25 Jahre DDR:

Auferstanden aus Ruinen … und der Zukunft zugewandt?


Zum Jubiläum will die SED den „endgültigen Sieg des Sozialismus“ dem Parlament zur Abstimmung vorlegen; dies der offizielle Sinn einer Verfassungsänderung, die aus der DDR-Konstitution die „deutsche Nation“ hinaus- und dafür den Sozialismus hineinzwingen soll. Weniger der Vorgang, daß hier der Sieg des Sozialismus per Abstimmung errungen wird, denn die Aufkündigung der „Einheit der Nation“ erregt die Gemüter hierzulande: am Rande nur ist das Jubiläum bürgerlichen Köpfen Anlaß, das was drüben sich Sozialismus nennt, zu untersuchen. Wo dies geschieht, wie im „Spiegel“ folgt man dem Konkurrenzprinzip der bürgerlichen Ordnung und mißt die „sozialistischen Errungenschaften“ an denen der BRD-Marktwirtschaft. Dabei ist eine Verlagerung der bürgerlichen DDR-Kritik festzustellen: von der bloßen Aufrechnung der Konsum- und Produktionsziffern, die sich blind stellt gegen unterschiedliche Ausgangspunkte, ist sie mittlerweile zur „ideellen“ Vergleichung übergegangen, die zwar einräumt, daß man auch in der DDR im Wohlstand lebt, nicht jedoch in Freiheit und Freizügigkeit. Auch die westdeutsche Linke reagiert auf das DDR-Jubiläum, freudig bewegt die Freunde von DKP und MSB, eher peinlich berührt die diversen „KPDs“ und der KBW. Erstere kontern jede Kritik der DDR entweder mit einem entrüsteten Dementi oder der Affirmation dessen, was im „Arbeiter- und Bauernstaat“ geschieht. Dabei akzeptieren sie den Maßstab der bürgerlichen Kritik, der die DDR an den Kategorien von Marktwirtschaft und Demokratie (Freiheit & Gleichheit bzw. Lebensstandard) mißt.

Ein Staat, der sich als Stück realisierter Sozialismus versteht, wird über den bürgerlichen Leisten geschlagen. Damit er dabei nicht den Kürzeren zieht, müssen sie sich gegen den Augenschein verwahren und geben dies als „Parteilichkeit“ oder – schlimmer noch – für „Dialektik“ aus. Nicht weniger mißlich ist das Verfahren, mit dem die „Marxisten-Leninisten“ reagieren. Dem Versuch des Gegners, kommunistische Politik dadurch zu verteufeln, daß dem propagierten Sozialismus hierzulande der angeblich realisierte drüben vorgerechnet wird, begegnen sie damit, daß sie sich für unzuständig erklären („Sozialismus gibt's nur in China und Albanien!“) Sie übersehen, daß die bürgerliche Kritik an der DDR, wenn sie die Praxis der ostdeutschen Kommunisten anprangert, gerade auf das Richtige an den Formen von Ökonomie und Gesellschaft der DDR zielt; durch die Mängelrüge den Sozialismus als Theorie denunzieren will. Daran ändert nichts, daß Theorie und Praxis der SED dem Antikommunismus immer wieder Angriffsflächen bieten, die des öfteren die Studienratsweisheit zu verifizieren scheinen, daß der Sozialismus eine schöne „Idee“ sei, jedoch nicht realisierbar in der „Praxis“.

Im ersten Teil unserer Auseinandersetzung mit dem DDR- Sozialismus analysieren wir Staat und Ökonomie. Für die nächste Ausgabe der MSZ ist eine Kritik des Selbstbewußtseins der DDR-Kommunisten vorgesehen, das steh selbst „marxistisch-leninistische Weltanschauung“ nennt.

Der besondere Staatsakt, mit dem die SED die Feierlichkeiten zum 25. Jahrestag einleitete, wurde in der BRD mit ärgerlichen und entrüsteten Kommentaren registriert: umstandslos wurde in der DDR-Verfassung die »deutsche Nation« gestrichen und übrig blieb ein »sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern«. Was man nun im einzelnen an dieser Verfassungsänderung auszusetzen hatte, erweist sich bei näherem Hinsehen als recht fadenscheinig. So meinte z. B. ein greiser »marxistischer« Philosoph im deutschen Fernsehen die DDR damit kritisieren zu müssen, daß sie sich mit diesem Akt von der deutschen Kultur lossage – ein Vorwurf, der sie jedoch kaum trifft. Man kann sich kaum einen kulturbeflisseneren Staat vorstellen als die DDR, die ihre Bürger zum Theaterbesuch auffordert, Schiller- und Goethe-Feste am laufenden Band veranstaltet, die Dichter in die Fabriken und die Arbeiter zum Dichten schickt.


Staat und Öffentlichkeit

Zudem stört diejenigen, die sich professionell um die Kultur kümmern, die Unterscheidung der Nationen nicht im geringsten. Ein Germanist befaßt sich mit Gotthelf und Keller ebenso wie mit Grillparzer und Hofmannsthal, ohne jemals auf den Gedanken zu kommen, den Schweizern oder Österreichern vorzuwerfen, daß sie sich seit längerem nicht mehr zur deutschen Nation rechnen. Ein Bruch mit der deutschen Kultur kann der DDR also beim besten Willen nicht vorgehalten werden. Auch die Absage an die politische Tradition, die endgültige Aufkündigung aller Hoffnungen auf ein geeignetes Deutschland kann nicht die eigentliche Ursache der Entrüstung sein: man hat längst gelernt, die Existenz zweier deutscher Staaten als eine politische Realität zu betrachten, ebenso wie heutzutage kein zurechnungsfähiger Politiker die Wiedervereinigung mit dem Elsaß als diskutables Thema ansehen würde.(1)


Zweierlei Maß

Eine dritte Variante der Kommentare hebt das Unrecht hervor, das der Bevölkerung der DDR angetan wird und in diesem Akt nur noch eine letzte Steigerung erfährt. Die Mißachtung aller demokratischen Rechte durch die SED v. a. die Verweigerung des Selbstbestimmungsrechts der Völker kulminiert in diesem Verfassungsakt, der mit der Leugnung der Zugehörigkeit zur deutschen Nation das Schicksal der Menschen »hinter dem eisernen Vorhang« endgültig besiegelt. Aber auch diese Verurteilung der DDR macht sich unglaubwürdig, pflegt man doch jahraus jahrein blendende Beziehungen zu Staaten, die ihrem Volk das Recht auf freie Wahlen ebenso verwehren, wie es die angefeindete SED tut.  Keiner der betreffenden Journalisten oder Politiker würde solche harten Worte finden, wenn es um Spanien geht oder irgendwelche südamerikanischen Diktaturen. Auch der Schah von Persien, der sich noch gerade als Vorkämpfer der Demokratie hervorgetan hat, wird mit allen diplomatischen Ehren empfangen und erfreut sich einer ständigen Beliebtheit in den Illustrierten im Gegensatz zu Honecker und Sindermann. Daß in der DDR keine demokratischen Verhältnisse existieren, kann also nicht der Anlaß für die scharfen Reaktionen sein. Diese offensichtlich vorgeschobenen Argumente begründen nicht die besondere Nuance des bundesdeutschen Ärgers, der die Eigenständigkeit des zweiten deutschen Staates gerade darum anfeindet, weil diese nur den Rahmen darstellt für eine andere, gegensätzliche Gesellschaftsordnung. Die DDR begreift sich als ein Staat, der den Sozialismus verwirklichen will. Dieses ihr besonderes politisches Programm wird auch durch die selbstgewählte Bezeichnung zum Ausdruck gebracht, die nun endgültig an die Stelle der deutschen Nation getreten ist: ein Staat der Arbeiter und Bauern, die Organisation der Werktätigen in Stadt und Land.


Die Arbeiter und Bauern unter sich?

Was verbirgt sich nun hinter dieser Namensgebung, die die eigentliche Quelle des Ärgers zu sein scheint? Es wird niemand auf die Vermutung kommen, daß es in der DDR nur mehr Arbeiter und Bauern gibt, oder daß der Staat sich allein auf deren Wohl und Wehe bezieht. Im Gegenteil: Etliche Arbeiter und Bauern kehren ihrem Staat gerne den Rücken, wenn es sich machen läßt, während andererseits Professoren, Ärzte und Schriftsteller kein schlechtes Leben führen in der DDR. Die Bezeichnung kann also nicht so gemeint sein, daß der Staat der DDR sich allein als politische Repräsentanz der dort lebenden Arbeiter und Bauern begreift. Sie bezieht sich auf vergangene Verhältnisse, die im Namen der Arbeiter und Bauern, also bestimmter gesellschaftlicher Klassen bekämpft worden sind, und die nun durch eine Gesellschaftsordnung ersetzt werden, in der kommunistische Politik über den Staat die gesamtgesellschaftliche Entwicklung bestimmt. Artikel 9 der Verfassung hält diese Ablösung von früheren ökonomischen Verhältnissen als positive Grundlage der DDR-Gesellschaft fest:

„Die Volkswirtschaft der Deutschen Demokratischen Republik beruht auf dem sozialistischen Eigentum an den Produktionsmitteln. Die sozialistischen Produktionsverhältnisse entstanden als Ergebnis des Kampfes gegen das monopolkapitalistische Wirtschaftssystem.“

Die DDR ist also ein Realität gewordenes Schreckgespenst: das politische Programm der Kommunisten, das mit dem Privateigentum an Produktionsmitteln angeblich die Bedingungen individueller Freiheit beseitigen will, ist im anderen Teil Deutschlands verwirklicht worden. Die Kommunisten, die sich in den westlichen Demokratien am Rand der Verfassungsfeindlichkeit bewegen, ständig von Verboten bedroht sind, da ihre Politik als eine Gefährdung der freiheitlich-demokratischen Ordnung und des von ihr geschützten privaten Glücks darstellt, diesen Kommunisten ist es in der DDR gelungen an die Macht zu kommen.


Verfassung als politisches Programm

Die gesellschaftliche Entwicklung, die nun durch die Staatsmacht eingeleitet wird, ist in Artikel 1 der Verfassung gekennzeichnet:

„Sie (die DDR) ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land, die gemeinsam unter der Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei den Sozialismus verwirklichen.“

In Artikel 2 ist von der Vervollkommnung des Sozialismus und in Artikel 41 von der „zentralen staatlichen Planung und Leitung“ der Betriebe die Rede. All dies unterscheidet die DDR- Verfassung von bürgerlichen: während es diesen um die Aufrechterhaltung der bestehenden Gesellschaft und ihrer Verkehrsformen geht, ist in der DDR-Verfassung ein Prozeß kodifiziert, die Veränderung der vom Kapitalismus bestimmten Voraussetzungen zu einer neuen Gesellschaftsform. Der Staat ist wesentliches Instrument für den Aufbau des Sozialismus. Im Unterschied zu bürgerlichen Verfassungen wird hier dem Staat nicht nur ein Katalog von Rechten und Pflichten seiner Bürger zur Sicherung anvertraut und seine Existenz als unabdingbar für Menschenwürde, freie Wissenschaft und Kunst und sonstiges angesehen, sondern eine andere Gesellschaftsordnung zum Programm erhoben, der die staatliche Tätigkeit zur Durchsetzung verhilft. Offensichtlich sind sich die Bürger der DDR nicht darüber einig, daß eine solche Entwicklung notwendig und richtig ist, müßte sie doch sonst nicht eigens als Verpflichtung des Staates formuliert werden. Die Verfassung beschreibt das Ziel der gesellschaftlichen Anstrengungen, es soll ein Zustand „frei von Ausbeutung, Unterdrückung und wirtschaftlicher Abhängigkeit“ geschaffen werden – die Tatsache jedoch, daß eine Verfassung die Prinzipien einer Gesellschaft formuliert, die durch die Staatsgewalt getragen werden sollen, belegt, daß noch Herrschaft existiert. Dieser die Verfassung charakterisierende Widerspruch gibt Aufschluß über die diesem Staat zugehörige Gesellschaft: Die Mitglieder dieser Gesellschaft orientieren ihr Handeln noch nicht an einem allen gemeinsamen Ziel, sondern verfolgen gegensätzliche Interessen.


Ein einig Volk von Bürgern?

Dieser Umstand wird auch durch das Faktum belegt, daß DDR-Bürger gewaltsam daran gehindert werden mußten, ihr Land zu verlassen. (Um sich gegen die bundesdeutschen Revanchisten zu schützen ist die Mauer nicht gerade das effektivste Mittel – ein anständiger Militarist wird an einem solchen Hindernis nicht scheitern). Der darin zum Vorschein kommende Gegensatz der von der SED verfolgten Politik und der Interessen der Bevölkerung wird seltsamerweise in der Verfassung nicht erwähnt. Im Gegenteil: verschiedene Artikel behaupten eine grundsätzliche Übereinstimmung von Bürgern und Staat, die in Termini gefaßt wird, wie sie jeder bürgerlichen Verfassung entlehnt sein könnten:

„Alle politische Macht wird von den Werktätigen ausgeübt.“ (Art. 2)

Artikel 5 gibt kund:
„Die Bürger der DDR üben ihre politische Macht durch demokratisch gewählte Volksvertretungen aus.“

War durch Artikel 1 schon ausgeschlossen, sich die Arbeiterklasse unter der Kategorie Werktätige vorzustellen, weiß man jetzt: alle sind gemeint. Unterschiedslos üben sie ihre politische Macht aus. Dies zu erfahren erstaunt nicht mehr, hatte man doch vorher schon in Artikel 3 die Feststellung gelesen:

„Das Bündnis aller Kräfte findet in der Nationalen Front des Demokratischen Deutschland seinen organisierten Ausdruck.“

Man erhält keine Erklärung, warum denn die Führung der Arbeiterklasse und ihrer Partei notwendig sei und worin sie besteht. Ein einig Volk von Bürgern, wie es in den Artikeln erscheint, sollte doch Manns genug sein, seine Aufgaben ohne eine besondere Führung zu lösen. Erkundigt man sich nach den zu lösenden und gelösten Aufgaben, erhält man eine überraschende Auskunft: stand doch noch in Artikel 1, es gelte den Sozialismus zu verwirklichen, so erfährt man aus einer Rede Walter Ulbrichts, folgendes:

„Wesentlich ist dabei, daß nach dem Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse, die antagonistischen Widersprüche, die sich früher aus dem Gegensatz von gesellschaftlicher Produktion und privatkapitalistischer Aneignung ergaben, in unserer Republik beseitigt sind.“

Die gelungene Umwälzung der Eigentumsverhältnisse wird zum Anlaß genommen, das Bestehen der sozialistischen Gesellschaftsordnung zu konstatieren und die Subjekte von weiterer revolutionärer Arbeit freizusprechen. Worin der Führungsanspruch der Arbeiterklasse und ihrer Partei besteht, warum er notwendig ist, wenn doch die Ziele der Revolution bereits erreicht sind, machen auch die Ausführungen Ulbrichts nicht ersichtlich. Er versichert in seiner schon zitierten Rede:

„Die Verwirklichung der führenden Rolle der Arbeiterklasse in der sozialistischen Gesellschaft und ihre Bündnispolitik hat nichts zu tun mit Administrieren und Kommandieren gegenüber den Menschen oder gegenüber den Bündnispartnern der Arbeiterklasse.“

Will die SED an der führenden Rolle der Arbeiterklasse sprich kommunistischer Politik festhalten, – und dies belegen die verschiedensten Artikel der Verfassung – dann kann sie nicht gleichzeitig Bündnisse schließen, da diese immer Kompromisse nach sich ziehen. Dem Bündnispartner, der ja nicht in allen Punkten das gleiche Ziel verfolgt, müssen Zugeständnisse gemacht werden, die Abstriche von der eigenen Politik zur Folge haben.


Antifaschismus als sozialistische Identität

Die Berufung auf verbündete Schichten, die in der Gegenwart der DDR für die staatliche Politik keine Bedeutung mehr haben können, erklärt sich aus der Vergangenheit der DDR, an die man heute noch positiv anknüpfen will. Was als „Bündnis aller Kräfte des Volkes“ (Artikel 3) beschworen und in einer Erinnerung Ulbrichts zu einer „Kampfgemeinschaft der Einheits- und Volksfront gegen den Faschismus“ hochstilisiert wird, existierte im Nachkriegsdeutschland nur in der Form eines diffusen antifaschistischen Bewußtseins. Nach 45 waren sich alle Parteien – aus welchen Gründen auch immer – darüber einig, daß alles getan werden müsse, um ein Wiederaufleben des Faschismus zu verhindern. Die Berufung der SED auf die damalige antifaschistische Einheit soll ihre Politik als konsequente Fortsetzung der in dem damaligen »Bündnis« angelegten Intentionen legitimieren.

„Die sozialistischen Produktionsverhältnisse entstanden als Ergebnis des Kampfes gegen das monopolkapitalistische Wirtschaftssystem, dessen aggressive und abenteuerliche Politik der deutschen Nation bisher nur Unglück gebracht hat.“

Was hier unterstellt und auch sonst von Kommunisten gerne und häufig behauptet wird, daß nämlich der Kapitalismus zum Faschismus führt, wird wie eine Binsenwahrheit behandelt, die jedem vernünftigen Menschen ohne weiteres einleuchten müßte, so daß sich auch jedem Antifaschisten als notwendige Konsequenz die Veränderung der Eigentumsverhältnisse aufdrängen müsse. Daß dem nicht so ist, ein durchaus gutgemeinter Antifaschismus noch lange nicht die Zustimmung zur Vergesellschaftung der Produktion einschließt, beweist schlagend die Entwicklung der CDU, die bereits in ihrem Ahlener Programm die antifaschistischen Vorsätze mühelos mit einem Bekenntnis zur Marktwirtschaft – wenn auch einer »sozialen« – verbinden konnte und inzwischen – ohne ihre Verurteilung des Faschismus deswegen aufgeben zu müssen – die freie Marktwirtschaft samt Eigentum an Produktionsmitteln nebst Grund und Boden erbittert gegen alle sozialistischen oder auch nur sozialdemokratischen Feinde verteidigt. Damit ist zwar nicht der Zusammenhang von Kapitalismus und Faschismus geleugnet, ein solcher existiert durchaus. Die simple Identifizierung der Gegnerschaft zum Faschismus mit der Bereitschaft zum Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft, die die SED vornimmt, ist nur moralisch: man droht mit dem Unglück, das der Faschismus über die Menschen gebracht hat und preist den Sozialismus als Allheilmittel an.

Kommunismus = Friedensliebe?

Es fragt sich, warum die Kommunisten in der DDR auf dieser Konstruktion bestehen und stereotyp als wesentlichen Vorzug des Sozialismus Friedensliebe und Völkerfreundschaft behaupten, positive Momente, die noch vom Gegensatz zum Faschismus leben. Auch bürgerliche Parteien werben nicht gerade mit der Parole, es müsse wieder einmal Krieg geführt werden, sogar die NPD versichert allen Wählern ihre Friedensliebe. Anscheinend mangelt es der DDR an Selbstbewußtsein, wenn sie die Friedensliebe ihrer Repräsentanten anderen Errungenschaften vorzieht, die sie als eine sozialistische Gesellschaft charakterisieren. Diese Eigentümlichkeit, die generell die Selbstdarstellung der SED bezeichnet, ist eine Konsequenz der falschen Argumente, die die Gründung eines sozialistischen Staates im Nachkriegsdeutschland legitimieren wollten mit einem angeblich allgemein verbreiteten antifaschistischen Bewußtsein. Da auch damals schwerlich übersehen werden konnte, daß eine wie immer geartete Verurteilung des Nationalsozialismus nicht automatisch Sympathien für die Kommunisten mit sich brachte, – die hohen Wahlerfolge der SPD gegenüber der KPD beweisen das Gegenteil –, erscheint es merkwürdig, daß ausgerechnet die Kommunisten sich an dieses Bewußtsein festklammern mußten.

Die politische Haltung, die oben schon als mangelndes Selbstbewußtsein charakterisiert wurde, ist das Produkt eines Widerspruchs, in den die KPD auf Grund der historischen Entwicklung geriet: Ohne daß ein relevanter Teil der Bevölkerung den Willen zu einer revolutionären Veränderung der Gesellschaft kundgetan hätte, allein durch die Unterstützung der sowjetischen Besatzung gelangte sie, nach dem Zusammenschluß mit Teilen der SPD als SED, an die Macht. Sie mußte eine Umwälzung der Gesellschaft in Angriff nehmen, die kapitalistischen Produktionsverhältnisse abschaffen, ohne auf eine weitgehende Zustimmung in der Bevölkerung rechnen zu können. Anstatt nun diese Differenz offen auszutragen und die Gesellschaftsmitglieder nach und nach von der Richtigkeit ihres gesellschaftlichen Programms zu überzeugen, präsentierte man ihnen schlicht den kommunistisch beherrschten Staat als den ihren und begann dessen Politik als Vertretung der wahren und wirklichen Interessen des Volkes darzustellen:

„Die Arbeiterklasse und ihre Bundesgenossen vollzogen mit ihrer Tat eine historische Wende in der Geschichte des deutschen Volkes. Sie schufen aus eigener Kraft (!) einen völlig neuen, einen unabhängigen und selbständigen Staat, in dem der Verfassungsgrundsatz »Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus« zum ersten Mal Wirklichkeit wurde.“ (W. Ulbricht)


Bürgerliche Ideale als „sozialistische Errungenschaften“

Der Gegensatz einer kommunistischen Regierung zur Bevölkerung wurde nicht zum Anlaß genommen, die Agitation nachzuholen und systematisch allen Mitgliedern der Gesellschaft die Einsicht zu vermitteln, daß nicht allein die Greueltaten des Faschismus, sondern die Gesetzmäßigkeiten einer normalen kapitalistischen Gesellschaft einer vernünftigen Gestaltung der gesellschaftlichen Beziehungen im Wege stehen. Stattdessen berief man sich auf eine prinzipielle Übereinstimmung, dessen schwache Basis die diffuse Ablehnung des Faschismus war. Die selbstgeschaffene Abhängigkeit der SED-Führung von der Bestätigung durch die Bevölkerung führte auch im Folgenden zu einem weitgehenden Verzicht auf die offene politische Auseinandersetzung. Ergebnis solcher Politik ist, daß sie durch das nicht-kommunistische Bewußtsein die Inhalte bestimmen läßt, weil sie sich diesem gegenüber in falschen Legitimationszwang begeben hat. Da die SED ihren sozialistischen Anspruch nicht aufgab, blieb es bei verbalen Zugeständnissen, die mit der politischen Wirklichkeit eigentümlich kontrastieren. Die Verfassung der DDR schmückt sich konsequent mit allen bürgerlichen Idealen:

„Frei von Ausbeutung, Unterdrückung und wirtschaftlicher Abhängigkeit hat jeder Bürger gleiche Rechte und vielfältige Möglichkeiten, seine Fähigkeiten in vollem Umfange zu entwickeln und seine Kräfte aus freiem Entschluß zum Wohle der Gesellschaft und zu seinem eigenen Nutzen (!) in der sozialistischen Gemeinschaft unbehindert zu entfalten.“ (Artikel 19) „Die sozialistische Gemeinschaft, die politische Macht des werktätigen Volkes, ihre Staats- und Rechtsordnung sind die grundlegende Garantie für die Einhaltung und Verwirklichung der Verfassung im Geiste der Gerechtigkeit, Gleichheit und Brüderlichkeit und Menschlichkeit.“ (Artikel 86)

Wer sich hier wundert oder freut über die Unvollständigkeit der dreifarbenen Parole, die bürgerlichen Revolutionen Leitbild war, sieht sich getäuscht, Artikel 90 formuliert auch die Freiheit des Einzelnen als zu schützende. Bei Walter Ulbricht heißt es hierzu:

„Die früheren revolutionären und humanistischen Forderungen nach Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit sind vom deutschen Imperialismus in den Schmutz gezogen worden. Erst in der DDR wurden diese Forderungen gesellschaftliche Wirklichkeit und wesentliches Element unserer Verfassung. Damit erfüllten wir, was die Besten unseres Volkes, die Kämpfer der Arbeiterbewegung, die großen deutschen Dichter und Denker, die Vertreter des bürgerlichen Humanismus auf ihre Fahnen geschrieben haben.“

Die Folge einer solchen Politik ist fatal: am Ziel des sozialistischen Aufbaus wird festgehalten und gleichzeitig macht man sich abhängig von der Zustimmung der Bevölkerung ohne die politische Auseinandersetzung mit dieser zu suchen. Politisch äußert sich dies als Taktik. Einerseits stellt man sich hinter die Prinzipien der Demokratie und erklärt sie zum Ziel des Sozialismus, andererseits bedient man sich dieser Prinzipien offen oder verdeckt als bloße Mittel.


Wahlen als Ritual

Als Zugeständnis an die demokratische Form gestattet man die Abhaltung von Wahlen – um die einmal eingeschlagene Entwicklung nicht zu gefährden, sorgt man daneben durch ein faktisches Einparteiensystem und andere Mittel für die spektakulären 95 Prozent Ja-Stimmen. Anstatt zu erklären, warum Wahlen unsinnig sind, und dies auch argumentativ zu vertreten – man ist sich ja dessen gewiß, daß es keine Alternativen zu der eigenen Politik gibt und daß nur die Weiterentwicklung des Sozialismus richtig sein kann – zelebriert man eine Pseudodemokratie, die letzten lindes die kommunistischen Ideale in ein schlechtes Licht rücken. Mit dem offensichtlich scheindemokratischen Getue liefert die SED Antikommunisten aller Länder ein gefundenes Fressen: immer wieder konstatiert man befriedigt das „schlechte Gewissen“ der kommunistischen „Machthaber“, die es anscheinend nötig haben, ihre bösen Absichten hinter einer demokratischen Fassade zu verstecken. Anstatt wenigstens soweit an der Ahnung festzuhalten, daß der Faschismus aus der bürgerlichen Ordnung hervorging z. B. Zweifel an der bürgerlichen Demokratie mit dem Hinweis hervorzurufen, daß die Nationalsozialisten durch freie Wahlen an die Macht kamen – bekennt man sich vorbehaltlos zu den Prinzipien eben dieser Demokratie, ohne sie aber wirklich zu praktizieren.


Big Brother will auch überzeugen

Artikel 27 der DDR-Verfassung formuliert in vorbildlich demokratischer Weise die Meinungs- und Pressefreiheit:

„Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hat das Recht, den Grundsätzen dieser Verfassung gemäß seine Meinung frei und öffentlich zu äußern. Niemand darf benachteiligt werden, wenn er von diesem Recht Gebrauch macht. Die Freiheit der Presse, des Rundfunks und des Fernsehens ist gewährleistet.“

Das Bemerkenswerte an diesem Artikel ist, daß er nicht eingehalten wird. Jeder Bundesbürger, der an der Grenze gefilzt wird, weiß, daß die Einführung westlicher Druckerzeugnisse – mit Ausnahme belletristischer und anderer harmloser Werke, wie z. B. der UZ und Goethe, einem der geistigen Ahnen der DDR – unerwünscht ist. Das Zeitungswesen in der DDR ist staatlich organisiert, so daß sich eine Zensur erübrigt, Schriftsteller können nicht alles drucken, was ihnen zu dichten beliebt, das Fernsehen steht ebenfalls unter der Kontrolle des Staates.
Diese Fakten belegen, daß der SED trotz der großzügig versprochenen Meinungsfreiheit durchaus nicht gleichgültig ist, was die Bürger denken. Sie kann sogar sehr genau angeben, was sie nicht denken sollen, die Liste der verbotenen Bücher und Zeitschriften grenzt verwerfliches Gedankengut sorgfältig von erlaubtem ab.

Es werden aber nicht nur bestimmte Ansichten bzw. deren Verbreitung untersagt, die Partei besteht darüberhinaus auch auf dem, was richtig ist. Es ist ihr sehr daran gelegen, die DDR- Bürger von bestimmten Einsichten zu überzeugen: Eine intensive Schulungsarbeit versucht den Marxismus- Leninismus als die grundlegende Gesellschaftstheorie der DDR allen Individuen nahezubringen, in allen Bildungsinstitutionen wird als besonderes Fach »Gesellschaftskunde« gelehrt, die die theoretische Fundierung der sozialistischen Politik zu einem festen Bestandteil des gesellschaftlichen Bewußtseins machen soll. Die gleichen Anstrengungen führen zu den auf westliche Besucher eher peinlich wirkenden Werbefeldzügen, die die Vorzüge des Sozialismus an allen Hauswänden und leerstehenden Flächen plakatieren, an hohen Festtagen unterstützt durch Lautsprecheragitation, die die politischen Überzeugungen unüberhörbar in der Bevölkerung verbreitet.

Schon die Tatsache, daß die politischen Inhalte in so fragwürdigen Formen vermittelt werden, die der hierzulande betriebenen Waschmittelwerbung unangenehm ähneln, läßt Zweifel aufkommen an der Überzeugungsarbeit der SED. Diese verstärken sich, wenn man die Methoden, mit denen die Bevölkerung für den Sozialismus gewonnen werden soll – einerseits Verbote, andererseits Schulungsarbeit – miteinander vergleicht. Wenn man sich der eigenen politischen Auffassung so sicher ist, daß man sie zum verbindlichen Wissen der ganzen Gesellschaft erklärt und bemüht ist, alle Bürger ohne Ausnahme von der Gültigkeit und Wahrheit des Marxismus-Leninismus zu überzeugen, warum weicht man dann der Auseinandersetzung mit anderen Auffassungen aus, indem man sie kurzerhand verbietet?

Diese entscheidende Schwäche der SED, die es offensichtlich nicht wagt, ihre theoretischen Grundlagen in offener Konfrontation mit gegensätzlichen Standpunkten zur Diskussion zu stellen, zeigt sich noch daran, wenn in einem Buch, das zur Ausbildung der Parteimitglieder verwendet wird (das „Politische Grundwissen“) andere Positionen allein in Bezeichnungen wie „Lügen“, „willkürliche Erfindungen“ und „freche Behauptungen“ gefaßt werden. Westdeutsche Zeitungen und westdeutsches Fernsehen werden von Politikern der SED grundsätzlich verdammt, aber kein DDR-Bürger darf bundesrepublikanische Zeitungen beziehen und dann eine gründliche Analyse derselben von Seiten der SED lesen, die den jeweils vorfindlichen Behauptungen und Meinungen inhaltlich den Garaus macht.

Für das Fernsehen gilt dasselbe, statt regelmäßiges Westfernsehen zur Pflicht zu machen und im eigenen Programm genauso regelmäßig eine ausgewiesene Kritik zu liefern, wurde das Westprogramm von der Partei beschimpft und geahndet und von der eigenen Bevölkerung – solange das DDR-Fernsehen noch nicht zum selben schwachsinnigen Tingeltangel übergegangen war – bevorzugt.

Die widersprüchlichen Bemühungen des DDR-Staats um das Bewußtsein seiner Bürger, die einerseits überzeugen wollen, sich also an vernünftige, entscheidungsfähige Subjekte wenden, andererseits verbieten und Zensur ausüben, und damit die Bürger als unmündige behandeln, die vor den Verführungskünsten bürgerlicher Agitatoren geschützt werden müssen, bieten dem Antikommunismus aller Spielarten genügend Angriffsflächen. Dennoch lassen sich die Anstrengungen der SED, auf das Bewußtsein ihrer Bürger Einfluß zu nehmen, nur mit Mühe in das Schema des totalitären Staates einordnen. Man versucht zwar, ideologische Indoktrination als eine besonders subtile Variante des Terrors zu erklären, der sich auch das Bewußtsein der beherrschten Individuen restlos unterwerfen will. Dennoch bleibt bei dieser Annahme ungeklärt, warum ein Staat, dem es angeblich nur darum geht, seine Herrschaft abzusichern, sich die Mühe macht, seine Bürger von der Richtigkeit seiner Politik zu überzeugen: immerhin appelliert er damit an die Vernunft und Urteilsfähigkeit seiner Bürger und läuft Gefahr, daß diese ihr einmal in Bewegung gesetztes politisches Bewußtsein dazu benützen, seine Herrschaft in Frage zu stellen. Gerade die Doppelung von Verboten und Überzeugungsarbeit läßt es nicht zu, die ideologische Arbeit der SED platt als Instrument zur Aufrechterhaltung von Herrschaft zu erklären. Das Gegenteil ist zumindest der Intention nach der Fall.


Kontinuierliche Agitation statt Beliebigkeit der Meinung

Die vielgerühmte Meinungsfreiheit bürgerlicher Demokratien gibt gerade dadurch, daß sie alle Meinungen gelten läßt, selbst, wenn sie sich gegenseitig ausschließen, zu erkennen, daß objektiv das, was der Einzelne sich denkt, nicht von Belang ist. Die Freiheit, sich eine eigene Meinung über die Welt zuzulegen, wird erkauft durch den Verzicht auf die praktische Verwirklichung dessen, was man für richtig hält. Jede einzelne Maßnahme eines demokratischen Staates wird durchgesetzt gegen eine Vielfalt gegensätzlicher Auffassungen über das, was gemacht werden sollte – dennoch käme kein Staatsbürger je auf den Gedanken, seine Freiheit dadurch gefährdet zu sehen. Die praktische Ohnmacht ist gerade das Korrelat der Beliebtheit der politischen Meinung. Anders der sozialistische Staat der DDR: seine Versuche, kontinuierlich alle Bürger von der Richtigkeit bestimmter Schritte zu überzeugen, die Grundlagen seiner Politik, den Marxismus-Leninismus allen zu vermitteln, beweisen, daß es ihm darauf ankommt, das Bewußtsein seiner Bürger zu gewinnen, und nicht bloß wie bürgerliche Parteien, die allein auf die Wahlen reflektieren und deshalb die Erfüllung möglichst aller vorfindlichen Wünsche und Interessen versprechen um Zustimmung werben. Einem Staat, der seine Bürger als urteilsfähige Individuen ernstnimmt, die er zu überzeugen versucht, kann es nicht darum gehen, seine Herrschaft zu stabilisieren. Im Gegenteil, gerade in den Bemühungen, sich mit den Gesellschaftsmitgliedern über die Richtigkeit politischer Maßnahmen auseinanderzusetzen, ist objektiv die Intention enthalten, sie selbst dazu auszubilden, über die gesamtgesellschaftliche Entwicklung zu urteilen und letztlich die Lösung der gesellschaftlichen Probleme selbständig anzugeben.


Anbiederung und Terror

Aus solchen Bemühungen läßt sich noch erschließen, daß sie auf einen Zustand abzielen, indem die Individuen, ohne die Vermittlung einer besonderen Gewalt, ihre Beziehungen gestalten, so daß jede Form Staatlicher Herrschaft überflüssig wird. Daneben steht aber die mangelhafte Realisierung dieser Anstrengung: ein Staat der seinen Bürgern verbietet, bestimmte Gedanken zur Kenntnis zu nehmen und andererseits deren politische Bildung betreibt, widerspricht seinen eigenen Intentionen. Es ergibt sich das Zerrbild eines kommunistischen Staates, der an der Richtigkeit seiner Politik festhält, ohne sie begründen zu können, der also gegen den Willen seiner Bürger handelt, Terror ausüben muß. Andererseits, gerade weil es ihm auf das Bewußtsein der Individuen ankommt, ohne daß er es durch Argumente überzeugen könnte, um die Übereinstimmung mit den Bürgern herbeizuführen, sich anbiedern muß. Ein kommunistischer Staat, der sich demokratisch gibt, um sich die Zustimmung der Bevölkerung zu sichern, der aber keine wirkliche Demokratie praktizieren kann, da er die bereits verwirklichten Ziele kommunistischer Politik nicht in Frage stellen will.


Das Bewußtsein verändern, um die Gesellschaft zu verändern

Daß die SED faktisch vor den eigenen Zielen versagt, ist umso schwerwiegender, als es ihr nicht nur darum geht, das Bewußtsein zu verändern, sondern darüberhinaus Veränderungen in der Gesellschaft herbeizuführen, die nur durch die praktische Unterstützung aller Individuen verwirklicht werden können. Der Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft hat die veränderte, bewußte Organisation der ökonomischen Prozesse zu seiner Voraussetzung, die nur durch das Handeln der gesellschaftlichen Subjekte verwirklicht werden können. Die Anstrengungen der SED, die Bevölkerung der DDR für den Sozialismus zu gewinnen, sind selbst eine notwendige Bedingung für die Neugestaltung der gesellschaftlichen Produktion.


Ökonomie und Plan

 
„Der volkseigene Sektor der Wirtschaft bildete die sozial-ökonomische Basis der antifaschistisch-demokratischen Umwälzung.“ (DDR im Überblick, Dresden 1972]

Im Rückblick wird hier ausgesprochen, daß die Verwirklichung der politischen und gesellschaftlichen Ziele der SED auf einer ÖKONOMISCHEN GRUNDLAGE aufbaut, die Fundament aller gesellschaftlichen Umwälzung sein sollte. Die ersten Jahre des wirtschaftlichen Wiederaufbaus nach dem Kriege galten der Errichtung dieses neuen ökonomischen Systems, der PLANWIRTSCHAFT. Der erste Schritt waren weitgehende Eingriffe in die überkommene Eigentumsordnung entsprechend dem Grundsatz, daß die Aufhebung des Eigentums an Produktionsmitteln erster unabdingbarer Bestandteil jeder Umwälzung sei. Bereits bis 1949 gelang es – unter der antifaschistisch-demokratischen Zielsetzung – Enteignungen in großem Maßstab durchzuführen, so daß in jenem Jahr bereits 39 % der Bruttoproduktion von volkseigenen Betrieben erwirtschaftet wurde. Schon nach 5 Jahren, 1954, waren alle Betriebe der wesentlichen Industrien verstaatlicht.

Beim Wiederaufbau der schwer geschädigten, ja weitgehend zerstörten Produktionsbereiche zielte die SED aber auf die Errichtung eines neuen Wirtschaftssystems: Statt der Neuankurbelung kapitalistischer Marktwirtschaft staatlich gelenkte sozialistische Planwirtschaft. Nicht nur, daß man dafür in überkommene Eigentumsrechte eingriff, kennzeichnet den umwälzenden Charakter dieser Maßnahmen. Vielmehr setzte man gegen mannigfache Widerstände (die im Aufstand von 1953 kulminierten) und mit enormen Härten für die Bevölkerung die Entwicklung der Produktionsgüterindustrie an die erste Stelle und bekundete damit den Willen, mit Hilfe der Staatsmacht auch gegen die unmittelbaren Konsuminteressen der Einzelnen die ökonomischen Notwendigkeiten durchzusetzen, die man für die gesamtgesellschaftliche Fortentwicklung nach den ökonomischen und politischen Berechnungen für die vordringlichsten hielt. Der Plan sollte also keine Summe der individuellen Bedürfnisse sein, sondern die mehr und mehr bewußte Entwicklung aller gesellschaftlichen Potenzen zum Nutzen der ganzen Gesellschaft darstellen. Statt Marktwirtschaft Planwirtschaft, statt Anarchie der Konkurrenz, und Profitmacherei bewußter gesellschaftlicher Fortschritt, statt Verfolgung antagonistischer Privatinteressen rationale Bedürfnisbefriedigung für alle, statt Privateigentum und Wirtschaftsfreiheit staatliche Verfügung über die wichtigen Wirtschaftsfaktoren, das war die sozialistische Alternative, die von der SED tatkräftig in Angriff genommen wurde, deretwegen sie in überkommene Rechte radikal und mit staatlichem Zwang eingriff, und von deren Richtigkeit sie die Bevölkerung zu überzeugen versuchte.

Heute, nach 25 Jahren DDR sehen wir das Ende einer „Entwicklung zum Sozialismus“, die eine eindeutige Tendenz erkennen läßt: die zentrale Planung des gesellschaftlichen Prozesses im ökonomischen wurde während der 25jährigen DDR-Geschichte mehr und mehr an der auf Gewinn zielenden Initiative der Einzelbetriebe und den auf Gewinnbeteiligung gerichteten Einzelinteressen orientiert. „Das neue System der Planung und Leitung“, wie es im ÖSS verwirklicht ist, bezieht sich positiv auf die – kapitalistisch überkommene – Nicht-Identität der konkurrierenden Privatinteressen mit denen der Gesamtgesellschaft und versucht, sie über das System der materiellen Anreize im Nachhinein so zu koordinieren, daß mit der Erfüllung der materiellen Interessen aller zugleich das gesellschaftliche Maximum erfüllt wird. Damit gerät die DDR-Führung im Gegensatz zu den von ihr selbst propagierten Prinzipien des sozialistischen Aufbaus: statt das Ausnutzen der divergierenden Einzelinteressen zugunsten der Produktivitätssteigerung als ein notwendiges Zugeständnis der Übergangsgesellschaft an die überkommenen kapitalistischen Verhältnisse und die von ihnen produzierten und von der kapitalistischen Realität immer wieder bestätigten Einstellungen zu begreifen, faßt man heute diese Interessen als positive Grundlage des Sozialismus: aus „der Existenz relativ eigenständiger materieller Interessen der gesamten Gesellschaft, der Produzentenkollektive (Betriebe und der Individuen)“ als einer scheinbar überhistorischen Gesetzmäßigkeit ergibt sich für die DDR- Kommunisten die Notwendigkeit der ökonomischen Hebel. Das positive Anknüpfung an Verhältnisse, zu deren Abschaffung der Sozialismus angetreten war, führt dann auch folgerichtig zur Leugnung des Übergangscharakters der sozialistischen Gesellschaft:

„Der Sozialismus ist mehr als ein Übergangsstadium. Er ist eine relativ selbständige Gesellschaftsformation, deren systematische Gestaltung einen langen Zeitraum ausfüllen wird.“ (W. Müller, Hrsg. Sozialismus und Ideologie, Berlin 1969).

Es gilt nun, nach den Ursachen für die angedeutete Fehlentwicklung zu fragen.


Antifaschistischdemokratischer Kampf und Sozialismus

Während relevante Teile der SPD emphatisch den Sozialismus propagierten und in blindem Realitätsverlust, eben aus der Emigration zurückgekehrt, glaubten, die deutschen Arbeiter hätten die Erfahrung des Faschismus mit dem Willen zum Sozialismus quittiert, formulierte die KPD am 11. Juni 1945:

„Wir sind der Auffassung, daß der Weg, Deutschland das Sowjetsystem aufzuzwingen, falsch wäre, denn dieser Weg entspricht nicht den gegenwärtigen Entwicklungsbedingungen in Deutschland. Wir sind vielmehr der Auffassung, daß die entscheidenden Interessen des Deutschen Volkes in der gegenwärtigen Lage für Deutschland einen anderen Weg vorschreiben, und zwar den Weg der Aufrichtung eines antifaschistischen, demokratischen Regimes, einer parlamentarisch-demokratischen Republik mit allen demokratischen Rechten und Freiheiten.“

Mit einer derart antifaschistischen Zielsetzung wurden die ersten tiefgreifenden Umgestaltungsmaßnahmen in der Ökonomie begründet: die Gesetze zur Enteignung des Privateigentums an Produktionsmitteln, wie sie in den verschiedenen Ländern der damaligen SBZ 1946/47 erlassen wurden, nachdem im Juni 1946 eine Volksbefragung in Sachsen ein deutliches Votum für Entflechtungs- und Enteignungsmaßnahmen erbracht hatte.

Die wichtigsten dieser Maßnahmen, die nichts anderes als die Potsdamer Abmachungen wirklich machten, waren die Enteignungen der ostdeutschen Dependancen der Großindustrie (im Gebiet der Ostzone gab es solche kaum), Bodenreform zugunsten aller Bauernbetriebe unter 5 ha.

Aufbauend auf der Entprivatisierung wurde im volkseigenen Sektor der DDR-Wirtschaft der Wiederaufbau ab 1948 zunächst in Form von Zweijahresplänen (1949–52) koordiniert und ab 1952 in langfristige 5jährige Programme zum „planmäßigen Aufbau der Grundlagen des Sozialismus“ überführt.

Daß die DDR-Führung bis 1952 ausdrücklich an einer antifaschistischen und demokratischen Begründung ihrer Politik festhielt, gleichzeitig aber die ersten zentralen, auf zwei Jahre angelegten Wirtschaftspläne in Kraft setzte, zeigt den Zwiespalt, in dem sich die deutschen Kommunisten befanden: einerseits versuchten sie, die Notwendigkeit des fast totalen Wiederaufbaus in der SBZ bzw. der Errichtung einer eigenständigen Industrie in diesem bis dahin weitgehend agrarischen Teil Deutschlands mit der sozialistischen Umwälzung der Produktionsverhältnisse zu verbinden; andererseits waren sie gezwungen, dieses Vorhaben ständig gegenüber einer Bevölkerung, sogar schon nur gegenüber einer Arbeiterschaft zu legitimieren, bei der sie nicht mit einer grundsätzlichen Einsicht in die Notwendigkeit der sozialistischen Umgestaltung rechnen konnte. Dieser Zwiespalt wurde durch äußere Entwicklungen verschärft. (Bruch des Potsdamer Abkommens durch die Westalliierten).

Die SED suchte den breitest möglichen Konsens in der Bevölkerung durch die Berufung auf demokratische Ziele, für deren Realisierung bestimmte Voraussetzungen zu Schäften seien. So traf das 1952 begonnene Programm zum „planmäßigen Aufbau der Grundlagen des Sozialismus“ auf eine Bevölkerung, für die dieses Programm „von oben“ kam, der das Handeln des kapitalistischen Staates auch und daher vor allem als Beeinträchtigung der eigenen Privatinteressen erschien.


Sozialistisches Eigentum als Bestimmung der Arbeit

Der offenkundige Widerstand in der Bevölkerung gegen die Politik der Verstaatlichung machte deutlich, daß einer der wesentlichen Aufgaben des Sozialismus darin besteht, die ökonomischen Verhältnisse schrittweise abzuschaffen, die den Einzelnen eine Einstellung abverlangen, die in den gesellschaftlichen Beziehungen nur den eigenen Vorteil sucht, den Bezug auf die anderen Subjekte zum Mittel der eigenen Bedürfnisbefriedigung herabsetzt. Angesichts dieser noch zu lösenden Aufgabe fällt die fragwürdige Annahme der SED umso mehr ins Gewicht, daß die Überführung des Privateigentums an Produktionsmitteln in „Volkseigentum“ bereits eine grundsätzliche Veränderung des Arbeitsprozesses darstelle und – quasi als automatische Konsequenz – eine Veränderung des Bewußtseins nach sich ziehe.

Zwar hatte man mit der staatlichen Planung, und Leitung der Betriebe die Entscheidung über die gesellschaftliche Produktion den Konkurrenzinteressen entzogen, daneben blieb jedoch der Warenverkehr bestehen, an dem die Arbeitenden entsprechend der Höhe ihres staatlich regulierten Einkommens teilnehmen und ihre individuellen Bedürfnisse befriedigen konnten. Der in diesem Verhältnis aufrecht erhaltene Gegensatz, daß die Bedürfnisbefriedigung angesichts des Angebots der verschiedenen Gebrauchsgüter beschränkt war durch die Höhe des Einkommens, forderte das Interesse heraus, nach Möglichkeiten zu suchen, die es gestatteten, sich mehr Gegenstände für die individuelle Reproduktion zu verschaffen.

Die Beibehaltung eines Warenmarktes als Verteilungsmechanismus für den individuellen Konsum blieb also eine objektive Grundlage für die Aufrechterhaltung der Privatinteressen – die Produzenten mußten ihre Arbeit als Mittel für ihre individuelle Bedürfnisbefriedigung betrachten. Nicht die gesellschaftlichen Erfordernisse waren maßgeblich für ihren Einsatz in der Produktion sondern die Reflektion auf ihren privaten Nutzen.

Anstatt zu begreifen, daß mit der Fortdauer des Warenverkehrs und der Entlohnung der Arbeit in Geld objektive Bestandteile der kapitalistischen Konkurrenz erhalten bleiben, rühmt sich die SED mit einem „dialektischen Zusammenhang“ von Warenproduktion und Planwirtschaft eine entscheidende Veränderung des Ökonomie- und des gesellschaftlichen Bewußtseins erreicht zu haben.

„Die sozialistische Warenproduktion gründet sich auf die neuen Beziehungen der vereint für das gemeinsame Ziel arbeitenden werktätigen Menschen, ihre materiellen und geistigen Bedürfnisse immer vollkommener zu befriedigen, ihre sozialistische Persönlichkeit, all ihre Fähigkeiten, Talente und wertvollen Charaktereigenschaften voll zu entfalten, ihre sozialistische Gesellschaft und den sie repräsentierenden Staat zu schützen, zu festigen und allseitig zu entwickeln. Die sozialistische Produktion ist damit eine Warenproduktion völlig neuen Inhalts. Sie ist durch die Grundlagen und das Ziel der gesellschaftlichen Produktion im Sozialismus bestimmt, auf denen sie beruht und denen sie dient.“ („Politische Ökonomie des Sozialismus und ihre Anwendung in der DDR“, Berlin 69)

Diese einfache Identifikation der formalistischen Veränderung der Produktionsverhältnisse – als solche ist sie allerdings unabdingbare Voraussetzung für die Durchsetzung sozialistischer Verhältnisse – mit einer grundsätzlichen Umgestaltung der ökonomischen Prozesse, die eine prinzipielle Übereinstimmung der gesellschaftlichen Ziele und der „Interessen und Bedürfnisse der Werktätigen“ hergestellt haben soll, hat eine Konsequenz, die sich in doppelter Weise verheerend auswirkt:

– Zum einen werden die weiteren Anstrengungen zur Veränderung des Arbeitsprozesses zu einem Bewußtseins-, bzw. Einstellungsproblem der Betroffenen selbst erklärt, was faktisch eine verlogene Arbeitsmoral zur Folge hat, in der Arbeitsverhältnisse als real unterstellt sind, die gerade erst zu realisieren wären.

– Zum anderen nimmt sich der Staat jede Möglichkeit, die realen Schwierigkeiten offen als in der Übergangsgesellschaft notwendige zu behandeln und auch gegenüber den Arbeitern zu vertreten. Obwohl das erklärte Ziel – Steigerung der Produktivität – zeitweise eine noch schärfere Unterwerfung der Mitglieder der Gesellschaft unter von ihnen nicht akzeptierte Zwänge beinhalten kann, als sie in einem liberal orientierten kapitalistischen Staat gegeben sind, muß der sozialistische Staat daran festhalten, in der Produktion sei für die dort Beschäftigten bereits alles zum Besten bestellt.


Das NÖSPL

Diese die Realität negierende Politik hat der Entwicklung der Produktivität in der DDR während der 50iger Jahre mehr geschadet als genützt und schließlich zu der grundsätzlich falschen politischen Reaktion geführt, wie sie im NÖSPL von 1963 konkrete Gestalt angenommen hat.

– Zum einen wurden die zentralen Planvorhaben in ihrer gesellschaftlichen Notwendigkeit nicht einsichtig gemacht, nämlich als unerläßliche Voraussetzung für einen gesellschaftlichen Zustand, in dem die Unterwerfung der Individuen unter ihre Individualität zerstörende Arbeitsprozesse aufhebbar wird; für die Arbeitenden kamen sie deshalb – ähnlich wie durch die antifaschistisch-demokratische Begründung – unvermittelt „von oben“, waren äußerlichen Zwang, nicht einsehbare Beschränkung der eigenen Interessen.

– Da zum anderen diese ständig sich steigernden Anforderungen nicht kompensiert wurden durch analog zur Produktionssteigerung sich verbessernde Entlohnung, d. h. durch eine Verbesserung der individuellen Reproduktion führten diese Pläne zur Zerstörung der ihnen eigenen Intention, nämlich Steigerung der Produktivität. Wurden einerseits nachlässiges und schleppendes Arbeiten, Verschwenden von Produktionsmitteln, gezielte Leistungsverweigerung beklagt, versuchte man gleichzeitig mit einer dem Problem völlig inadäquaten Mischung aus Hennecke-Moral und der Androhung von Konsequenzen für die private Existenz die der zentralen Kontrolle und Planbarkeit immer mehr entgleitende Entwicklung wieder in den Griff zu bekommen. Die verdeckte Verweigerungsstrategie der unmittelbaren Produzenten ging sogar so weit, daß die Einzelbetriebe, um den unerfüllbaren Plananforderungen auszukommen, die für die zentrale Planung von ihnen geforderten Informationen über Mittelbedarf, Leistungskapazität etc. so frisierten, daß sie in der Folgezeit nur noch sog. weichen Plänen unterworfen wurden.

Es zeigte sich also, daß die Erstellung und Durchführung zentraler Pläne solange mit einem gegensätzlichen Bewußtsein der Produzenten rechnen muß, als diesen aufgrund weiterbestehender ökonomischer Formen eine Stellung zur Produktion aufgezwungen wird, die sich nicht an den gesellschaftlichen Erfordernissen sondern allein am privaten Vorteil orientiert. Während also der Erfolg staatlicher Planung der Produktion davon abhängt, daß deren Ziele von allen gleichermaßen eingesehen und als die eigenen gewußt sein müssen, zog die Staatsführung in der DDR für die Weiterentwicklung des Sozialismus diametral entgegengesetzte politische Schlüsse.


Von NÖSPL zum ÖSS – Rekonstruktion der Konkurrenz

Alle Wirtschaftspläne in der DDR bis 1963 funktionierten nach dem Prinzip hochzentralisierter, bis ins Detail gehender Planvorhaben. Ihr Hauptproblem war das Auseinanderklaffen von gegebener Produktionskapazität und gesellschaftlich gefordertem Güterbedarf. Die Lösung mußte auch für die DDR lauten:

„Man muß einerseits für den Augenblick, den Grad der für bestimmte Bedürfnisse vorgesehenen Befriedigung einschränken; andererseits muß man für die Zukunft dafür sorgen, daß die entsprechenden Produktionen in den kommenden Planungsperioden dementsprechend gesteigert werden.“ (Ch. Bettelheim, Theorie und Praxis sozialistischer Planung, München 1971, S. 77)

So richteten sich alle Anstrengungen der DDR-Ökonomie auf eine Veränderung der gegebenen Produktivität als der variablen Größe, die direkter Planung unterzogen werden kann. Folgerichtig konnte man 1972 stolz folgende Bilanz ziehen:

„1949, im Jahr ihrer Gründung, konnte die DDR nur eine Industrieproduktion von 22 Milliarden Mark aufweisen. 1965 aber produzierte sie Waren im Werte von 91 Milliarden Mark. Die Investitionen stiegen von 3,6 Milliarden im Jahr 1950 auf 22 Milliarden Mark im Jahr 1966. Die DDR war in die Reihe der führenden Industriestaaten der Welt aufgerückt.“ (DDR im Überblick)

Die unbestreitbaren Erfolge der zentralen Planwirtschaft vor allem bis 1954 – in der Stahlindustrie, der chemischen Industrie und Energiewirtschaft war bereits 1953 eine Verdoppelung der Produktion gegenüber 1936 erreicht – wichen Ende der 50iger Jahre /Anfang der 60iger Jahre einer Stagnation der wirtschaftlichen Entwicklung. Ihr versuchte die SED 1963 dadurch zu begegnen, daß sie das bis dahin praktizierte Planungssystem durch eine Reihe von Reformmaßnahmen wesentlich veränderte.

Das „Neue ökonomische System der Planung und Leitung“ begann im Produktionsprozeß dem Sozialismus sein Grab zu schaufeln.

Der erste Schritt war die veränderte Bedeutung, die man den „konkreten Erfahrungen“ in der Produktion für die Planung der Produktion meinte zumessen zu müssen.

„So werden moralische Appelle an die Verantwortungsbereitschaft, Entscheidungsfreude und das Verantwortungsbewußtsein der Werktätigen immer dann wirkungslos bleiben oder können sogar zu Rückschlägen in der Bewußtseinsbildung führen, wenn sie von den realen Bedingungen der bewußten Übernahme und der praktischen Verwirklichung der persönlichen und kollektiven Verantwortung abgelöst und einem subjektivistischen Herangehen an die Mobilisierung und Orientierung der Initiative der Werktätigen untergeordnet werden.“ (H. Müller, Sozialistische Moral und Persönlichkeit, Bln. 1972)

Dem ist sicher zuzustimmen – aber was daraus gefolgert wird, zeigt bereits das Ausmaß des Rückfalls hinter einst bewußt angestrebte und sogar realisierte Ziele des Sozialismus. Existente, aus der Konkurrenz überkommene Bewußtseinsformen gelten nicht mehr als zu überwindende, sondern als positiver Ausgangspunkt.

Das seit 1970 gültige Ökonomische System des Sozialismus (ÖSS) hat zwar eine gewisse Zentralisierung der ökonomischen Planung gebracht, an der veränderten Gewichtung, wie sie das NÖSPL eingeführt hatte, jedoch nichts grundsätzlich geändert; im Gegenteil: ausgebaut wurde gerade das zentrale Instrumentarium der NÖSPL zur Steigerung der Leistungsbereitschaft des Einzelbetriebes und aller an seiner Produktion beteiligten Arbeiter. Mit der Wiedereinführung der Kategorie des Gewinns für den Einzelbetrieb und seiner Befugnis, über die erzielten Gewinne frei zu disponieren (Verteilung auf Investitionen und Löhne) bezieht sich das ÖSS positiv auf .die Reproduktionsinteressen der Einzelsubjekte und erhofft sich von ihrer materiellen Stimulierung positive Auswirkungen auf die gesamtgesellschaftliche Produktivität.


Das „System der ökonomischen Hebel“

Anpassung an empirisch konstatiertes Bewußtsein und Verhalten der Arbeitenden soll den Ausweg aus dem Dilemma eröffnen, und es kommt noch schlimmer: nicht nur wird die aktive Veränderung des vorgefundenen Bewußtseins zugunsten einer es als faktisch hinnehmenden Anpassung aufgegeben, sondern diese Bewußtseinsformen werden sogar noch positiv verstärkt durch das „System der ökonomischen Hebel“:

„Die Möglichkeit, den eigenen Reproduktionsprozeß zu optimieren, ist das erste wesentliche Moment, das die neue Stellung des Betriebes im ÖSS charakterisiert. Die zweite grundlegende Veränderung ist seine größere Verantwortung für und Verfügung über den Kreislauf der Fonds, die durch das „Prinzip der Eigenerwirtschaftung der Mittel zur erweiterten Reproduktion“ bewirkt wird.“ … Das Arbeitseinkommen ist sowohl von der persönlichen als auch von der Leistung des Betriebs abhängig.“

„Materielle Interessiertheit“ ist das zentrale Stichwort zur inhaltlichen Bestimmung jener konkreten Gegebenheiten, auf die man sich in Zukunft stärker einzustellen habe. Sowohl auf der Ebene des einzelnen Betriebs – Verfügung über den erwirtschafteten Nettogewinn und über den Kreislauf der Fonds – als auch für das einzelne Individuum – Abhängigkeit des Arbeitseinkommens (Arbeitslohn und Prämie) von der persönlichen als auch der Leistung des Betriebes – wird das materielle Interesse stimuliert, um die Arbeitsproduktivität zu steigern. Zwar kam noch W. Ulbricht zu dem Schluß, das ÖSS sorge nur dafür, den Betrieben „die volle Verantwortung für das zu übertragen, was sie ohnehin objektiv unumgänglich selbst vollziehen müssen.“ Es läßt sich jedoch nicht leugnen, daß das, was die Betriebe „ohnehin objektiv unumgänglich vollziehen müssen“ auf Grundlage des ÖSS nicht mehr ihr je spezifischer Beitrag zur Erstellung des zentral geplanten gesellschaftlichen Bedarfs ist, sondern ein Beitrag zur Entwicklung der Produktivität überhaupt. Diese kann von da aus ihre Eigengesetzlichkeit entwickeln und die gesellschaftliche Gesamtentwicklung bestimmen, ohne daß die staatliche Planung darauf noch wesentlichen Einfluß nähme.


Die tödliche Verrenkung der Politökonomie, vorgeführt von L. Breschnew

Die theoretische Rechtfertigung hat man seit neuestem auch schon parat: die „objektiven Gesetze in Natur und Gesellschaft“, wie sie die Autoren eines Referates vom diesjährigen Philosophiekongreß der DDR bereits im Titel ihrer Arbeit nennen und dann folgendermaßen ausführen:

„Die Tatsache, daß die sozialistische Gesellschaft in steigendem Maße ihre Verhältnisse mit Sachkenntnis gestaltet, ändert nichts an der Objektivität und Materialität der sozialistischen Produktionsverhältnisse. Auch beim Aufbau des Sozialismus und Kommunismus hat der ökonomische Prozeß objektiven Charakter. Von dieser Position aus kann der auch zeitweilig in der DDR vertretenen Auffassung, wonach die Menschen im Sozialismus bewußte, von ihrem Willen abhängige Produktionsverhältnisse eingehen, nicht zugestimmt werden. Die neue Rolle des subjektiven Faktors im Sozialismus bedeutet keinerlei Einschränkung bzw. Modifikation der Objektivität der ökonomischen Gesetze des Sozialismus (Hervorhebung im Text)“.

Und eine Broschüre vom Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED zählt mit einer Borniertheit ohnegleichen neben Platitüden und Leerformeln all das als ökonomische Gesetze des Sozialismus auf, was Marx als spezifische Bewegungsformen kapitalistischer Produktion analysiert hatte.

„Als im Sozialismus wirkende ökonomische Gesetze werden in der sowjetischen Literatur besonders hervorgehoben: das ökonomische Grundgesetz des Sozialismus, das Gesetz der planmäßigen proportionalen Entwicklung der Volkswirtschaft, das Gesetz der Ökonomie der Zeit, das Gesetz der stetigen Steigerung der Arbeitsproduktivität, das Wertgesetz (!!), das Gesetz nach der Verteilung der Arbeitsleistung, das Gesetz der sozialistischen Akkumulation, weiterhin die Gesetze von Angebot und Nachfrage, der Geldzirkulation, der Konzentration der Produktion, des vorrangigen Wachstums der Abteilung I der gesellschaftlichen Produktion und andere.“

Und ein derartig kapitalistisch verzerrter Sozialismus hat es nicht mehr schwer, auch jene tödliche Verrenkung des „Genossen“ Breschnew mitzumachen:

„Die Erhöhung des Lebensniveaus der Werktätigen wird zu einem immer dringenderen Erfordernis der wirtschaftlichen Entwicklung selbst, zu einer wichtigen ökonomischen Voraussetzung für die rasche Steigerung der Produktion.“

Ein Schlußwort der DKP:

Es gibt eine Reihe von Dingen, die auf den ersten Blick für den Sozialismus einnehmen. Zum Beispiel ein Schnitzel in einem guten Restaurant, das mit Pommes frites und Salat 3,50 Mark kostet.

(aus „Sozialismus Konkret“)

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(1) Die Zeiten ändern sich und wir in ihnen. Was 1974 als „politische Realität“ unverrückbar schien, ist heute längst Vergangenheit ... (Bemerkung 2015)

 

aus: MSZ 1 – November 1974

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