebenso Beleg dafür, daß er sich nicht auf dem Wege zum Kommunismus befindet. In der Schrankenlosigkeit der Ausbeutung und Unterdrückung, die er sich seinen Proleten gegenüber leisten kann, weil er allein es ist, der sich ihrer bedient, erweist er sich als das, wofür er seinen bürgerlichen Gegner hält: staatsmonopolistischer Kapitalismus. Daß es in diesem Stamokap keine Kapitalisten mehr gibt, ist kein Fortschritt, vielmehr nur noch die Voraussetzung für die Übernahme ihrer Funktion durch den Staat. Weil es in einem solchen Staat, wo das Geschäft der Ausbeutung nicht mehr einzelne Kapitalisten mit unterschiedlichem Geschick, sondern der Staat selbst mit der kombinierten Energie seiner Funktionäre und seiner ganzen Gewaltmaschinerie betreibt, am Arbeiterdasein absolut nichts zu feiern gibt, muß der Arbeiter gefeiert werden, der es aushält, was wir hiermit neidlos dem x-fachen „Helden der Arbeit“ Leonid Breshnew überlassen:

„Es ist seit langem bekannt, daß die Aufeinanderfolge gleicher Tage, gewöhnliche Alltagsarbeit – ihr gehen wir ja alle nach – häufig nicht in vollem Maße die Bedeutung und das Ausmaß dessen wahrnehmen lassen, was um uns herum vorgeht. Sogar die Weltraumflüge wurden zu etwas Gewohntem und Alltäglichen. Ganz zu schweigen von der Inbetriebnahme neuer Werke oder beispielsweise von der Errichtung neuer Wohnviertel. So muß es wohl auch sein. In der Tat, Genossen, so muß es sein. So muß es deshalb sein, weil Dutzende Millionen Menschen jeden Morgen ihren neuen, ganz gewöhnlichen Arbeitstag beginnen; an die Werkzeugmaschinen treten, in die Gruben einfahren, auf die Felder gehen, sich über Mikroskope, Berechnungen und Diagramme beugen. Sie denken wahrscheinlich nicht an die Größe ihrer Taten. Aber gerade sie sind es, die die Zielsetzungen der Partei erfüllen und das Sowjetland zu neuen und immer neuen Höhen des Fortschritts führen. Wenn wir unsere Zeit als Zeit großer Taten bezeichnen, wissen wir jene zu würdigen, die sie dazu gemacht haben: Wir würdigen die arbeitenden Menschen.“ (I, 51)

Der Sowjetstaat hat seine Festtage bitter nötig zur nachhaltigen Erinnerung an revolutionäre Tugenden, die 60 Jahre nach der Revolution, nach dem Sturz der Bourgeoisie immer noch gebraucht werden, um sich im Dienst des Staatskapitalismus an der Produktionsfront ausbeuten zu lassen.

„Dies ist eine Gesellschaft der Zuversicht in die Zukunft und der lichten kommunistischen Perspektiven. Ihr öffnen sich die endlosen Weiten eines weiteren allseitigen Fortschritts.“ (I, 111)


III. Jubiläum im Vaterland der Werktätigen

Wie bei den Heilslehren religiöser Provenienz, wo die geknechtete Kreatur für die Mühsal der Gegenwart mit dem in der Vergangenheit verheißenen zukünftigen Paradies getröstet werden soll, begründet die KPdSU ihre Zukunftsvisionen vom kommenden Reich der Freiheit und des Überflusses mit der Mystifizierung des historischen Datums, dem die moderne Sowjetunion ihren „welthistorischen Ursprung“ zuschreibt:

„Lenin und der Oktober wir stellen diese uns unendlich teuren und heiligen Worte stets nebeneinander.“

So sollen die Sowjetbürger sich

„auch heute den Geist des revolutionären Neurertums der heldenhaften Kämpfer des Oktober“

erhalten. Der Zweck dieser Appelle wird klar ausgesprochen:

„das Sowjetvolk verwirklicht nun bereits seit sechs Jahrzehnten die kommunistischen Ideale, das Vermächtnis des großen Lenin.“

Ideale müssen es auch sein, denn der Sowjetmensch tut nichts für sich:

„Durch seine selbstlose Arbeit stärkt er die Macht des sozialistischen Vaterlandes ...“ So M.W. Simjanin vom ZK der KPdSU am 22. April 1977 und genauso in allen sowjetischen Lenin-und-der-Oktober-Feiern.

Was die sowjetische Staatsmacht ihre Bürger anläßlich des 60. in Gestalt festlich ausgeschmückter Erinnerungen miterleben läßt, ist sie selbst in historischer Verkleidung, die zu ihrem Ursprung, zur „Geburt des Sowjetstaats“ (IX, 5) verfälschte Oktoberrevolution. Die Vergegenwärtigung der Revolutionsjahre besteht in nichts anderem als der an jedem Detail betriebenen Selbstentdeckung der Sowjetmacht, die sich von den aufständischen Matrosen und Arbeitern bestätigen läßt, daß sie nur mit dem Bild eines die Volksmassen beglückenden Staates vor Augen zur Vollbringung ihrer „heroischen Leistungen“ imstande waren. Die brutalen Formen der Ausbeutung, mittels derer sich das Kapital in einem rückständigen Land etabliert und mit denen es sich in die Konkurrenz der Industrienationen einführt, die modernisierte Leibeigenschaft auf dem Land, die durch Steuer- und Zinseintreibung die systematische Ausplünderung der Bauern betrieb, waren nicht Grund genug, um sich gegen den Angriff auf die eigene Existenz zur Wehr zu setzen; eine „historische Mission“ mußte die Aufständischen beflügeln. Dort, wo das Proletariat sich von der Ausbeuterherrschaft befreite, erlegen ihm die Revolutionslügen der Staatsfanatiker eine neue Verpflichtung auf: die „Leitung des Staates“ in die Hände zu nehmen, sich selbst eine Staatsmacht mit Beamten, Soldaten, Gesetz und Gefängnis zu erkämpfen, das war es, was die Massen im letzten trieb.

Und weil die Sowjetmacht als Staat des ganzen Volkes sich mit ihren Geburtshelfern ebenso einig wissen will wie mit ihren heutigen Bürgern, weshalb man es ja so besonders liebt, sich selbst durch die erlogene Zustimmung der Mehrheit, wenn nicht aller (99%) recht zu geben, läßt sie die Matrosen und Arbeiter in Petersburg und Moskau gleich als Volksmassen antreten, wobei es nichts ausmacht, daß beträchtliche Teile der Massen sich an der Revolution durchaus nicht beteiligt haben, läßt sich das Volk doch bekanntlich gerne durch seine Führer repräsentieren. Daß diese großartige „Einmütigkeit und Geschlossenheit“ des russischen Volkes die unerfreuliche Gestalt eines Bürgerkriegs annehmen mußte, erklärt sich rückblickend natürlich aus der Aktivität ausländischer Interventen, die seltsamerweise die durch und durch patriotischen Volksmassen in ihrer „Mission“ verwirren konnten. Und auch die Linienkämpfe der bolschewistischen Partei lassen sich in der zur Biographie der SU geläuterten Geschichte so behandeln, daß der störende Eindruck verschwindet, als wären unter den Staatsgründern jemals die großen Ziele strittig gewesen. Die ausgeschlossenen Fraktionen waren allesamt Verräter an dem einen und einheitlichen Staatsideal, was – folgt man dem offiziellen Lehrgang zur Parteigeschichte – die seltsame Konsequenz ergibt, daß die Staatsgründung der glorreichen Republik im wesentlichen von kleinbürgerlich-anarchistischen Elementen, agent provocateurs der räuberischen Entente und verkappten Anhängern der Romanows beschlossen worden sein muß, weil die Mehrheit der damaligen ZK-Mitglieder später allesamt als solche ,,entlarvt“ worden sind.


Die Moral der Revolution

Geschichtsklitterungen dieser Art bilden in der Selbstbeweihräucherung des sowjetischen Staates jedoch nur die Einleitung für das Kapitel, auf das man mit besonderer Vorliebe zu sprechen kommt: die revolutionären Tugenden, die das russische Volk im Oktober und in der ersten Phase des jungen Staates in vorbildlicher Weise zum Einsatz brachte. Daß das Leben ein Kampf ist, in dem man von jedem Sieg zu neuen Siegen sich aufzumachen hat, ist die erste Lektion, die es zu lernen gilt. Durchaus beiseitegelassen werden kann dabei der Umstand, daß soldatische Tugenden tatsächlich vonnöten sind, um einen Bürgerkrieg zu gewinnen und das Ausland zurückzuschlagen, während eine etablierte Staatsmacht, die nicht darauf angewiesen ist, von ihren Bürgern den Einsatz des Lebens zu fordern, um eine Rückkehr der Ausbeuterklassen zu verhindern, die Verherrlichung der Kämpfermoral aus ganz anderen Gründen betreibt. Mit dem Lob revolutionärer Tugenden macht sich der Staat, der bei seinen Massen Wert auf solche Qualitäten legt, ein zweifelhaftes Kompliment: die „nicht endenwollende Kette von Siegen“ verlangt von denen, die sie erringen, einen Kraftakt nach dem anderen, der sie gar nicht erst in den Genuß ihrer Siege kommen läßt. Und weil die Schlachten heutzutage an „ganz gewöhnlichen Arbeitstagen“ (I, 51) geschlagen werden, eignen sich auch die ökonomischen Anstrengungen des Kriegskommunismus besonders für die zweite Lektion: daß man nämlich seine Bedürfnisse dann am besten betätigen kann, wenn man auf sie verzichtet. Die Zwangslage, die die bolschewistische Partei nach der Revolution zu bewältigen hatte, auf Grundlage einer kaum entwickelten Industrie die Produktion zu steigern, um den Krieg gewinnen und gleichzeitig mit einer Hungersnot fertigwerden zu können, liefert das Ideal der bedürfnislosen Plackerei. Was Lenin als „eine Art circulus vitiosus“ beklagte,

„Um die Arbeitsproduktivität zu heben, muß man sich vor dem Hunger retten, um sich vor dem Hunger zu retten, muß man die Arbeitsproduktivität heben.“ (AW III, 260),

charakterisiert nicht das Elend, das nur einen Gedanken zuläßt, nämlich den, daß man es hinter sich bringen muß, nein, es begründet die ökonomische Lehre des Staatskapitalismus, der das Proletariat auch in der lichten Zukunft des Kommunismus nicht auskommen wird. Kommunismus ist, wenn „die Arbeit zum ersten Lebensbedürfnis“ der Massen geworden ist, und auf die Befriedigung „entarteter Bedürfnisse“ brauchen sie sich keine Hoffnung zu machen. Die Staatsmacht behält sich die Definition von „gesunden“ und „normalen “ Bedürfnissen auch dann noch vor. (VII, 254 – 263)

Daß die Subbotniks und Bravourleistungen des Bürgerkriegs alles andere als Ausdruck der Not sind, mit der die Sowjetrepublik zu kämpfen hatte, versteht sich daher von selbst. Die Aufrufe Lenins an ein von „Ruin und Verelendung, Erbitterung und Müdigkeit“ gekennzeichnetes Proletariat (AW III, 260) werden zum Musterbeispiel dafür, zu welchen Leistungen die Massen unter Führung eines großen Staatsmanns imstande sind, natürlich nur wenn dieser selbst „voller selbstloser Hingabe zur revolutionären Sache, von Mut und Selbstaufopferung erfüllt“ ist. (II) Solche Lügen, daß ein Revolutionär, der das Programm durchgesetzt hat, das er für richtig hielt, sich selbst dafür geopfert habe, brauchen diejenigen, die das Geschäft der Führung in den Dienst an den Geführten verwandeln, um mit den scheinheiligen Opfern, die sie ihnen bringen, anderen Opfer abzuverlangen. Heutzutage entledigt man sich dieser Pflicht zum Beispiel mit Kraftakten wie dem des siebzigjährigen Lenin-Nachfolgers Breschnew, der sein sechsstündiges Parteitagsreferat seinem Volk voll „selbstloser Hingabe“ stehend und ohne Unterbrechung vortrug.


Unter dem Banner des Leninismus

Die Gedanken des Staatsgründers, dessen Biographie zur Bebilderung der Parteimoral herhalten muß,

„Lenin hat direkt den Kampf geleitet, durch den der erste Staat der Arbeiter und Bauern in der Welt entstand und erstarkte ...“ (II, 8)

sind daher auch nur bedingt tauglich. Daß er in „Staat und Revolution“ das Absterben des Staates ins Auge gefaßt hatte, mögen seine Nachlaßverwalter gar nicht gerne hören und streichen daher zwar den Staat aus ihrem Kommunismus, lassen aber

„die gesellschaftlichen Funktionen bei der Leitung der Wirtschaft und der Tätigkeit der Menschen ... analog den gegenwärtigen Funktionen des Staats“

munter weiterleben. (VII, 267) Lenins Irrtümer und Fehler aber gehören zum unveräußerlichen Bestand der Staatsideologie. Die Verwendung demokratischer Ideale zur Kritik des Kapitals,

„solange es Ausbeutung gibt, kann es keine Gleichheit geben“ (AW III, 305),

(als ob sich der demokratische Staat nicht gerade durch Gleichbehandlung der Ungleichen dem Kapital nützlich machen würde), dient dem Sowjetstaat, der sich rühmt, mit den Kapitalisten die Ausbeutung abgeschafft zu haben, zur Selbstrechtfertigung als wirkliche Demokratie.

Aus der Imperialismus-Analyse, in der Lenin mit der Herrschaft des Finanzkapitals Fäulnis und Stagnation als Merkmale des „letzten Stadiums des Kapitalismus“ diagnostizierte, um die Notwendigkeit der Revolution, d.h. der gewaltsamen Zerschlagung dieses Systems zu begründen, ziehen die modernen Revisionisten die Lehre, daß einem freiwillig verfaulenden und stagnierenden Kapitalismus durch die fortwährende Steigerung der Arbeitsproduktivität, des Nationaleinkommens, durch den bereits dargestellten ökonomischen Wettbewerb der Todesstoß versetzt werden müsse, um dem Proletariat in aller Welt die Augen darüber zu Öffnen, bei welchem System es besser bedient ist.

So werden die Leninschen Fehler als „geniale Weiterentwicklung der Ideen von Marx und Engels“ im „Marxismus-Leninismus“ der Staatsideologie zugrundegelegt und die Einsichten uminterpretiert, die nicht in ein Konzept passen, das die Revolution als Staatsgründung, die Diktatur des Proletariats als Ausbau und Festigung der Staatsmacht über die Arbeiter und Sozialismus als Staat des ganzen Volkes begreift.

Die Feier der Oktoberrevolution durch die KPdSU ist also der Jubel, mit dem der Staat sich von der proletarischen Revolution distanziert, ihre Notwendigkeit in ein Ideal verwandelt, das bei ihm in besten Händen ist und für dessen ungemütliche Realität das arbeitende Volk zuständig ist. Das Ideal eines Staates, der sich ganz der Erniedrigten und Beleidigten annimmt, ist nämlich in der Sowjetunion Wirklichkeit geworden: daß die Lohnarbeit auch dann kein Vergnügen ist, wenn sie nicht den Reichtum von Couponschneidern, Abs und Flicks und sonstigen Monopolisten nährt, beweisen auch die staatlich verordneten Festivitäten.  

Nachweis der Zitate:

Breshnew I, – L. I. Breshnew, Rechenschaftsbericht des ZK der KPdSU und die nächsten Aufgaben der Partei in der Innen- und Außenpolitik vom 24.2.1976. In: Sozialismus. Theorie und Praxis, März 1976.

Breshnew II, – ders. über den Entwurf der Verfassung der UdSSR. In: Sozialismus. Theorie und Praxis, September 1977

II,  M.W. Simjanin: Der Leninismus, das revolutionäre Banner unserer Epoche.

III. A.N. Kossygin, Direktiven zum Fünf jahresplan für die Entwicklung der Volkswirtschaft der UdSSR in den Jahren 1971 -1975

IV, ders., Hauptrichtungen der Entwicklung der Volkswirtschaft der UdSSR in den Jahren 1976 – 1980

V,  XXV. Parteitag der KPdSU. Die Hauptrichtungen der Entwicklung der Volkswirtschaft der UdSSR in den Jahren 1976 – 1980

VI, Parteihochschule beim ZK der KPdSU: Politische Ökonomie Bd. 3

VII, dasselbe, Bd. 4

VIII, entfällt

IX, K. Tschernenko, Die sowjetische Demokratie, in: Sozialismus. Theorie und Praxis, Juli 1977

X, M. Krumin, Staat des ganzen Volkes und Arbeiterklasse, in: op. cit., August 1977

XI, K. Tschernenko, Verfassung des entwickelten Sozialismus, in: a.a.O.

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(1) „Schöpfung aus dem Nichts“ (sogar ohne Arbeit)

 

Die Außenpolitik der Weltfriedensmacht Nummer 1

Die SU straft auch auf dem Feld der Außenpolitik ihre revisionistischen Kritiker Lügen, die in ihr die „gefährlichere“ Kopie der Supermacht USA sehen wollen. Sie ist weder sozialistisch in Worten noch schlicht imperialistisch in ihren Taten, wie der Sozialimperialismusvorwurf suggeriert. Gleichwohl kann sich ihre Außenpolitik neben den brutalen Errungenschaften der kapitalistischen Führungsnationen auf dem Felde der Ausbeutung anderer Staaten sehen lassen, woraus ihre Propagandisten keinen Hehl machen:

„Der Sowjetstaat wird konsequent die leninistische Friedenspolitik befolgen und sich für die Konsolidierung der Sicherheit der Völker und der Zusammenarbeit einsetzen. Die Außenpolitik der UdSSR ist gerichtet auf die Sicherstellung für den Aufbau des Kommunismus, die Unterstützung des Kampfes der Völker um nationale Befreiung und sozialen Fortschritt ... und die konsequente Verwirklichung der friedlichen Koexistenz von Staaten mit unterschiedlichen sozialen Systemen.“ (Art. 28 zit. n. Archiv d. Gegenwart, 21o49)

– Der „friedlichen Koexistenz“ und damit der internationalen Staatenkonkurrenz hat sich die SU so sehr verschrieben, daß sie im Namen Lenins mit KSZE- und anderen Bündnissen peinlich jeden prinzipiellen Gegensatz zu den imperialistischen Nationen auszuräumen bestrebt ist und durch die »Normalisierung« der Geschäfts- und politischen Beziehungen mit dem Westen den eigenen Proleten die Segnungen eines erleichterten Westhandels, der sie nur Arbeit kostet, den öffentlichkeitsbesessenen Dissidenten aber die moralische Genugtuung einer westlichen Menschenrechtsoffensive beschert. (Vgl. MSZ Nr. 18/77 „Die Erfolge friedlicher Aggression“)

– Zur „Sicherstellung für den Aufbau des Kommunismus“ hat die SU ihr Modell der ,,Zusammenarbeit“ geschaffen, den RGW, der die Satellitenstaaten dem sowjetischen Plan unterwirft und ihre wirtschaftliche und politische Abhängigkeit streng nach dem Prinzip der „Gegenseitigkeit“ dazu benutzt, ihren staatlichen Reichtum nur soweit zu fördern, wie es dem Reichtum des großen Bruderstaates förderlich ist.

– Weil es sich also hier weder um Hilfe noch um eine Sicherstellung von materiellem Wohlstand für die, die ihn erwirtschaften, handelt, gibt auch der „proletarische Internationalismus“ keinen Anlaß, die „progressive Rolle der SU im antiimperialistischen Kampf“ zu feiern, wie dies die „Gruppe Rheinische Zeitung“ mit vollem Pathos („Wer gibt den Unterdrückten Brot und Frieden?“) und mit etwas weniger Pathos auch der KB machen. Eine „Unterstützung des Kampfes der Völker um nationale Befreiung und sozialen Fortschritt“ ist nämlich nichts anderes als die ökonomische und politische Stärkung von Staaten, die man zu den Bündnispartnern der SU zählen möchte. Wo die westlichen Nationen für die nationale Kapitalakkumulation die Länder der 3. Welt systematisch ruinieren und streng darauf bedacht sind, mit politischem und ökonomischem Zwang Regierungen an der Macht zu halten, die ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse ihrer Untertanen und die Reichtümer ihres Landes die Abhängigkeit vom Imperialismus für sich ausnutzen, da sorgt sich die SU nicht um die Unterdrückten, sondern um „Volksbewegungen“, deren nationales Unabhängigkeitstreben auf einen Volksstaat zielt. Brot und Frieden beschert sie diesen antiimperialistischen Kämpfern, deren falsche Ziele sie nicht kritisieren, wohl aber auf die SU verpflichten will, dadurch, daß sie mit ihrer „selbstlosen Hilfe“, die diese Bewegungen notwendig brauchen, ihre Unterordnung unter das sowjetische Weltkalkül erpresst. Deswegen fällt ihre Hilfe auch nicht selten sehr mager aus (Vietnam, Angola), deswegen läßt sie Befreiungsbewegungen ohne Rücksicht auf die inneren Zustände eines Landes fallen, wenn sie sich mit der bestehenden Regierung arrangiert hat (Kurden), deswegen weist sie u.U. ihren „Bruderparteien“ in den Ländern Abwieglerfunktionen zu, wo ihre staatlichen Beziehungen auf dem Spiel stehen (z.B. Cuba, wo sie zunächst die Guerilla als „kleinbürgerliche Banden“ denunzierte, Castro dann als Revolutionär feierte, als er die Staatsmacht errungen hatte, Cuba zur Raketenbasis gegen die USA ausbaute und die Raketen wieder abzog und die cubanische Unterstützung der südamerikanischen Guerilla blockierte, als dies zu einer ernsthaften Konfrontation mit den USA zu führen drohte).

– Wo die SU auf diese Weise die „Konsolidierung der Sicherheit der Völker“ – und das heißt noch allemal die der ihr genehmen Regierungen – „und der Zusammenarbeit“ – und das heißt allemal der Verpflichtung dieser Staaten auf ihre Hilfe, die sie nur soweit selbständig machen soll, wie es die SU brauchen kann – erfolgreich vorangetrieben hat, da befördert sie durch einen möglichst schwunghaften Handel den „sozialistischen Fortschritt“ in der Weise, wie es ihrer eigenen Kapitalakkumulation dient. Durch die volksfreundliche Unterstützung eines schaffensfreudigen Proletariats in schwarzen und gelben Arbeiter- und Bauernstaaten möchte sie die wenig konkurrenzfähigen eigenen Waren loswerden und billigen Zugang zu den Reichtümern dieser Länder bekommen, die sie deswegen nicht durch die Abhängigkeit zerstören, sondern in dieser Abhängigkeit erhalten will. Was Wunder, daß die »befreiten« Staaten auch an der SU keine wahre Freude finden und allzuoft auf die brutalere aber angesichts der eigenen Misere oft verlockendere Alternative der Ausbeutung durch westliches Kapital zurückgreifen oder sich durch Hin- und Herlavieren einen mageren Handlungsspielraum für ihr eigenes staatliches Interesse zu schaffen versuchen.

– Deswegen gestaltet sich die „friedliche Koexistenz“ auf Kosten der in diesen Ländern Unterdrückten auch sehr unfriedlich, was die SU, die ihren Staatskapitalismus in alle Welt tragen möchte, darin beflügelt, das Ideal der fiktiven Einheit aller Staaten zu verkünden und das Ideal der Selbständigkeit aller Völker, in das der selbständige Sowjetstaat die imperialistische Ausbeutung der 3. Welt verwandelt hat, in den blühendsten sozialistischen Farben auszumalen. Weil die Schwarzen und Gelben aber größtenteils politisch selbständige Staaten sind und deswegen auch mit dem Ideal ihrer Souveränität gegen die ökonomische Erpressung anmosern und ihre Wünsche nach mehr Kapitalakkumulation im eigenen Lande für den eigenen Staat, bzw. die Sorge über staatsgefährdende Wirkungen der hemmungslosen Ausbeutung ihres Volkes durch andere Staaten anmelden, findet die SU auf diesem Feld der ideologischen Propaganda reichlich Gehör. Sie erringt in der Institution, die die imperialistische Welt vereint mit der sozialistischen repräsentiert, in der UNO, inzwischen einen Sieg über den US-Imperialismus nach dem andern, was diesen wenig juckt. Er gibt diese „Hauptfront des proletarischen Internationalismus“ ziemlich kampflos den „friedliebenden Völkern“ preis (seine Dienste für die Absegnung der amerikanischen Außenpolitik tut die UNO eben nicht mehr), sorgt damit für die praktische Wirkungslosigkeit dieses Gremiums und verfolgt sein Geschäft mit denselben Mitteln wie immer. Die will ihm die SU ja auch nicht ernsthaft streitig machen.

es gibt übrigens einen Haufen von Artikeln zur ehemaligen Sowjetunion im Archiv der MSZ der 80-er Jahre.

 

aus: MSZ 19 – Oktober 1977

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