Die Helsinkier Vereinbarungen mit Polen:

NOCH IST POLEN NICHT VERLOREN

Die Vereinbarungen mit Polen*(2), zweifelsfrei eine Materie, die der Außenpolitik angehört, haben im Gang ihres Ratifizierungsprozesses innenpolitisch für große Aufregung gesorgt. Beide Seiten im Bundestag sparten nicht mit welthistorischen Auslassungen zu diesem Thema: Um die „Aussöhnung“ gehe es, um die „Abtragung einer Schuld“ gegenüber dem polnischen Volk, um den „Geist der Versöhnung“, der „Verständigung“ und des „Ausgleichs“, um die „Menschlichkeit überhaupt“. Doch sind dies nicht etwa nur die Argumente einer Seite, sondern beider Seiten des innenpolitischen Konflikts. Die „Menschlichkeit“ erfordert es angeblich, dem Vertrag zuzustimmen, um 125.000 Deutschstämmigen die Ausreise zu ermöglichen, genauso wie sie es erforderlich macht, ihn abzulehnen, um auch noch den letzten Deutschen heimzuholen. Der gegensätzliche Einsatz der Ideale der Politik zeigt somit, daß es um etwas anderes geht.

Nachdem 1939 der deutsche Faschismus seine Schwierigkeiten durch Krieg zu lösen versuchte, was den Polen Massenvernichtung, Zwangsarbeit und Deportation sowie den Deutschen den Rauswurf aus dem heutigen Polen einbrachte, sind normale Beziehungen zu Polen ohne Beseitigung dieser historischen Belastungen schlecht möglich. Und was im Verhältnis zu Frankreich, Belgien u.a. noch relativ leicht gelang – Bereinigung der überkommenen Probleme –, ist im Falle Polen durch die Tatsache, daß hier Kommunisten die Macht haben, zusätzlich erschwert. Gilt es doch, den Schein zu meiden, die „Versöhnung“ mit Polen sei eine mit dem Kommunismus, der doch in Wirklichkeit nach wie vor der Feind ist.

 

Der Nutzen der Versöhnung

Nach 30 Jahren gegenseitigen Mißtrauens sind jedoch die deutsche und die polnische Regierung entschlossen, diesen Zustand zu beenden, ihr Verhältnis zu „normalisieren“. Und damit in Zukunft sich auch Polen und die BRD wie normale Staaten zueinander verhalten, werden eben die bestehenden Vorbehalte zum Gegenstand eines Vertrages gemacht. Nachdem die Politik der Nichtanerkennung der Oder-Neiße-Linie, die eine dauernde Bedrohung der polnischen staatlichen Integrität war, aufgegeben ist und im Akt der diplomatischen Anerkennung die gegenseitige Respektierung als souveräner Staat ausgesprochen ist, bedürfen noch die weiterbestehenden Schwierigkeiten der Bereinigung. So wird ein weiterer Vertrag gemacht, in den jeder seine Vorbehalte einbringt, und der so den gegenseitigen Nutzen gewährleistet: Die Polen bekommen für Rentenansprüche pauschal mehrere Milliarden DM, die die BRD-Regierung weggibt mit der Begründung, dabei sei noch gespart worden gegenüber dem, was sonst auf uns zugekommen wäre. Ein Argument, das so tut, als könne der polnische Staat das Geld ohne die Bonner Zustimmung eintreiben (wohl mit dem internationalen Gerichtsvollzieher?). Dafür sind die Polen ihre Deutschstämmigen los, ein zweifelhafter Vorteil, steht doch der Nutzen dieser Bürger für den polnischen Staat außer Zweifel; lediglich ihre Loyalität läßt zu wünschen übrig. Die polnische Seite macht aber dieses Zugeständnis, da die Ausreise der Deutschstämmigen conditio sine qua non für die deutsche Seite ist, betrachtet diese doch die Heimführung „ihrer“ Bürger aus dem kommunistischen Polen als vaterländische Pflicht. Dabei ist dieser Vertragsteil auch aus deutscher Sicht von zweifelhaftem Nutzen; zu einer Zeit, da man sich Gedanken macht, wie man eine halbe Million Türken loswird, drängen die Aussiedler auf den deutschen Arbeitsmarkt.

So bringt der Vertrag selbst unmittelbar wenig Nutzen und zeigt nur in seiner Kreditvereinbarung, worum es bei der Normalisierung geht. Die polnische Regierung hat durch ihre Teilnahme an der KSZE in Helsinki (dem Ort des Abschlusses der neuerlichen Vereinbarung) zum Ausdruck gebracht, daß sie um des »Lebensstandards« ihrer Bürger willen sich dem kapitalistischen Welthandel erschließen will, woraus sich ihr Interesse an dem Normalisierungsvertrag erklärt. Wer dabei allerdings besser abschneidet, spricht die Bundesregierung im vollen Bewußtsein der Stärke der deutschen Industrie offen aus:

„Eine Bindung der Mittel (i.e. Rentenabgeltung) an deutsche Lieferungen kam nicht in Betracht ... Angesichts unserer Position auf dem polnischen Markt als wichtigstes westliches Lieferland ist jedoch davon auszugehen, daß zumindest ein erheblicher Teil der Mittel in Form von Aufträgen an die deutsche Industrie zurückfließt.“

Die Rückkehr der Milliarden ist also gesichert, und wenn darüberhinaus bald in großem Umfang deutsche Industrieprodukte gegen polnische Mastgänse und Wodka getauscht werden sollen, so bestätigt das nur, wer aus derartigen Vertragsabschlüssen in Zukunft den größeren Vorteil zieht.

 

Streit um Schuld und Nutzen

Alle diese Erwägungen der Regierung – vorteilhafte Beziehungen einzugehen bzw. anzubahnen – werden auch von der CDU/CSU nicht angezweifelt, hier liegt ihre Differenz zur Koalition bestimmt nicht. Bestritten wird dagegen, daß die vorliegenden Verträge genug Nutzen für die deutsche Seite gebracht haben. Es wird verlangt, daß die Stärke der eigenen Position („Wir sind wieder wer“) besser eingesetzt wird. Dieser Standpunkt weiß folglich auch schon, wohin mit dem Geld für den Fall, daß die Polen für sie schlechtere Verträge nicht abschließen möchten:

„Es ist wichtiger, die Bundeswehr stärker aufzurüsten, als Milliarden von Steuergeldern aus dem Staatshaushalt zu verschenken.“ (Jäger, CSU)

Eine Bemerkung, die wiederum Willy Brandt in Rage bringt, steht er doch auf dem Standpunkt, der historische Ballast müsse erstmal weg, bevor man nützliche Außenpolitik mit Polen machen könne und ist er doch darum auch stellvertretend für die Nation aufs Knie gefallen:

„Vor allem aber empört mich der Zynismus gegenüber einem Volk, das in dem vom Hitler-Regime angezettelten Krieg am entsetzlichsten gelitten hat.“

Die besondere Schuld wird also ins Feld geführt, sie müsse erst weg, damit die BRD ihren Nutzen aus dem Verhältnis zu Polen ziehen kann. Und da die CDU/CSU die Geschichte schlecht beseitigen kann, entdeckt sie ausgerechnet an den Opfern des deutschen Imperialismus genauso viel Dreck am Stecken, womit man sich dann in nichts mehr nachstünde:

„Sie (die Koalition) erwecken hier den Eindruck durch alle ihre Redner, als wenn das Leid, das schwere tragische Leid, welches in den vergangenen vierzig Jahren über das polnische Volk gekommen ist, ausschließlich auf deutsche Schuld und deutsche Ursachen zurückgeht. Und dies ist eben eine falsche, eine verfälschende Darstellung der deutschen Geschichte, gegen die sich die Deutschen mehr und mehr zur Wehr setzen, weil sie es genug haben, immer von neuem hören zu müssen, daß sie an dem Leid in der Welt und insbesondere an dem Leid des polnischen Volkes die alleinige Schuld trifft.“ (Carstens, CDU)

Mit anderen Worten, die Polen sind selbst (mit-) schuld. Der Hinweis auf die polnische Schuld legitimiert also diesen Standpunkt, und derselbe Carstens fährt fort:

„Für den Fall, daß diese Verträge scheitern und die CDU/CSU im Herbst dieses Jahres die Regierung in der BRD übernimmt, wird die CDU/CSU sich diesem deutsch-polnischen Problem stellen und wird das ihr Mögliche tun, um im Geiste der Verständigung und des Ausgleichs eine bessere Lösung dieser Probleme zu suchen.“

Die Argumentation der CDU/CSU macht deutlich, welches ihr Problem mit den Polenverträgen ist, so daß ihr die Zustimmung so schwer fällt: Die Tatsache, daß die andere Seite einen Nutzen hat, liegt den Konservativen im Magen, ist doch trotz „Normalisierung“ der Kommunismus in Polen nicht weg. Und mag im Verhältnis zu Frankreich etc. ein Nutzen der Gegenseite noch hingehen, der Vorteil eines kommunistischen Landes jedenfalls ist dieser Politik ein Greuel. Die Koalition dagegen verweist darauf, daß auch die Kommunisten Zugeständnisse machen müssen:

„Wenn 125 000 Deutsche übersiedeln dürfen, dann ist das doch keine Leistung, die wir erbringen, sondern ein Vorgang, der den polnischen Staat (gemessen an seinen Normen) vor erhebliche Probleme stellt. Und wer hier warten will, die Probleme dieses Staates mit anderen zu lösen, bis sie alle unsere Verfassung haben, der taugt nicht, (Außen-) Politik zu machen.“ (Brandt, SPD)

Ganz auf dem Standpunkt des eigenen Nutzens macht er Außenpolitik, freut sich über die Schwierigkeiten der Gegenseite und hat mit dem Vertrag weiter keine Probleme.

Die CDU/CSU dagegen hat ein Problem, das sich bei ihr in (mindestens) drei Standpunkten findet. Strauß & Co. sind sich sicher: viel mehr hätte man von den Kommunisten holen müssen – die sind doch eh auf uns angewiesen – und so fällt ihnen das Nein nicht schwer. Barzel, Schröder etc. finden sich mit den Verträgen ab. Bei aller Kritik und allem Zweifel daran, ob dem Interesse der eigenen Nation genügend Geltung verschafft wird, ist ihnen die außenpolitische Handlungsfähigkeit des Staates (auch eines von SPD/FDP regierten) und der immerhin aus dem Vertrag erwachsende Vorteil wichtiger als die zweifelhaften Aussichten, bei Neuverhandlungen mit Polen aus einer Position der Stärke heraus mehr zu erreichen, was ja die Bereitschaft des polnischen Staates voraussetzt. Der Rest schwankt.

Könnte vielleicht auch sonst die Union insgesamt die Vor- und Nachteile so abwägen, daß sie dem Vertrag zustimmte – jetzt ist das nach Meinung ihrer Mehrheit nicht so einfach, macht doch die Wahl es nötig, sich in jeder Hinsicht, also auch in der Außenpolitik, als Alternative zu präsentieren. So wird mit. dem außenpolitischen Thema „Polen“ kräftig auf die Wahlkampfpauke gehauen bei gleichzeitigem Beteuern, das Ganze sei wegen seiner übergeordneten Bedeutung nichts für den Wahlkampf, was nur ausdrückt, daß. 1. die Grundsätze staatlicher Außenpolitik nicht von der Zustimmung der Bürger abhängen, weil der Staatszweck sie gebietet (und über den kann man nun wirklich nicht abstimmen) und 2. die Bürger dennoch über die gebotenen Alternativen befinden sollen.

 

Wem Ideale nützen

Es hat nun mit 'der konkreten Situation des einzelnen Bürgers wenig zu tun, wie der Staat mit Polen umgeht, und es kommen ihm die Ausreisenden eher als potentielle Konkurrenten um Arbeitsplätze, eher als halbe Gastarbeiter vor. Doch ihm werden die Alternativen anders dargeboten. Nicht als Arbeitender soll er das Für und Wider dieser Verträge abwägen, sondern als Staatsbürger, und folglich sollen ihm die Aussiedler auch nicht wie Konkurrenten, sondern wie verlorene Söhne vorkommen, die heimzuholen eben die Menschlichkeit gebietet. Von mehr oder weniger Nutzen ist da keine Rede mehr, die Argumente sind der Sphäre des schnöden Mammons weit entrückt, und schon gar nicht stellt sich mehr die Frage, wer denn da eigentlich mit Polen handelt und den vielzitierten Exportüberschuß wegsteckt. Den beliebigen Einsatz der Staatsideale demonstriert meisterlich Ministerpräsident Röder (Saarland), der aus Gründen seiner Landespolitik im Bundesrat gern zugestimmt hätte, wenn er sich zu folgendem „Argument“ versteigt:

„Die geschichtliche Entwicklung des Saarlandes als Grenzraum zwischen zwei lang verfeindeten Nationen verpflichtet dies Bundesland in besonderer Weise, zu einer dauerhaften Aussöhnung zwischen den Völkern beizutragen.“ (Bleibt bloß für Schmidt und Genscher und ihre Verträge zu hoffen, daß Albrecht bei Betrachtung der Karte Niedersachsens etwas Ähnliches einfällt oder vielleicht Stoltenberg wegen seiner Dänen merkt, daß er besonders verpflichtet ist.)

So versucht jede Seite, durch entsprechenden Einsatz der Ideale der Politik, durch verschiedene Dosierung von „Versöhnungswillen“ und „Härte“, sich als bessere Alternative für die Führung der Staatsgeschäfte darzustellen und vernebelt dabei dem Wähler erfolgreich, was die eigentliche banale Frage ist, nämlich „Was darf so ein deutschstämmiger Pole kosten?“ und „Wirft so ein Menschenhandel*(1) in der Zukunft Rendite ab?“ Doch ist die Frage erstmal so gestellt, könnte der Wähler ja auch fragen, wer denn eigentlich die Ausreise zahlt, und wer andererseits die Rendite macht, und dann entdecken, daß er eigentlich andere Probleme hat, als durch sein Kreuz auf dem Stimmzettel die eine oder andere Alternative der Außenpolitik zu affirmieren.

________________________________________________

*(1) Eine Charakterisierung des Vertrages, die die Bundesregierung ausspricht, wenn sie wie folgt auf ihren Idealen beharrt: „... das mühevolle Unternehmen eines dauerhaften Ausgleiches und einer positiven Zukunftsentwicklung zu gefährden; es geht hier nicht um Zug um Zug zu erbringende Leistungen und Gegenleistungen. Beiden Regierungen lag daran, sich nicht dem unzutreffenden Vorwurf des Menschenhandels auszusetzen.“ (Offizielle Stellungnahme)

*(2) 1977 findet in Bonn findet das erste „Forum Bundesrepublik Deutschland – VR Polen“ statt. Daran nehmen Vertreter aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und der Intellektuelle teil. Hauptdiskussionsthema ist die Normalisierung der Beziehungen zwischen den beiden Ländern.

 

(aus „Hochschulpolitik der Roten Zellen und Marxistischen Gruppen 1976/77. Ein Auswahl“)

zurück zur Startseite