Nachruf auf Ludwig Erhard

Wie einer ein Wirtschaftswunder tun ließ

„Jedermann sollte erkennen, daß jedermann ihm Dank schuldet.“

Wenn so die Politiker samt ihren journalistischen Freunden die freche Lüge verbreiten, daß

„sogar die Steine, könnten sie sprechen, erzählen würden, daß sie alles Erhard zu verdanken haben“,

obgleich sie sich von ihr nicht denselben unmittelbaren Erfolg wie der Erfinder des Wirtschaftswundermärchens versprechen können, der mit dessen Hilfe –

„Ich war der Mann, der der Sozialen Marktwirtschaft gegen Kollektivismus und Staatskapitalismus zum Durchbruch verhalf“ –

zum Bundeskanzler gewählt wurde, so wollen sie das Volk was lehren:

„Freiheit und Glück des Menschen stehen und fallen mit der Freiheit der Marktwirtschaft“ –

weshalb man dankbar sein muß, daß man sie hat. Vor allem die Überlegung, daß wir heute noch in Trümmern hausen würden, wenn Erhard nicht den Mut gehabt hätte,

„die Leute mit 40 Mark Kopfgeld auf die Wildbahn der freien Marktwirtschaft zu schicken“,

ist nützlich, um das Leben in dieser Wildbahn zu genießen. Wenn nun aber der Ökonom ein Wunder ohne Mutter gezeugt hat und nicht die Arbeiter sich ausbeuten ließen, so will man damit sagen, daß sie mit dem wenigen, was ihnen da beschert wurde, zufrieden zu sein haben und ihnen zu bedenken geben, daß sie dem Staat ihren wundersamen Wohlstand schulden, da der Professor seine Qualitäten nur in dessen Diensten zur Entfaltung bringen konnte. Als Schöpfer all „jener simplen zivilen Freiheiten“, derer wir uns heute erfreuen, feiert man ihn, weil erstens heute

„niemand mehr ungestraft gegen die fundamentale Ordnung verstoßen darf“,

was die Leute deshalb nicht tun, weil sie zweitens die Freiheit nicht als von den Siegermächten installiertes Gewaltverhältnis begreifen, sondern als Beglückung, die ein mutiger Demokrat für sie erkämpft hat.


Der rechte Mann zur rechten Zeit

Mutig war der Professor aber schon vorher: so schickte er bereits 1944 eine Denkschrift über den wirtschaftlichen Wiederaufbau Deutschlands an Goerdeler, die mit den Worten begann:

„Da der Krieg nun endgültig verloren ist ...“ womit er seinen „Willen zum politischen Handeln nach Kriegsende“

dokumentierte, worauf die Amis zurückgriffen, als ihnen 1945 diese Schrift glücklicherweise in die Hände fiel. Daß er ihr Mann war, konnte er nun nicht länger verheimlichen, weil er sich angesichts der offensichtlichen Niederlage des Faschismus rechtzeitig Gedanken über die Rettung des Staats gemacht hatte. Entgegen der allgemein verbreiteten Auffassung, daß sich in Deutschland fortan nur noch die „Armut staatsdirigistisch verwalten“ lasse, Deutschland aufgrund des wirtschaftlichen Ruins zu einer Beute des Sozialismus werden müsse, verkündete Erhard sofort nach Kriegsende, daß sich im „Dualismus zwischen freier Wirtschaft und Planwirtschaft“ die Überlegenheit der ersteren offenbare, da

„der Markt als das Votum der gesamten Wirtschaftsgesellschaft ... besser zu entscheiden vermag, was der Wohlfahrt der Gesamtheit, d.h. des Volkes frommt.“

Ihm war klar, daß die Ruinierung Deutschlands keinen Hinderungsgrund für die neuerliche Kapitalakkumulation darstellte, sondern im Gegenteil extrem günstige Bedingungen vorhanden waren, die die Amis und der deutsche Staat nur in der richtigen Weise auszunutzen hatten. Ein riesiges und hochqualifiziertes Arbeitspotential stand ausgehungert bereit, dem Kapital zu seinem Wachstum zu verhelfen, wenn es gelang, ihm mit moralischen Versprechungen, faschistischen Sprüchen und staatlicher Gewalt die sozialistischen Flausen aus dem Kopf zu treiben, so daß sich „die Ergiebigkeit der Arbeit auf die höchste Spitze treiben“ ließ und so für die Amerikaner „jene Atmosphäre des Vertrauens“ geschaffen war, in der sich ihre „Hilfe“ auch lohnen würde.

Gegen die sozialdemokratische Arbeiterbewegung führt er mit Begriffen wie „absoluter Totalitarismus“, „Staatsdirigismus“ etc. die Gleichsetzung von Sozialismus und Faschismus ins Feld, und wohin der führt, steckt allen noch in den Knochen. Das sozialistische „Verteilungs- und Anspruchsdenken“ bekämpft er, indem er Opfer fordert und an den Leistungswillen und das Pflichtgefühl appelliert.

„Der Termitenstaat mit bienenhaft emsigen Massenwesen ist nicht die uns gemäße Form eines organisch gegliederten gesellschaftswirtschaftlichen Lebens. Wir brauchen die verpflichtende Hingabe des Einzelnen an das Staatsganze.“


Gegen die Arbeiter ...

Er verlangt den Arbeitern „Mehrleistungen“ im Interesse der „Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft“ ab, die sich „im Vergleich zu anderen Volkswirtschaften in ungünstiger Position befindet“, und erklärt frech, daß ihm die Arbeitslosenzahlen noch zu niedrig seien („unwahrhaftiger und trügerischer hoher Beschäftigungsstand“), da „wir den ganzen Ballast des Faulen und Morschen mit uns, herumschleifen.“ Die Arbeiterschaft läßt sich diese Unverschämtheiten bieten – und nach dem Verbot des Generalstreiks im Jahre 48, den Erhard nicht dulden kann, weil „er um der Rettung des unhaltbaren Dogmas der kollektivistischen Wirtschaft willen“ geführt wird, gelang es bis 1950, den radikalen Flügel im DGB auszuschalten, dessen führender Kopf Viktor Agartz wegen Hochverrat vors Gericht und dessen kommunistische Funktionäre 1956 im Zuge des KPD-Verbots ins Zuchthaus kamen. Die deutschen Arbeiter versprechen sich ihren Vorteil von der Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft durch die „optimale Ordnung der Produktionsfaktoren“, zumal der Professor ihrer Phantasie mit „einfachen und eingängigen Formeln“ auf die Sprünge hilft. Da gibt es die „Konsumgesellschaft“ – „der letzte Zweck allen Wirtschaftens kann nur der Verbrauch sein“ –, deren Wohltaten einem jedoch nur dann zuteil werden, wenn man zuvor das „Mittel des Wohlstands, d.h. das Kapital ... durch Verzicht auf Augenblickskonsum erarbeitet und konsolidiert hat“. Da gibt es den „Wohlstand für alle“, wenn der Wohlstand der Nation gesichert ist – und darum in Form geistiger Wurzelnahrung:

„»Wohlstand für alle«(1) ... kann und möchte nicht besagen, daß ein Volk in sattem Wohlbehagen Genüge finden dürfte, um dann Gefahr zu laufen, daß es in der Hinlenkung seiner Sehnsucht und Süchte auf Dinge der nur äußerlichen Lebensführung der Wurzeln seines menschlichen und nationalen Seins verlustig geht.“

Und da gibt es die „Soziale Marktwirtschaft“, von deren sozialen Errungenschaften sich die Arbeiter Vorteile erwarten, obwohl ihnen der Professor sehr deutlich definiert, was sie sich mit ihr einhandeln:

„Eine Wirtschaft ist aufzubauen, die ihre soziale Aufgabe nur dann zu erfüllen vermag, wenn eine auf die höchste Spitze getriebene Ergiebigkeit der Arbeit ein Gegengewicht gegen die zusätzlichen Belastungen aus dem fortbestehenden Zwang zur Kapitalverbesserung, aus Aufwendungen für den Wiederaufbau und für unabdingbare Sozialleistungen zu bieten vermag.“ 

        
... fürs Kapital ein Wirtschaftswunder

Kurzum, „den Menschen, die beim Trümmeraufbau auf Führung und richtungsweisende Gedanken warten“, wird von einem Professor mit Sachverstand für die Erfordernisse der deutschen Wirtschaft deduziert, wie der Staat sie zu ihrem Glück zwingt, was sie sich bieten lassen, weil sie auch gern dicke Zigarren rauchen würden. Mit seiner Wohlstandszigarre macht Erhard den Deutschen soviel blauen Dunst vor, daß sich das für die reibungslose Ausbeutung erforderliche „Gefühl der Geborgenheit“ im deutschen Staat einstellt, auf dessen Wohlfahrt Erhard zum Nutzen der Unternehmer bedacht ist.

„Ich glaube im ganzen, daß die deutsche Unternehmerschaft froh sein kann, die Geschicke der deutschen Wirtschaft in den Händen eines Mannes zu wissen, der in erster Linie der Sachwalter aller sein will.“

Während so Erhard, „bei allem gemütlich, optimistisch, anständig“, die Arbeiter niederhält und deutlich macht, daß sie außer seinen gemeinen Sprüchen nichts vom Staat zu erwarten haben, was ihnen „Lebensmut“ und Vertrauen in den neuen Staat gibt, so daß sie eine „Reinigungskrise“ nach der anderen geduldig ausbaden, greift er auf der anderen Seite den Kapitalisten mit Investitionen kräftig unter die Arme, um ihnen auf diese Weise Vertrauen in den Staat und damit Mut zur eigenen Risikobereitschaft einzuflößen. Damit entlarvt er das liberale laissez-faire als Ideologie. Denn der liberale Wirtschaftsminister hält den Staat nicht aus der Wirtschaft heraus, sondern reguliert sie dergestalt, daß die Arbeiter vom Staat nicht mal die „unabdingbaren Sozialleistungen“ und von den Unternehmern nur das Existenzminimum kriegen, den Unternehmern aber die staatlichen Mittel zur Verfügung stehen und sie so von allen staatlichen Beschränkungen, die den „nationalen Wiederaufbau“ gefährden könnten, befreit sind. Dafür sprach der Verleger Burda Erhard zum 80. Geburtstag seinen Dank aus:

„Das Wachstum meines Betriebs wäre in seiner Art ohne Sie nicht möglich gewesen.“

Und weil die deutsche Wirtschaft mittlerweile wieder wettbewerbsfähig geworden war, freut sich der Bunte-Verleger heute, daß Amis für ihn schuften, weil er damals Erhard gefolgt war, der ihm folgendes geraten hatte:

„Bei dem Eindruck, den ich von Ihrer Art der Unternehmensführung und von der Leistungsfähigkeit ihrer Mitarbeiter habe, kann ich Ihnen zu jedem Wagnis raten. Nehmen Sie den Kredit, er wird Ihnen zu einem entscheidenden Schritt nach vorn (= der Druckerei Weredith-Burda Inc. in Lynchburg USA) verhelfen.“


Erhard lebt!

Obwohl es mit der deutschen Wirtschaft solange bergauf ging, daß der Professor selbst bald an das Märchen von seiner Vaterschaft am Wirtschaftswunder glaubte:

„Daß sich die wirtschaftliche Konjunktur seit 1948, d.h. also über neun Jahre, nicht mehr im Sinne einer früher angenommenen zyklischen Bewegung und Gesetzmäßigkeit mit einem ständigen Auf und Ab, Hoch und Tief vollzieht, daß sich vielmehr die Entwicklung durch ein stetiges und sogar sehr rasches Wachstum auszeichnet, ist doch kein bloßer Zufall und nur einem günstigen Geschick zu verdanken, sondern das Ergebnis einer bewußten Politik.“ –

begann er doch zu Anfang der 60er Jahre zu spüren, daß das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate sich nicht darum schert, ob man es zum Produkt mißglückter Politik erklärt. Nach Abschluß der „Rekonstruktionsperiode“ lebten bereits totgesagte böse Geister wieder auf, Inflation und Krise machten den Aufschwungsopa als Bundeskanzler unglaubwürdig. Deshalb zogen die gewohnten Maßhalteappelle nicht mehr, die er diesmal als „formierte Gesellschaft“ propagierte, die dem „faden Gesellschaftsspiel, einen materiellen Vorsprung vor anderen zu gewinnen“, dadurch „das verdiente Ende“ bereiten wollte, daß er das Interesse der Arbeiter der Unvernunft zieh:

„Der Einzelne muß soviel von Wirtschaft verstehen, daß er rational handeln kann.“

Deshalb konnte er die sich mit „antizyklischer Konjunkturpolitik“ und „notwendiger hoher Staatsverschuldung“ als bessere Krisenmanagerin anbietende SPD auch dadurch nicht fertigmachen, daß er den Schnauzbart Grass Pinscher titulierte.(2) Er wurde abgesägt, weil man ihm die Krise, für deren Nichtexistenz er sich verbürgt hatte, zur Last legte – und heute weiß man, daß er sich die schmerzliche Erfahrung des Scheiterns und der Nation die Schmach eines Lübke hätte ersparen können, wenn er nicht Bundeskanzler, sondern – als Vaterfigur geradezu dazu prädestiniert – Bundespräsident geworden wäre. So oder so aber ist Erhard als „Schöpfer der Sozialen Marktwirtschaft“ bereits zu Lebzeiten in die Geschichte eingegangen, weil diese demokratische Form der Ausbeutung allen Staatsbürgern so sehr in Fleisch und Blut übergegangen ist, daß sie auf Männer wie Erhard nicht verzichten wollen. So hätte er schon 1966 ruhig sterben können.

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(1) „Wohlstand für alle“ ist nicht nur der Titel des von Erhard 1957 publizierten Buches, in dem er den Kapitalismus unter dem Namen „soziale Marktwirtschaft“ als einzig gangbaren Weg für die Menschheit anpreist. Peter Kropotkins 1892 erschienenes Buch „Die Eroberung des Brotes“ hat „Wohlstand für alle“ als alternativen Titel. Das Ziel dieses Buches ist, den Lesern die Revolution und die Aufhebung des Privateigentums ans Herz zu legen. Mit Bezug auf dieses Buch gab der österreichische Anarchist Pierre Ramus von 1908 bis 1914 eine Zeitschrift gleichen Namens heraus.

(2) Erhard hatte ein schlechtes Verhältnis zu kritischen, SPD-nahen Literaten. Es war allerdings nicht Grass, sondern Hochhuth, den er als Pinscher bezeichnete.

 

aus: MSZ 17 – Mai 1977

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