Afghanistan: Revue der deutschen Kriegsbegründungen


Vom Brunnenbohren zum Jetzt-erst-recht!

Seit dem Winter 2001 führt Deutschland Krieg in Afghanistan. Nach neun Jahren, seit dem Frühling 2010, beginnt man in Deutschland das, was deutsche Soldaten in dem abgelegenen Bergland Zentralasiens im Auftrag des deutschen Bundestags tun, auch so zu nennen. Guttenberg spricht von einem „kriegsähnlichen Einsatz“ und bekundet Verständnis dafür, dass man „umgangssprachlich“ von „Krieg“ redet.
Wie man den deutschen Afghanistan-Kriegseinsatz jahrelang dargestellt, warum man ihn dem deutschen Publikum ebenso wie dem Ausland in dieser Art und Weise präsentiert hat, weshalb man jetzt umschwenkt und sich und seinem Publikum eine neue, diesmal angeblich „ungeschminkte“ Wahrheit zumutet – das soll im Folgenden untersucht werden.

Für die, die´s nicht erlebt oder (vielleicht auch wegen des Trommelfeuers der heutigen Propaganda) vergessen haben, zusätzlich und gratis ein kleiner Vorspann zur Erinnerung.


Von den guten zu den bösen Taliban“

Afghanistan ist nicht erst seit dem neuen Jahrtausend ein Brennpunkt der Weltpolitik. Die gesamten achtziger Jahre hindurch hat die damals noch existierende UdSSR versucht, durch militärische Intervention (seit 1979) eine kommunistische Regierung in ihrem damaligen Nachbarland an der Macht zu halten. Das hat der „freie Westen“ nicht hingenommen. Er bezichtigt die SU völkerrechtswidriger Übergriffe und liefert ihr mit Hilfe von radikalislamischen Mujahedin, die Afghanistan von Pakistan her infiltrierten und mit westlichen Waffen ausgestattet werden, einen langjährigen Stellvertreterkrieg. Mit von der Partie: Osama bin Ladin, der im saudi-arabischen Auftrag in Afghanistan gegen die Sowjets kämpft. Ideologisch wird die kommunistische Regierung als von außen eingesetzt, sprich: „unnational“ denunziert; ihrer Politik wird (ebenso wie den „sowjetischen Besatzern“) vorgeworfen, dass sie die religiösen und ethnischen Traditionen und Gefühle der Bevölkerung mit Füßen trete, indem sie ihnen Gleichstellung der Frauen, Schulpflicht und andere „atheistische“ Praktiken aufzwinge.

Nach dem Abzug der Sowjets (1989) und der Vertreibung der kommunistischen Regierung (der letzte Präsident wird in Kabul aufgeknüpft) kommt es im ganzen Land zu Machtkämpfen unter „unseren Freiheitskämpfern“, die sich als untereinander verfeindete Gruppierungen und Stämme entpuppen. Ab 1994 werden die Taliban (eine Mujahedin-Gruppe aus Pakistan) immer stärker und werden von den USA wegen ihrer anti-iranischen religiösen Ausrichtung als denkbare künftige Zentralmacht gefördert. Seit 1996 regieren sie Afghanistan von Kabul aus, 1997 haben sie drei Viertel des Landes erobert. An ihrem religiösen Fundamentalismus, der die zivilisatorischen Fortschritte der Vorgänger-Regierung zunichtemacht, die Frauen wieder in ihr Haus und unter ihre Burka schickt usw., stört sich niemand im Westen. Zunächst. Erst als radikalislamische Gruppen den USA im Jemen und in Afrika mit kleineren und größeren Terroranschlägen zu schaffen machen, ändert sich die Stimmung. Die afghanischen Taliban bieten nämlich Osama bin Ladin und anderen islamischen Kämpfern Unterschlupf. Gegen amerikanische Auslieferungsgesuche bleiben sie stur – und machen sich damit selbst verdächtig. Jetzt wird der Vorwurf von Menschenrechtsverletzungen aus der Schublade gezogen. Und in der öffentlichen Meinung unten durch sind die radikalen Koranschüler, als sie Anfang 2001 die Buddha-Statuen von Bamiyan sprengen, die die UNO zum Weltkulturerbe erklärt hat ...


Mission Enduring Freedom“

Nach den 9/11-Anschlägen auf das World-Trade-Center u. a. rufen die USA einen weltweiten „war on terror“, einen Krieg gegen den Terrorismus aus. Sein erstes Ziel wird Afghanistan, dessen Taliban-Regierung jetzt offiziell beschuldigt wird, der Organisation von Osama bin Laden, Al Quaida, Unterschlupf geboten, sich somit antiwestlicher Bestrebungen schuldig gemacht und die Anschläge ermöglicht zu haben. Bush verkündet: „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns!“ und will diesen Anspruch Amerikas exemplarisch exekutieren. Das renitente Regime in Kabul soll gestürzt werden, Afghanistan eine demokratische Regierung wählen und zukünftig stabile, prowestliche Politik machen – das ist das erklärte Ziel des Kriegs, der den Namen „Enduring Freedom“ erhält und eine „Mission“ sein soll. Die UN segnen das Vorhaben als legitime Selbstverteidigung der USA ab, der Krieg ist damit völkerrechtlich legitimiert. Die Nato ruft den Bündnisfall aus und verpflichtet die Nato-Partner zur Teilnahme, was ihr auch zugesagt wird. Deutschland beteiligt sich unter der Schröder-Fischer-Regierung mit etwa 3.500 Soldaten und stellt damit das drittgrößte Kontingent. Auch wenn der von Amerika ausgerufene Krieg gegen den Terror nicht unbedingt erste bundesrepublikanische außen- und sicherheitspolitische Priorität ist, will das wiedervereinigte Deutschland an dieser Stelle die geforderte Solidarität in der Nato nicht verweigern und darüber hinaus in Zentralasien (wie schon zuvor auf dem Balkan) als neuer weltpolitischer Mit-Ordner dabei sein.  Das deutsche Kontingent soll deshalb – nach den großen Luftschlägen der US-Militärmaschinerie, mit denen die Talibanherrschaft im Nu gebrochen wird, so dass deren Repräsentanten und Anhänger auf der Flucht sind und von US-Einheiten gejagt werden – im Norden des Landes für Ordnung sorgen. Auf der „Petersberger Konferenz“ im Dezember 2001 bestimmen die alliierten Staaten Karsai zum afghanischen Staatspräsidenten und sorgen dafür, dass die Afghanen dies im Oktober 2004 in einer demokratischen Wahl bestätigen.


Wir bohren Brunnen“

Sicher, auch in Deutschland gibt es seit dem Kriegseintritt die Sorte Kriegsbegründung, die sowieso immer aufgelegt wird: „Verteidigung“. „Unsere Sicherheit wird am Hindukusch verteidigt“ (Verteidigungsminister Struck 2002). Ohne dass da groß ausgeführt würde und werden müsste, wie es kommt, dass man so weit von der Heimat entfernt Sicherheitsinteressen hat, die einen Krieg wert sind, wird ein nationales „Interesse“ angesprochen, das man mit ihm verfolgt. Das ist dann schon so viel wie ein guter Grund, selbst wenn mancher Bürger nicht so recht erkennen kann, dass die Taliban Deutschland gefährden könnten. Die von Otto Schily oft bemühte gedankliche Krücke, auch hier in Deutschland könnten islamistische Terroristen zuschlagen (die in einem von uns nicht kontrollierten Afghanistan herangezüchtet würden), tut an dieser Stelle ihren guten Dienst – auch wenn derselbe Innenminister seit dem deutschen Kriegseintritt (also „wegen“ ihm!) eine erhöhte Anschlagswahrscheinlichkeit ausruft.

Von Anfang an aber legt die Bundesrepublik besonderen Wert darauf, dass sie mit ihren Soldaten für etwas anderes steht als einfach Krieg. Der grüne Außenminister Joschka Fischer spricht mit tiefen Sorgenfalten auf der Stirn von der „bloß“ militärischen Sichtweise Amerikas und verlangt eine Perspektive für den „zivilen“ Aufbau Afghanistans. Die „rote Heide“, SPD-Entwicklungsministerin, stellt den deutschen Einsatz bei der Bundestags-Abstimmung mit zitternder Stimme als uneigennützigen Hilfsdienst für unschuldige afghanische Mädchen und Frauen dar, die schwer unter den Taliban zu leiden gehabt hätten. Gerade Politiker der rot-grünen Koalition tun sich damit hervor, die ersten Kriegseinsätze der Bundeswehr mit den höchsten moralischen Weihen versehen – und damit auch die „Generation der 68er“ samt friedensbewegten Anti-Nato-Vorstellungen ins Boot zu holen. Hatten Fischer und Scharping im Kosovo-Krieg noch „Auschwitz“ als unwidersprechliches Argument für ihr Vorhaben ins Feld geführt, sind es diesmal die Ideale von Frauenbefreiung und sexueller Gleichstellung. Was in der Bundesrepublik selbst gerade einmal in den letzten Jahrzehnten (und zwar gegen den erbitterten Widerstand von Konservativen, Kirche und Bayern) herbeireformiert wurde, soll einen absolut einleuchtenden Grund dafür abgeben, das zentralasiatische Bergland mit Krieg zu überziehen?! Professioneller ist in der Tat selten geheuchelt worden. Und das Tollste: Das zieht! Und nicht bloß bei intellektuellen Moralisten! Auch wenn das breite deutsche Publikum die Kriegsbegründungen im einzelnen für ein bisschen abseitig halten mag – die Kriegseinsätze seiner Bundeswehr hält es im Kern für ebenso berechtigt wie es Deutschland als Nation in Ordnung und über jeden Zweifel erhaben findet. Dieses staatsbürgerliche Urvertrauen wird durch die schönen Kriegsideologien der rot-grünen Marketing-Strategen abgerufen und bekräftigt, auch wenn hier und da der spezielle Nutzen dieses Einsatzes „für uns“ etwas bezweifelt wird.

Von da an kursiert in der deutschen Öffentlichkeit jedenfalls als allgemein geglaubte Behauptung, die Bundeswehr sei in Kunduz als eine Art Technisches Hilfswerk tätig. Deutsche Soldaten bauen Schulen, bohren Brunnen und werden vom afghanischen Volk geliebt – so mit allem gebotenen Ernst, von entsprechendem Bildmaterial begleitet, die Heimatpresse.

Anders die lieben Verbündeten – an deren Auftreten nimmt man Anstoß. Die US-Truppen und teilweise auch die der Engländer machen in den Augen der deutschen Öffentlichkeit so ungefähr alles falsch, was man falsch machen kann. Mit ihren Rambo-Methoden richten sie das eine oder andere Massaker an der afghanischen Zivilbevölkerung an, foltern Kriegsgefangene in Guantanamo und weiteren geheimen Knästen, schrecken mit ihrem schwer bewaffneten und herrischen Auftreten die Afghanen ab. Mit diesen Feststellungen bebildert die deutsche Politik – und mit ihr getreulich der mainstream der deutschen Journalisten –, dass Deutschland sich positiv abgrenzt– sowohl von den USA als Führungsmacht wie vom Rest der Allianz. Deutschland will nicht der nach Afghanistan zitierte „Vasall“ Amerikas sein, es hat seinen eigenen Grund für diesen Einsatz, nämlich bei den zur „Weltordnung“ befähigten und berechtigten Staaten in vorderster Front dabei zu sein. Das muss irgendwie in Szene gesetzt werden, auch wenn es der Sache nach nicht wirklich hinhaut. Auf die Inszenierung von Distanz legt man umso mehr Wert, als sich zwischen Deutschland und den USA im Zuge des nächsten „war-on-terror“-Falls, des Irak-Kriegs, ein ernstes Zerwürfnis einstellt. Der deutsche Kanzler hat Zweifel, ob immerwährendes Zustimmen gegenüber amerikanischen Kriegsplänen die Linie der deutschen Außenpolitik sein kann, die seinem Land und dessen durch Wiedervereinigung und das Ende des Kalten Kriegs „gewachsener weltpolitischer Verantwortung“ (so heißen die neuen deutschen Ansprüche diplomatisch!) gut tut. Und dank der deutschen Mäkelei am unschönen und deswegen, so heißt es, wenig erfolgversprechenden Gebaren der anderen Einsatzkräfte (von dem Deutschland im übrigen als Trittbrettfahrer zugleich profitiert!) hat man im übrigen ein schönes Erklärungsmuster in der Tasche, als sich in den nächsten Jahren immer mehr herausstellt, dass der zunächst sicher geglaubte militärische Sieg der US-geführten Allianz in Afghanistan gar nicht das Ende dieser Geschichte ist.


Wir werden in den Krieg hineingezogen“

Ab Herbst 2002 reorganisieren sich die verjagten Taliban und erobern nach und nach einige Provinzen im Süden sowie Gegenden um die Hauptstadt und sogar Vorstädte Kabuls. Kandahar ist erneut umkämpft und als Antwort auf militärische Offensiven der Nato wird irgendwann auch der Norden Afghanistans „unsicher“, wie die neue Lagebeschreibung aus Sicht der deutschen Truppe heißt. „Extremisten verwickeln Bundeswehr in Kämpfe“ (SZ) – so beschreiben die deutschen Redakteure das, was jetzt zunehmend der Fall ist. Man hält also an der Vorstellung fest, dass die deutschen Soldaten – obwohl genau dafür ausgebildet und ausgerüstet – eigentlich nicht fürs Kämpfen dort sind. Sie „werden“ (Passiv!) „verwickelt“ oder in Kämpfe „hineingezogen“. Von wem? Von „Extremisten“ oder „Aufständischen“ – auf alle Fälle sind „die Taliban“ keine „Afghanen“, sondern werden durch die Wortwahl sorgsam von diesen abgetrennt. Dass die deutschen Soldaten ihre Stellungen immer mehr zu Hochsicherheitstrakten ausbauen, aus denen sie sich nur noch schwer gepanzert heraustrauen, und dass sie immer schneller auch mal sich „drohendem nähernde Afghanen umnieten, soll eben nicht als Ausdruck der generellen Unbeliebtheit der ausländischen Besatzer und eben auch unserer Bundeswehr verstanden werden. Denn vor allem letztere vollführt ja nach wie vor eine „Mission“, einen „Einsatz“ oder ist für einen „Auftrag“ unterwegs, gegen den seiner humanitären Absichten wegen eigentlich niemand das Geringste haben kann. Wenn doch, dann ist das – so lautet der zielstrebige Umkehrschluss – das Werk von Leuten, die hier eigentlich nichts zu suchen haben, der Taliban. Sprengfallen, Selbstmordattentate und Hinterhalte – das sind nicht die (und zwar offenbar ziemlich bescheidenen) Mittel, mit denen hier ein „Gegner seinen“ Krieg gegen eine in jeder Hinsicht überlegene Besatzungsarmee und ihre Teile führt und für die man keine 15 Jahre vorher, als es gegen die Sowjets ging, viel Bewunderung übrig hatte („David gegen Goliath“). Was unserer Bundeswehr gegenübersteht, sind vielmehr „Taliban-Killer“ mit ihre „brutalen Taktiken“. Jetzt kommt die Zeit der Attribute und Adjektive. „Unberechenbar. Hinterhältig. Tödlich! So kämpfen die Taliban gegen die deutschen Soldaten in Kunduz.“ Die freie deutsche Presse findet es dabei durchgängig angebracht, den Gegner der Heimtücke und Feigheit zu bezichtigen – ob er sich in weiß Gott Mut erfordernden Selbstmordattentaten opfert oder sich im oder hinter dem „Volk“ (zu dem er wieder einmal keinesfalls gehört!) „versteckt“, statt sich mit flatterndem Kaftan und offenem Visier von unseren Patrouillen aus ihren Fuchs-Panzern abknallen zu lassen.


Krieg“

Mit Beginn erster Scharmützel mit dem Feind entsteht eine neue – unbequemere – Lage und die erfordert nicht nur neue Einsatzbefehle. Die deutsche Öffentlichkeit verlangt nach neuen Legitimationstiteln, die das veränderte Vorgehen abdecken. Eine neue offenere Wortwahl für den Einsatz wird von der Politik eingefordert. Die Sprachregelungen von gestern müssen über Bord geworfen werden.

Irgendwann ist die Bundeswehr dann „im Krieg“. Und zwar ziemlich genau, seit der gute Oberst Klein in einer „militärisch angemessenen Entscheidung“ (so am nächsten Tag und in den nächsten Wochen Verteidigungsminister Jung und mit ihm die gesamte bürgerliche deutsche Presse) einen Haufen afghanischer Zivilisten erledigt hat. „Wir“ müssen uns angesichts dessen dringend eingestehen, wie die „Wahrheit“ in Afghanistan aussieht. Das heißt allerdings nicht, dass irgendeine der Lügen von gestern aus dem Verkehr gezogen wird. Brunnenbohren, Mädchenschulen, humanistische Deutsche, böse nur die Taliban und ein bisschen die Amis – all das geht munter weiter. Es wird einfach nur eine kleine zusätzliche Schleife eingebaut: Man hat die „Schwierigkeiten“ unterschätzt, die sich dem Willen zum Guten auftun.

Schaut man mit diesem neuen Drang zum „Realismus“ in das zentralasiatische Bergland, dann zeigt sich, dass von einem „Volk“, dem man immerwährende Freiheit bringen wollte, gar nicht recht die Rede sein kann. Stattdessen leben dort lauter Leute, die traditionell bockig und gewaltbereit sind, Clans, die sich untereinander bekriegen und über sich niemanden dulden, usw. usf.  Weit und breit ist auch nichts von einem Volk zu sehen, das zur Demokratie überhaupt „fähig“ wäre – die eigene Behauptung von gestern, das brauche es unbedingt in jedem Land der Erde und dafür müsse zur Not auch ein Krieg geführt werden, lässt man diskret fallen. Nicht allerdings den damit verknüpften Anspruch auf stabile Unterordnung des Landes unter die Ansprüche, die die westliche Kriegskoalition an es stellt. Gleichzeitig fällt nun zunehmend auf, dass der afghanische Präsident eigentlich auch nur Zicken macht. Den Versuch, ihn per Wahl abzulösen, konterkariert Karsai durch kongenialen Wahlbetrug seinerseits und droht sogar, Verhandlungen mit den Taliban aufzunehmen, wenn der Westen nicht Rücksicht auf ihn und die Souveränität Afghanistans nimmt. „Haben wir ihn dafür eingesetzt?“ wird jetzt offen gefragt – nachdem man sich jahrelang empört dagegen verwahrt hat, wenn irgendjemand es wagte, diesen Mann als „Marionette des Westens“ zu bezeichnen.

Auf der Afghanistan-Konferenz in London (interessant, wo man sich jeweils trifft, um über das Schicksal „Afghanistans“ zu bestimmen!) Anfang 2010 verständigen sich die westlichen Kriegsteilnehmer auf abgespeckte Kriegsziele: Das Land muss irgendwie in den Griff zu kriegen sein, damit man möglichst bald abziehen kann, ohne dass „Chaos und Anarchie“ ausbrechen, sprich: ein stabiler prowestlicher Kurs wieder in Frage steht. Eine Kombination aus massivem Militäreinsatz (die USA schicken 30.000 neue Soldaten für 2010) und Geldmitteln, mit denen man widerspenstige Kräfte für sich gewinnen will, wird verabschiedet, das Jahr 2010 zum „Jahr der Entscheidung“ erklärt.


Jetzt erst recht!/“

Kein Wunder also, dass die militärische Lage nicht „sicherer“ wird und die Bundeswehr im Frühjahr 2010 eine ganze Reihe von Toten zu beklagen hat. Die sind „im Krieg gefallen“ – darauf legt man jetzt sehr viel Wert. Zwar stellt sich die ganze Entwicklung in Afghanistan etwas misslich dar: Ein wirklicher Nutzen des ganzen Einsatzes speziell für deutsche Interessen ist immer weniger absehbar und entsprechend unbeliebt ist der Krieg inzwischen beim bundesdeutschen Volk.

Einen sofortigen Abzug aus der Kriegsregion will Deutschland aber nicht nur deswegen nicht, weil das Ärger mit den USA und der Nato nach sich zöge. Nein, eine Nation wie Deutschland, die sich inzwischen eine gehörige „Mitverantwortung“ beim Gestalten der Weltordnung, also beim Beaufsichtigen fremder Souveräne, zurechnet, ist es in einer solchen Situation einfach „sich selbst“ schuldig, durchzuhalten und keinesfalls „geschlagen“ vom Platz zu gehen. Eine Niederlage gegen antiwestliche Kräfte in einem Drittweltland kommt für eine imperialistische Nation im Aufbruch so schnell nicht in die Tüte! (Man merkt hier auch, wie die verschärfte Lage – und nur die! – die maßgeblichen alliierten „Ordnungsmächte“ bei all ihrer Konkurrenz wieder ein wenig zusammenschweißt!)
Dafür“, für den Behauptungswillen der deutschen Militärmacht, kommen die heftig beklagten Kriegstoten gerade recht. Ab sofort steht jeder neu anfallende tote deutsche Soldat nämlich nicht dafür, über den eventuell zweifelhaften nationalen Sinn des ganzen Projekts nachzudenken (einige andere Nationen haben das getan und ihre Kontingente abgezogen). Nein, jeder tote „deutsche“ Soldat verlangt geradezu ein „Jetzt erst recht!“, andernfalls war sein Tod nämlich „sinnlos“. Zwar ist fraglich, was er davon noch haben soll –für andere aber sieht die Sache besser aus: Sich auf die bereits angefallenen Opfer berufen, um „damit“ weitere Opfer für eine angeblich alternativlos nötige Außenpolitik einzufordern, das macht Sinn für Politik und Öffentlichkeit. „Machen wir uns nichts vor: Der Bundeswehreinsatz in Afghanistan wird noch lange dauern. Es werden weitere Soldaten sterben. Und es wird die größte Herausforderung, diesem Einsatz einen Sinn zu verleihen. Das ist nicht nur politisch nötig, die Kanzlerin ist es den Soldaten schuldig. Wenn es überhaupt etwas Schlimmeres als den Tod gibt, dann ist es ein sinnloser Tod.“ (BILD)

Dass diese Toten nur angefallen sind, weil die deutsche Regierung die Soldaten aus ihren Erwägungen dorthin geschickt hat; dass vermutlich kein Afghane auf die Idee käme, deutsche Soldaten anzugreifen, wenn sie ihm nicht in Kunduz auf die Pelle rücken würden – darüber braucht kein Mensch nachzudenken. Denn es gilt weiterhin und (vorerst) ein für allemal: „Unsere Sicherheit wird am Hindukusch verteidigt“ (Merkel in ihrer Regierungserklärung im Bundestag, Strucks Worte von 2002 bekräftigend). Und Guttenberg legt bei der Trauerfeier noch mal nach und erklärt, dass Afghanistan kein Einzelfall bleiben wird. Die Toten können sich also freuen – ihre Opfer werden vermutlich immer sinnvoller, jedenfalls wenn die deutsche „Sicherheitspolitik“ auch noch ein paar Erfolge verbucht und nicht in ihr nächstes Trauma reinstolpert ...

Und man nutzt die Situation zu einer regelrechten kleinen Medienoffensive. Rückblickend „bekennt“ man sich „ohne beschönigende Worte“ (so heißt nämlich jetzt das Geschwätz von gestern!) dazu, dass man sich eigentlich „längst“ in einem wirklichen Krieg befindet, mit allem Hässlichen, was dazu gehört: Blut, Verstümmelung, Tod – bei den eigenen Soldaten wie bei afghanischen Kämpfern und Zivilisten. Man erklärt die eigene Darstellung des Kriegs, deren Wahrheit jeder bis gestern erbittert gegen Kritiker verteidigt hätte, zu einer Art Notlüge, zu der man in Deutschland einfach hätte greifen „müssen“. Die durch zwei (verlorene!) Weltkriege und sich anschließend ausbreitenden Pazifismus immer noch schwer geschädigte deutsche Seele könne einfach nicht mit allzu viel Militarismus konfrontiert werden, heißt es. Gott sei Dank scheint sich wenigstens dieser Schwachpunkt ganz rapide zu ändern. Die deutsche Seele gesundet anscheinend minütlich und verträgt inzwischen bereits serienweise Titelfotos ihrer Morgenzeitungen, auf denen ihr ein schneidiger Verteidigungsminister im coolen military-look zulächelt – oder auch schwer besorgt telefoniert, weil es die nächsten Jungs erwischt hat. Auch die Trauerfeiern werden endlich in den ihnen zukommenden Rahmen gerückt und aus der tabuisierenden Heimlichkeit mitten ins gleißende Licht der Kameras gerückt, die viel „Ernst und Stille“ abfilmen und in die deutschen Wohnzimmer transportieren. Eine niedersächsische Krankenschwester erfindet gelbe Solidaritäts-Schleifen und lässt sie sich patentieren.

Und zum Glück steht die „Heimatfront“ (FAZ) auch in einer anderen Hinsicht verlässlich. Die 3. Gewalt, iustitia in ihrer Form als Bundesanwaltschaft, stellt das Verfahren gegen den Kunduz-Befehlsgeber Klein ein und hält fest: Deutsche Soldaten dürfen ausländische Zivilisten erschießen, ohne mit straf- oder völkerrechtlichen Konsequenzen rechnen zu müssen. Das schafft Rechtssicherheit für die Truppe, die beim Schießen bereits enorm verunsichert war. Jetzt fehlt ihr nur noch eines: ein ausdrückliches Bekenntnis des Volks, das dummerweise immer noch zu 70% am Sinn des Ganzen zweifelt. Aber keine Sorge: Det wird schon, Jungs!

Lesetipps:

• Vom Nutzen eines Massakers – Versuche einer vorwärtsweisenden Bewältigung (Kundus-Affäre)
• Afghanistankonferenz in London - Wie vor dem Ausstieg aus dem Krieg noch der Sieg eingefahren werden soll
Terror gegen Amerika und der amerikanische Krieg gegen den Terror
Amerikas Feinde: Usama Bin Ladin / Die Taliban
Deutsche Soldaten sterben in Kabul – Zweifellos für eine gute Sache! Fragt sich nur, für welche?
EU will die Neue Weltordnung nicht den Amerikanern überlassen. Das heißt: Von Europa muss mehr Gewalt xx x xausgehen
Das demokratische Afghanistan - Ein Vasallenstaat neuen Typs
Weltlage 2007 - Die Realität einer multipolaren Weltordnung

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Blut am iPhone

Das geht nun wirklich zu weit!

Foxconn nennt sich ein modernes Arbeits-KZ in China, Zulieferer für Elektronikunternehmen wie HP, Dell, Apple und ein Dutzend andere. Gegründet von einem Taiwanesen, so ziemlich die größte Fabrik der Welt, ansässig in der Sonderzone Shenzhen mit 400.000 Arbeitern auf vier Quadratkilometern werden in diesem kapitalistischen Musterbetrieb 80 Stunden Schinderei pro Woche verlangt. Der Monatslohn liegt umgerechnet bei rund 110 Euro, die praktischerweise für Firmenunterkunft und -verpflegung gleich draufgehen. Drei freie Tage pro Monat. Soweit also erst mal alles in bester Ordnung, die Welt braucht schließlich nichts dringender als Handys.

Bloß ist jetzt blöderweise herausgekommen, dass sich dort laufend Arbeiter umbringen, weil sie das für die einzige Möglichkeit halten, dem Druck in der Fabrik oder einer Blamage bei der Rückkehr ins eigene Dorf zu entkommen. Blöd deswegen, weil daraus für die Auftraggeber dieser Lohnsklaverei ein geschäftsschädigender Imageschaden entstehen könnte. Also musste sich der geschäftsführende Taiwanese wortreich entschuldigen, vermutlich ohne zu wissen, wofür eigentlich.

Eine chinesische Arbeitsrechts-Organisation ruft nun zum Kauf-Boykott von iPhone & Co. auf. Ein sympathischer Wunsch, aber ziemlich um die Ecke gedacht. Denn warum sollen es ausgerechnet die Kunden richten? Warum sollen nicht die Leute in Shenzhen selbst ihre Fabrikherren zum Teufel jagen, statt sich umzubringen?*1 Das läge jedenfalls näher.

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*1 Die chinesische Arbeitsrecht-Organisation weiß vermutlich mehr als der hiesige Medienkonsument: Die betroffenen Arbeiter wurden vom werkseigenen Wachdienst umgebracht, weil sie aus dem unvorteilhaften Vertrag aussteigen wollten, der Selbstmord war vorgeschoben.

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Bundespräsident Köhler fängt sich Kritik ein und tritt zurück

Die guten Gründe unserer Militäreinsätze in der Welt

Da will der Bundespräsident seinem Volk, das mehrheitlich am guten nationalen Sinn des Afghanistan-Kriegs zweifelt, nur ein bisschen Orientierung geben. In einem Interview betont er, dass hinter allen „höheren“ Motiven, die für diesen Krieg ins Feld geführt werden, letztlich auch ein ganz handfestes nationales Interesse steckt.
Offenbar ist er der Meinung, dass sich damit dann aber auch alle Zweifel beim Bürger, den er ganz selbstverständlich als mit seiner Nation mitfiebernden Patrioten unterstellt, zu erledigen haben. Auch wenn es im Fall Afghanistan nicht unbedingt auf der Hand liegen mag, macht uns Horst Köhler klar, dass eine wirtschaftlich mächtige Nation wie Deutschland viel zu verlieren hat, dass sie deshalb ihre Reichtumsquellen auf der ganzen Welt jederzeit verteidigen muss, zur Not auch mit militärischer Gewalt:

„Meine Einschätzung ist aber, dass insgesamt wir auf dem Wege sind, doch auch in der Breite der Gesellschaft zu verstehen, dass ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern, die mit Sicherheit dann auch auf unsere Chancen zurückschlagen negativ durch Handel, Arbeitsplätze und Einkommen. Alles das soll diskutiert werden und ich glaube, wir sind auf einem nicht so schlechten Weg.“

Gleich fünfmal „auch“ in einem einzigen präsidialen Satz! Mit diesem Gestammel will unser Staatsoberhaupt klarmachen, dass er natürlich nichts an den ansonsten üblichen schwer moralischen Begründungen für Deutschlands Militäreinsätze zurücknehmen, sondern diese ergänzen will. Und zwar um den Hinweis, dass sie wirklich im Interesse eines jeden Bewohners diese schönen Landes stattfinden, auch wenn der gar nicht an Deutschlands weltpolitische Verantwortung, sondern bloß an eher Schnödes wie seine Lohntüte denkt.  

Und dann das! Kein flächendeckendes Dankeschön für die mutigen und in die Zukunft weisenden Worte, mit denen der Präsident seinem Volk doch nur begreiflich machen will, dass Geschäft und Gewalt in einer imperialistischen Nation stets zusammen gehören. Stattdessen gewollte Missverständnisse und kleingeistige Mäkelei.

• Wie immer kritteln Grüne und Linke. Trittin und Gysi dementieren entrüstet jeden Zusammenhang zwischen deutschen Armee-Einsätzen und wirtschaftlichen Interessen. Der eine braucht keine „Kanonenboot-Politik“, der andere ist der Meinung, dass man „für Export und Freihandel alles Mögliche tun (kann), aber sicher keine Kriege führen“. Übrigens durchaus bemerkenswert, wie sich Grüne und Linke herausgefordert fühlen, die deutschen Militäreinsätze ins rechte Licht zu rücken. Erstens: Einen Zusammenhang zwischen unseren friedlichen Wirtschaftsinteressen und deutschen Gewalteinsätzen auf der Welt wollen sie einfach nicht erkennen – und wenn doch, dann höchstens dahinten am Horn von Afrika, wo man ein paar Piraten das Handwerk legen muss. Zweitens: Wenn sie schon bemerken, dass einem Krieg wie dem in Afghanistan noch grundsätzlichere Weltordnungsambitionen zugrunde liegen als bloß das Motiv, Handelswege zu sichern, dann soll das gleich ein Ausweis dafür sein, dass man selbstlos höheren Werten dient, wenn man irgendwo zuschlägt auf dieser Welt! Nein, auf schnöde materielle Interessen lassen sich speziell unsere deutschen Auswärtsspiele nicht reduzieren! Diese Gegenrede von links musste offenbar mal wieder unbedingt sein, damit der Bürger richtig und nicht falsch orientiert wird...

• Aber auch die eigenen Parteifreunde finden – mit Ausnahme des schneidigen Verteidigungsministers – Köhlers Interview-Äußerungen „nicht glücklich“. Die SPD bemängelt, dass Köhler mit ihnen die Zustimmung des Bundestags unterminiert, die schließlich an der Berufung auf das UN-Mandat hänge und eben nicht einen Krieg aus einem eigenen nationalen Interesse heraus behaupte. Die Presse findet den Auftritt „verstörend“ ...  

PS: Jetzt ist der Bundespräsi beleidigt zurückgetreten. So viel Unverständnis bei so viel guter Absicht – das ist aber auch wirklich zu gemein!

Lesetipp:
Imperialismus heute – Weltmarkt und Weltmacht
Afghanistan: Revue der Kriegsbegründungen

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Deepwater Horizon

Das Öl im Golf von Mexiko:

Unvorhergesehener Kostenfaktor einer marktwirtschaftlichen Geschäftskalkulation 
oder: 
Eine „menschliche“ Katastrophe?

Über die Berechnungen des Geschäfts, die BP veranlasst haben, vom Meeresgrund aus nach Öl zu bohren, steht alles in der Zeitung: Die derzeitige Höhe des Ölpreises macht den investiven Aufwand rentierlich. Für den US- Staat sind nationale Ölfelder ohne fremde Transitländer ein Mittel zur strategischen Unabhängigkeit von diesem kostengünstigsten Energieträger. Die zuständigen Aufsichtsbehörden haben das Geschäft von „Big Oil“ genehmigt, obwohl eine Verseuchung des Meeres bei der Ölförderung notwendigerweise dazugehört. So lange diese in den „normalen“ Grenzen bleibt, läuft das Geschäft wie geschmiert. Die Erwartung eines lukrativen Geschäfts mit dem Öl und das nationale Interesse verbietet es offensichtlich, mit der Förderung so lange zu warten, bis man die 100-prozentige Sicherheit hat, dass der Rohstoff ohne jegliche Gefahr für Mensch und Natur aus dem Boden sprudelt.
BP samt der Konkurrenz der anderen Ölkonzerne scheuen das Risiko jedenfalls nicht, sondern nehmen es als Mittel ihres Gewinn bringenden Geschäfts. Es gehorcht der Logik dieses Geschäfts, wenn auch an den Sicherheitsvorkehrungen bei der Ölförderung gespart wird, so gut es geht, weil die eben kosten und damit den Gewinn schmälern

Die Kalkulationen der Ölkonzerne mit der kostengünstigen „Begrenzung“ bei der Ruinierung von Lebensgrundlagen sind öffentlich durchaus bekannt. Sie folgen schließlich den Prinzipien eines kapitalistischen Geschäfts, das sich gar nicht von den übrigen Geschäften unterscheidet, von denen der Wirtschaftsteil der Zeitungen sonst so kündet. Die „Risiken“ mögen sich in der Sache für die jeweiligen Geschäftemacher, aber vor allem für das eingesetzte Arbeitspersonal und die strapazierte Natur unterscheiden. Das Prinzip der kapitalistischen Reichtumsvermehrung bleibt. Die angesichts des Lecks jetzt verbreiteten Weisheiten über die „Ölkatastrophe von BP“ folgen allerdings dem Motto „Wir lassen uns die freie Marktwirtschaft nicht madig machen“. Deshalb wird die Schuldfrage gewälzt und nach Verantwortlichen für das Desaster am Golf von Mexiko gefahndet.

Marc Beise von der „Süddeutschen“ – philosophisch:

„Dass der Mensch immer tiefer ins Meer vordringen muss, um an Öl und damit an Energie zu kommen, ist nachvollziehbar; es ist Teil unseres Lebensstandards, von dem sich nur die wenigsten zu verabschieden bereit wären. Die Zeiten, da das Leben auf der Erde ohne nennenswerte Belastung für die Natur und nennenswertes Risiko für den Gesamtorganismus Erde verwaltet werden kann, sind vorbei. Das mag man bedauern, aber es ist nicht mehr zu ändern.
Der Preis dafür ist hoch. In großen Tiefen oder extremer Kälte stößt der Mensch in Grenzbereiche der Technik vor. Wenn man sich also für diesen Weg des »Immer mehr« entscheidet, dann ist ein Gebot überlebenswichtig: Die Belastung für die Umwelt und das Risiko sind so sehr zu begrenzen, wie es nur irgend geht. Im Zusammenhang mit den Tiefseebohrungen im Golf von Mexiko ist gegen dieses Gebot offenbar vielfach verstoßen worden.“

Ein merkwürdiges Subjekt, das da als Ölförderer vorstellig gemacht wird: Unter der gleichmacherischen Kategorie „der Mensch“ versammeln sich doch mindestens vier gesellschaftliche Fraktionen, die alle ihr jeweils spezifisches Interesse am Öl geltend machen.

− An erster Stelle die Ölkonzerne selbst, die ihr Geschäftsinteresse mit der Förderung und Vermarktung des Rohstoffs verfolgen;

− andere kapitalistische Unternehmen, die ihr Geschäft durch den Einsatz vergleichsweise kostengünstiger Energie voranbringen;

− Staaten, die dieses Geschäftemachen befördern und beaufsichtigen und dafür sorgen, dass der Nachschub an Erdöl grenzüberschreitend sichergestellt ist;

− und dann sind da noch die vielen Endverbraucher mit ihrem eher schmalen Geldbeutel, die zwar kein Geschäft mit dem „schwarzen Gold“ machen, deren Energiekonsum allerdings ein auch nicht zu vernachlässigendes Geschäftsmittel für die Ölkonzerne ist.

Alle diese disparaten Interessen werden in dem Denkkonstrukt vom „Menschen“ friedlich vereint und in ihrem Tun und Handeln mit vollstem Verständnis bedacht: Weil aus Öl gewonnene Energie zu „unserem Lebensstandard“ gehört, muss nicht BP, sondern „der Mensch“ ins tiefe Meer vordringen. Mit dem Verweis, dass jeder gewohnheitsmäßig Energie zum Beleuchten, Heizen und Autofahren nutzt, wird unterschlagen, dass der Konsument dieser Notwendigkeiten des modernen Lebens gerade nicht das Subjekt der Veranstaltung ist, das dafür sorgt, dass die Wohnung hell erleuchtet und beheizt ist. Im richtigen Leben geht es geradezu umgekehrt zu: da diktiert eine Geschäftswelt – also auch BP und Konsorten – über den Preis, der sich aus der Vermarktung der geförderten Rohstoffe erzielen lässt, ob und wie viel sich „der Mensch“ auf Grundlage seines mehr oder weniger gefüllten Geldbeutels davon leisten kann. Ein steigender Ölpreis zwingt nicht wenige Leute, die Heizung herunterzudrehen oder sonst wie zu sparen. „Unser Lebensstandard“ ist alles andere als der Grund dafür, dass BP als ideeller Beauftragter „des Menschen“ nach Erdöl bohrt, sondern er ist die abhängige Variable davon, wenn sich für diesen Konzern das Geschäft mit der Ölförderung lohnt.

Mit der Suche nach Schuldigen an der Ölkatastrophe wird fernab aller real existierender Geschäftsinteressen der Ölkonzerne ein fiktives Subjekt erfunden, das eigentlich für die ganze Sauerei im Golf von Mexiko verantwortlich sein soll – „der Mensch“. Der ist einerseits schuldig und andererseits auf Grund seines „Lebensstandards“ auch wieder entschuldigt, weil es so nachvollziehbar wird und unvermeidbar gewesen sein soll, wenn „unzählige Liter des schwarzen Gifts, das die Menschheit für ihren Wohlstand braucht,“ ins Meer strömt, „und es strömt weiter.“ Aufgeklärt über die Bedeutung von Lebensrisiken – „ohne nennenswertes Risiko“ ist an das Öl einfach nicht zu kommen –, wird dann mit abgeklärtem Realismus behauptet, die risikolosen Zeiten seien – wieder für „den Menschen“ – endgültig vorbei. Weltfremd, wer das nicht so sieht. Deshalb muss „Mensch“ auch entsprechend risikobereit sein: Die Explosion der „Deepwater Horizon“ war für Beise mitnichten das Ergebnis einer kapitalistischen Kalkulation unterm marktwirtschaftlichen Diktat der Gewinnmaximierung, sondern eines irgendwie schicksalhaften „Restrisikos“ beim unverzichtbaren Ölbohren.

So gesehen ist die Katastrophe im Golf eine menschliche Tragödie: Der vom SZ-Analysten zur Weißwaschung des Systems erschaffene „Mensch“ läuft sehenden Auges wegen des Erhalts eines „Lebensstandards“ mit vollem „Risiko“ in sein Verderben. Aber es gibt eine Hoffnungsperspektive in der „Katastrophe“: Der Umgang mit dem „Risiko“ eröffnet Chancen. BP hätte sich sträflich gegen seine Sorgfaltspflicht vergangen. Das Unternehmen „muss alle, wirklich alle Möglichkeiten ausschöpfen, gefährliche Technologien unter Kontrolle zu halten. Das gilt für Ölkonzerne nicht anders als für Fluggesellschaften oder Kernkraftwerksbetreiber.“ Seltsam: Erst behauptet Beise, dass „das Leben auf der Erde“ ohne „nennenswertes Risiko“ nicht zu haben sei – und dann soll es begrenzt werden, „wie es nur irgend geht.“ Und wenn sich diese Technologie der Kontrolle entzieht? Soll man sie dann (bleiben) lassen? Da Beise der Logik der Sache nach keine Grenze zwischen erlaubtem und nicht mehr akzeptablem Risiko benennen kann, bleibt wohl die klassische marktwirtschaftlich-demokratische Definition des „Restrisikos“ gültig, der zufolge das Risiko dann „unverantwortlich“ war, wenn der Schadensfall eingetreten ist?

Deshalb ist nicht einmal der Super-GAU für Beise ein Argument gegen das Geschäft mit Tiefseeöl, sondern für das Strafrecht.

„Die Energiekonzerne, die Jahr für Jahr viele Milliarden Gewinn erzielen, also Überschuss nach Abzug aller Kosten, hätten das Geld, so viel Sicherheit wie irgend möglich zu organisieren. Wenn sie es nicht tun, ist dies ein Verbrechen.“

Die Marktwirtschaft funktioniert allerdings genau andersherum: Gerade weil BP und Konsorten ihre Kosten und damit die Sicherheit haarscharf kalkulieren, bleibt ihnen soviel Reibach, wofür sie, wenn gerade keine Katastrophe stattfindet, von den Wirtschaftsexperten gelobt und ihre Aktionäre belohnt werden. Daran will Beise nichts ändern, sondern BP finanziell ausbluten lassen.

„Am Ende, steht zu erwarten, wird BP nicht mehr das sein, was es heute ist. Die US-Regierung muss den Konzern zwingen, zu zahlen, zu zahlen, zu zahlen, und wenn das Unternehmen daran zugrunde geht.“

Am Ende hat Herrn Beises „Mensch“ als „Lebensstandard“ ein versautes Meer und die tiefe Befriedigung, dass dem Recht Genüge getan wurde, falls ein Ölmulti in die Pleite getrieben werden sollte. Und, wie „der Mensch“ so drauf ist, wird er sturzzufrieden sein, wenn die restlichen Ölkonzerne das Geschäft von BP übernehmen und das Risiko weiter seinen Lauf nimmt, wg. „Lebensstandard“ bis zur nächsten Havarie!

Leute wie Beise, haben dabei die Mission der Seelsorge mit Glaubensbekenntnis, Schuld & Sühne, denn

„bei all den Krisen gerät leicht in Vergessenheit, dass die Marktwirtschaft immer noch eine vergleichsweise gut funktionierende Veranstaltung ist. Es gibt, soweit erkennbar, keine bessere Alternative. Wer das freiheitliche System aber zu Lasten der Allgemeinheit missbraucht, muss hart bestraft werden. Wer es mit so gravierenden Folgen missbraucht wie BP und die anderen beteiligten Firmen, hat keinen Anspruch mehr darauf, in diesem System mitmachen zu dürfen.“

Der Kapitalismus und seine Marktwirtschaft gehen eben nicht ohne Risiko, das dann an den unvermeidlichen Katastrophen schuld sein soll. Diese unverbesserliche Alternative soll sich gerade darin bewähren, dass in ihr Risiken nicht vermieden, sondern abgewogen werden, damit die „Veranstaltung vergleichsweise gut funktioniert“. Wo sie sein müssen, da müssen sie eben sein. Wer diese „Freiheit“ missbraucht, sollte möglichst mit Ausschluss aus dem „System“ bestraft werden.

Das braucht „der Mensch“, wenn er jeden Morgen erfährt, dass das Bohrloch immer noch nicht abgedichtet ist.

Dieser Text stammt von der Redaktion Gegenstandpunkt bei „Radio Lora“ (21.6. 2010)

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Die Finanzmärkte drohen den Euro-Staaten mit Kreditentzug – Deutschlands Antwort:

„Das größte Sparpaket in der Geschichte der Bundesrepublik“ (Teil 1)

Milliardenschwere Bankenrettungen und Konjunkturprogramme haben die Staatsverschuldung der Euro-Staaten enorm wachsen lassen. Prompt werfen die gerade geretteten Finanzkapitalisten die Frage auf, ob diese Schulden ihrer staatlichen Retter überhaupt noch „solide“ sind, aus künftigen Staatseinnahmen bedient werden können, und was die Staatsschuldpapiere, die sie fleißig gekauft haben, noch wert sind.

Und prompt sehen sich die Euro-Staaten herausgefordert, den aufgekommenen Zweifeln an ihrer Kreditwürdigkeit, also ihrer ökonomischen Potenz als Staaten, nach Kräften entgegenzutreten. Sie sehen sich genötigt, die Zweifel zu dementieren, indem sie den Zweiflern dahingehend Recht geben, dass sie in der Tat „zu viele Schulden“ aufgehäuft hätten. Also antworten sie auf die „Schuldenkrise“, in die sie die Finanzbranche gestürzt hat, mit einer entschlossenen Schuldenabbaupolitik. Die haltlos gewordene Qualität ihrer Schulden definieren sie als quantitatives Übermaß und die wegen Rettung der Crash-Wirtschaft und der kreditunwürdigen Europartnerstaaten aufgelaufenen 1,5 Billionen Euro Schulden veranlassen sie zu einer entschlossenen Haushaltssanierung. Die deutsche Regierung geht als leuchtendes Beispiel voran und verordnet sich für die nächsten Jahre im Bundeshaushalt eine Einsparung in Höhe von 80 Milliarden Euro. Das soll den Märkten, die die Solidität der Euro-Staatsschulden bezweifeln, den Wind aus den Segeln nehmen!

Die Lage ist ernst:

„Ich glaube, die letzten Monate haben im Zusammenhang mit Griechenland und anderen Eurostaaten gezeigt, von welch herausragender Bedeutung solide Finanzen sind und dass sie sozusagen die Voraussetzungen dafür sind, dass wir in Stabilität und Wohlstand leben können…“ (Merkel, Pressekonferenz vom 7.6.)

Mit dem Verweis auf die „Voraussetzungen“ erinnert Merkel daran, dass alles Wirtschaften und Leben kaputt geht ohne „solide Finanzen“ – des Staates versteht sich. Das weiß das Volk schon lange, weswegen es die FDP mit ihren monotonen Steuersenkungsplänen nicht mehr so richtig leiden kann. „Die größte Sorge unserer Mitbürger ist, dass die öffentlichen Defizite ins Unermessliche wachsen können“, erklärt Schäuble. Die Sorgen des Finanzministers hält das Volk nicht aus, weil es die Abhängigkeitslogik (je weniger einem die Abhängigkeit von Staat und Kapital bekommt, desto mehr muss man darauf setzen, dass diese Herrschaften Erfolg haben) schon lange gefressen hat. Deswegen verspricht ihm die Regierung ein „Sanierungspaket“, das alle gehörig in die Pflicht nimmt. Und das ist ganz sachlich nach der Funktionalität der einzelnen Stände für den nationalen Kapitalstandort sortiert:


Sparen, wo es am leichtesten fällt – bei den Armen

Den größten Batzen Einsparung geben die Kürzungen im Sozialbereich her – aber das ist nur gerecht, denn schließlich:

„Im laufenden Jahr machten sie mehr als die Hälfte aller Bundesausgaben aus, heißt es.“ (FAZ, 7.6.)

Ach so, ja dann:

„Dies macht deutlich, dass eine nachhaltige Rückführung der staatlichen Defizite nur gelingen kann, wenn auch dieser Bereich einen zielgerichteten und fairen Beitrag leistet.“ (ebenda) Ja, wer das Pech hat und mit seiner mickrigen Sozialknete zusammen mit Millionen anderen armen Schluckern „mehr als die Hälfte aller Bundesausgaben ausmacht“, der soll sich nicht fragen, ob diese ganze Armut nicht irgendwie systemrelevant ist, sondern einsehen, dass es nur „zielgerichtet“ und „fair“ ist, wenn er noch ein Stück weiter verarmt wird – auch wenn er sich womöglich eingebildet hatte, dass mehr einfach nicht möglich ist. Denn es ist nun einmal so: „Wie finanzwissenschaftliche Untersuchungen zeigen, belastet eine solche Strategie weniger das Wachstum der Wirtschaft.“  (FAZ, 8.6.)

Gemessen an diesem Zweck, das staatliche Sparen nicht auf Kosten des Wachstums zu betreiben, sind die sozialstaatlichen Kostgänger natürlich ganz und gar kontraproduktiv – sie bekommen Geld, obwohl sie nicht arbeiten! Von daher ist ihre noch so schäbige Alimentierung von gestern heute ein einziger Luxus, den der Staat sich immer weniger leisten will, zumal das an die Finanzmärkte die völlig falschen Signale aussendet. In diesem Lichte betrachtet brauchen die Empfänger die mickrigen Zuschüsse aber ohnehin nicht, weil sie ja sowieso schon Stütze bekommen: wozu etwa brauchen Hartz-IV-Empfänger Elterngeld, sie kriegen doch schon Hartz-IV! (Einspareffekt:1,6 Milliarden) Und ältere Wohngeldempfänger brauchen auch keinen Heizkostenzuschuss mehr, zumal die Regierung herausgefunden hat, dass das Heizen ständig billiger wird. Sie alle brauchen die mickrigen Zuschüsse aber auch deshalb nicht, weil sie so mickrig sind, dass das Streichen für die Betroffenen kaum ins Gewicht fällt, für die Staatskasse aber schnell ein paar Milliönchen zusammenkommen (wie die Streichung des Zuschusses für die Rentenkasse  bei den Langzeitarbeitslosen zeigt). Dem entfesselten staatlichen Sparwillen fällt auch so manche liebgewordene Ideologie zum Opfer, wie z.B. die, dass Langzeitarbeitslose durch Fortbildungsmaßnahmen wieder in den Arbeitsmarkt eingegliedert werden könnten. Absurd, weiß man heute: „Im politischen Berlin kursieren Gerüchte, nach denen Gabelstaplerfahrer zu Gabelstaplerfahrern weiterqualifiziert worden sind.“ (FAZ, 9.6.) Der Rechtsanspruch auf die Teilnahme an Qualifizierungsmaßnahmen entfällt. Auf Dauer unbrauchbarer menschlicher Ausschuss darf in Zukunft von den Arge-Mitarbeitern nach deren Ermessen von denen, die vielleicht durch Weiterbildung noch eine Chance haben, unterschieden werden – die kennen schließlich ihre Pappenheimer! Und siehe da: 4,5 Milliarden sollen durch die Umdefinition von „Pflichtleistungen“ in „Ermessensleistungen“ in die Staatskasse gespült werden, auch wenn das die arme Arbeitsministerin noch vor allerhand knifflige Probleme stellt.
So zynisch wird eben gedacht, wenn der Staat seine Sozialleistungen durchmustert. Weil er das Geld dafür nicht mehr ausgeben will, sollen sie für die Betroffenen gleich überflüssig sein.


Sparen auch bei der Wirtschaft, obwohl das viel schwerer fällt

Etwas anders geht es auf dem Feld der Wirtschaft und der Vermögenden zu. Hier ist staatlicherseits größte Rücksichtnahme auf die Beteiligten geboten. Schließlich will das Sanierungspaket beim Haushalt-Sanieren auch noch die „Grundpfeiler unserer Zukunft stärken“, und das ist nun mal ohne erfolgreiches Unternehmertum und flächendeckendes Kapitalwachstum nicht zu haben. Also Vorsicht! Ein zielführender Ansatz ist es da, sich einige Sparten herauszupicken, die sozusagen stellvertretend für „die Wirtschaft“ Federn lassen müssen. Auch da allerdings mit der gebotenen Rücksicht und eingedenk dessen, dass sich die Betroffenen unter staatlicher Oberaufsicht bereits milliardenschwere Sondervorteile in Form von bisher gewährten großzügigen Steuerausnahmeregelungen unter den Nagel gerissen haben, die man jetzt zurückfahren will. Das Ganze läuft unter dem Obertitel „ökologische Ausrichtung unserer Volkswirtschaft“ (Merkel). Bei der Ökosteuer etwa soll es weniger Ausnahmen geben, aber:

„Wenn die Regierung zu scharf vorgeht, werden energieintensive Betriebe im Inland dazu motiviert, ihre Produktion in Länder zu verlagern, wo die  benötigte Energie geringer besteuert wird.“ (FAZ)

Das weiß auch die Regierung und stellt klar, dass „diese Steuervergünstigungen nicht komplett gestrichen werden.“

Die Steuer auf Atomstrom schöpft in Zukunft Sondergewinne ab, die die Kraftwerksbetreiber ganz unabhängig von der geplanten Laufzeitverlängerung für Kernkraftwerke in den letzten Jahren eingestrichen haben:

„Die Kernenergiewirtschaft sei im Vergleich zu anderen Energieproduzenten vom Emissionshandel nicht betroffen. Gleichzeitig sind durch die Einpreisung der Kohlendioxid-Zertifikate in den Strompreis die Preise gestiegen, die Stromproduktionskosten dagegen nicht … Das rechtfertigt eine Besteuerung der Kernenergie aus ökologischen und ökonomischen Gründen.“

Auch die „ökologische Luftverkehrsabgabe“ beendet eine lukrative Ausnahmeregelung für die Luftfahrtindustrie in der Größenordnung von 1 Mrd. Euro pro Jahr.

Gleichwohl ist der Regierung bewusst, dass ihre Maßnahmen ein einziger Widerspruch sind zu ihrem Ziel, die Wachstumskräfte zu stärken. Die massiven Beschwerden und Klageandrohungen der Betroffenen fallen deshalb schwer ins Gewicht und werden noch für die eine oder andere Modifikation sorgen. Doch es sind nun mal „ernste Zeiten, es sind schwierige Zeiten“ (Merkel). Immerhin beweist die Regierung Glaubwürdigkeit, wenn sie, obwohl selbst vom neoliberalen CDU-Wirtschaftsrat gefordert, den Spitzensteuersatz nicht erhöht: Wenn sie den Reichen die Steuer nicht wie versprochen senken kann, dann erhöht sie sie wenigstens auch nicht. Das ist sie nicht nur dem Koalitionspartner, sondern überhaupt dem wirtschaftsfreundlichen Klima in Deutschland schuldig.


Kein Schloss, weniger Beamte, die Bundeswehrstrukturreform – der Staat spart an sich selbst

Und das nicht nur im Kleinen, wie bei der Verschiebung des Neubaus des Berliner Schlosses um zwei Jahre und der Nichtbesetzung freiwerdender Beamtenstellen, sondern auch im Großen, wie bei der „großangelegten Streitkräftereform“, die zwar noch nicht zu Ende gedacht ist, bei der aber „geprüft wird, ob die Bundeswehr um 40.000 Soldaten verkleinert werden kann“. (Merkel auf  der Pressekonferenz am 7.6.) Unter dem Gesichtspunkt Haushaltssanierung steht das Ergebnis dieser Prüfung aber schon vorher fest: 2 Mrd. pro Jahr ab 2013 werden als Sparposten fest verbucht. Eigentlich ein schwerer Schlag ins Kontor einer aufstrebenden Nation, die nicht müde wird zu betonen, dass sie bereit ist, mehr Verantwortung in der Welt zu übernehmen, und dazu gehört ja wohl ein wachsendes Gewaltpotential und die Freiheit, sich die entsprechenden Mittel dazu zu verschaffen. Für den schneidigen Verteidigungsminister stellt sich die Sache nun so dar, dass ihn die „schwierigen Zeiten“ zu dem Kunststück nötigen, aus dem Zwang zur Kostenersparnis heraus gleich auch noch eine effizientere und schlagkräftigere Armee zu basteln.


Die kritische Öffentlichkeit: voll auf Linie

Den Zweck: Sanierung der Staatsfinanzen teilen die Journalisten in Presse und Fernsehen durch die Bank. Nach dem Motto „Sparen, aber immer – bloß: kann es die Regierung auch wirklich?“ werden die Maßnahmen von allen Seiten kritisch unter dem Maßstabs ihres Erfolgs beäugt:

„Merkels Luftschloss: von zweifelhafter Qualität sind die meisten der eigentlichen Sparvorhaben. Hinter viele wird man Fragezeichen machen, weil sie gänzlich unausgegoren sind und damit, was ihre Durchsetzbarkeit und den tatsächlichen Spareffekt angeht, heute kaum zu beurteilen … Insgesamt fallen die Kürzungen in den Sozialausgaben (die mehr als die Hälfte des Bundesetats ausmachen), viel zu zaghaft aus. So wird jenes Volumen nicht zustande kommen …“ (FAZ 8.6.)

Das Volk hat aber ein Recht auf echtes Sparen und will klare Ansagen:

„Selten hat sich die Bundeskanzlerin so gewunden und geschraubt ausgedrückt wie bei der Vorstellung der Haushaltsbeschlüsse…Wer Angela Merkel zuhörte, konnte den Eindruck gewinnen, das einzige handfeste Ergebnis sei die Verschiebung des Baus des Berliner Stadtschlosses.“ (FAZ, ebenda)

Und überhaupt, wie kommt das Sparpaket rüber?

„Es trifft vor allem die weniger Betuchten. Selbstverständlich sind auch die Ausgaben für die Langzeitarbeitslosen nicht sakrosankt. Aber: Sparpakete dieser Größenordnung werden gesellschaftlich nur akzeptiert, wenn die Menschen das Gefühl haben, dass es einigermaßen gerecht zugeht.“ (SZ 8.6.)

Na toll! So billig, wenn nur irgendwie – symbolisch – der Schein von sozialer Ausgewogenheit gewahrt wird, ist die Zustimmung des SZ-Redakteurs schon mal zu haben. Wenn die Erhöhung des Spitzensteuersatzes den Menschen das Gefühl von Gerechtigkeit suggerieren könnte, dann wäre doch irgendwie alles im Lot – jedenfalls schon mal für die Redaktionsstuben der mainstream-Presse.

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