Heinrich Böll:

Die Tugend wacht am Rhein


Als nach der Erschießung Bubacks zum Ausreißen der geistigen Wurzeln dieser Tat aufgerufen wurde, war damit nicht zuletzt ein deutscher Dichter gemeint, der nach langem Dasein unter dem Strich sich vor einiger Zeit wieder auf die ersten Seiten der Zeitungen drängelte, als er – statt sich nur um russische Dissidenten(1) zu sorgen – offene Briefe an Ulrike Meinhof und Bücher über die verlorene Ehre von Bild-Zeitungsopfern schrieb. Was, fragt man sich, haben Maihofer, Dregger & Co. an einem Menschen auszusetzen, dessen wehleidigem Dackelgesicht man schon ansieht, daß er dem Staat nichts zu leide zu tun gedenkt, woher dieser Wandel der Einstellung einem Dichterling gegenüber, dessen Aufnahme in die Lesebücher zeigt, daß er sich vortrefflich zur Verdummung der Schuljugend eignet?


Die Welt am Tugendpranger

Böll's literarisches Schaffen war schon immer der kunstlosen Veranstaltung gewidmet, die Welt an den Tugendpranger zu stellen; eine Aufgabe, der er sich in der Nachkriegszeit insofern mit größerem Geschick als sein Kollege Wolfgang Borchert (der zudem noch das Pech hatte, zu früh zu sterben) unterzog, als er nicht nur über die unmenschlichen Zeiten jammerte, sondern den dunklen Hintergrund des allgemeinen Elends vorteilhaft für jene Gestalten nutzte, an denen er seine Tugenden vorexerzierte. Da entdeckt etwa der Held im „Brot der früher Jahre“, der vom Autor zunächst heruntergemacht wird, weil er die Leute danach beurteilt, ob sie ihm ein Stück Brot abgeben würden, daß es auf dieses „materielle Zweckdenken“ doch nicht ankommt, ein anderer verläßt seine Frau, weil er es mit ihr und drei Gören in einem Zimmer im zerbombten Köln nicht mehr aushält und Böll macht daraus „die Qual und auch das Glück zweier Menschen, die in fünfzehnjähriger Ehe nie aufgehört haben, einander zu lieben“. Die gerade überstandene Katastrophe bot diesem Dichter eine prachtvolle Gelegenheit, so richtig mit Wucht alle jene Ideale zu verkünden, mit denen sich die Leute ihre Lage erträglich machten. Mit der Erinnerung an die Trümmer verschwand dieser Böll. Als es wieder aufwärts ging, dachte man unböllisch weniger an die höheren Werte, als daran, wie die nächste Reise ins neuerschlossene Touristenparadies Italien sich absparen ließ. Dieser Verfall der Moral (man dachte mehr ans Brot als die frühen Jahre) ist beklagenswert, so sehr, daß Böll, dies sein Beitrag zum Wirtschaftswunder, nicht ansteht, sich den Krieg zurückzuwünschen – „Die Ursache sehe ich eigentlich darin, daß die Deutschen den Krieg immer noch nicht verloren haben, und was man jetzt Niederlage, Zusammenbruch nennt, gar nicht akzeptiert haben“ –, da sich dieser Wunsch jedoch nicht so schnell realisieren ließ, bekam er für sein Bemühen, aller Welt eindringlich vor Augen zu führen, daß das Glück nur darin liegen kann, sich mit kleiner Münze und großen Worten abspeisen zu lassen, erst einmal das, was ihm gebührte, den Nobelpreis. Es war schon gerätselt worden, warum dieser so lange hatte auf sich warten lassen, besitzt doch Böll in seiner hündischen Moral, die zu nichts feindlich steht auf der Welt und alles, was Anlaß zur Unzufriedenheit geben könnte, den Leuten austreibt, indem er es in „ein Mißverständnis“ (wie er einmal einem bayerischen Kultusminister schrieb, der ihn einmal wegen mangelnder Staatsgesinnung fälschlich angriff) verwandelt, eine wesentliche Voraussetzung für die Verleihung dieses Preises.


Der Tugendbold als Staatskritiker

Bedauerlicherweise empfand Böll diese Ehrung als Aufforderung, sich in öffentliche Dinge staatskritisch einzumischen, statt weiterhin als staatlich anerkannter Tugendbold für die Verbreitung der Einsicht zu wirken, „daß der Mensch nicht arbeiten sollte über das hinaus, was er wirklich zum Leben braucht, es gibt ja viele Menschen, die das für sich bereits realisiert haben, die gerade nur so viel verdienen, wie sie wirklich gebrauchen, um ihr Leben zu leben und manchmal sogar luxuriös – Luxus ist ja eine relative Sache“. Wer Briefe an Terroristen schreibt, sei es auch mit der weinerlichen Haltung eines Menschen, der Schlächtern wie Lämmern erklärt, mit ein wenig Verständnis ließe sich ihr Problem sicher lösen, der überschreitet die Grenzen der Toleranz. Wer sich angesichts staatsgefährdender Gewaltakte fragt, „was heißt Gewalt? Wir haben, das ist vielleicht das Bedauerliche, Gewalt noch nicht bis auf den Grund definiert“, der läßt die nötige Entschlossenheit im Umgang mit dem Bösen vermissen, denn daß der Rechtsstaat mitsamt seinen schönen Idealen am besten dasteht, wenn er stark ist und seine Bürger nicht von Zweifeln an seinem Tun angekränkelt werden, darüber sind sich noch allemal seine Verfechter einig, so daß sich Böll unversehens als Komplice der Terroristen wiederfindet, wo er diese doch nur menschlich behandelt wissen wollte. Sich von solchem Vorwurf reinzuwaschen, eignet sich am besten die Bekundung, er täte selbstverständlich auch etwas für seine russischen Kollegen, mit welcher Replik er deutlich macht, daß die augenblickliche Verstimmung zwischen dem Dichter und seiner Demokratie eine vorübergehende ist und er auch weiterhin seine Gesinnung zum höheren Wohl des Ganzen bebildern wird. Der Titel des nächsten Romans steht schon fest: „Atomei ohne Hüter“.

__________________________________

(1) In den (...) Jahren (nach 1974) beschäftigte sich Heinrich Böll zunehmend mit den politischen Problemen seiner Heimat und anderer Länder wie Polen oder der Sowjetunion und setzte sich sehr kritisch mit ihnen auseinander. Die sowjetischen Dissidenten Alexander Solschenizyn und Lew Kopelew waren Gäste in seinem Haus. (Wikipedia)

Über kritische Literaten und Linke Literatur findet sich in MSZ Nr. 3/75 ein Beitrag über die romanhafte Befassung mit der Studentenbewegung. Nachgedruckt unter dem Titel „Politischer Feierabend“.

 

aus: MSZ 16 – April 1977

zurück zur Startseite