Der SPIEGEL zur Krise

Der Kapitalismus ist scheiße, aber alternativlos

„Die Krise“ – zum neuen Sprachdenkmal gewordene Bezeichnung dafür, dass diverse Profitansprüche momentan nicht aufgehen – frisst sich inzwischen ein gutes halbes Jahr durch alle Abteilungen unserer Wirtschaft.
Jedem ist bekannt, dass noch eine ganze Reihe mehr oder weniger spektakulärer Einbrüche in der so genannten Realwirtschaft bevorstehen und mit noch mehr Arbeitslosen zu rechnen ist. Das abhängig beschäftigte Volk hält still – durchaus zur Verwunderung der politischen Klasse, die es verwaltet. Die weiß offenbar sehr gut, mit welchen Zumutungen sie ihre Massen momentan konfrontiert, kann sich aber im Augenblick ganz damit begnügen, „soziale Unruhen“ eher kokett an die Wand zu malen als ernsthaft zu befürchten – Gesine Schwan, DGB-Chef Sommer oder Prantl von der SZ lassen grüßen.

„Die Krise“ „herrscht“ also auf unabsehbare Zeit und ihre Wirkungen entfalten sich in schöner Negativität in sämtlichen Bereichen der Gesellschaft – ein beredtes Zeugnis dafür, dass und wie hierzulande alles davon abhängt, dass die Geldrechnungen der Finanz- und sonstigen Kapitalistenklasse aufgehen. Angesichts dessen stellen die öffentlichen Vordenker der Nation anscheinend eine gewisse Verlegenheit fest: Ihre Textbausteine von gestern, die die kapitalistische Marktwirtschaft als „effizientestes“, „innovativstes“ „produktivstes“ und überhaupt einfach bestes System lobpreisen, lassen sich nicht mehr wie gewohnt einfach „ausschneiden“ und „einfügen“. Natürlich kann man auch stur bleiben: „Sie können sicher sein: Der moderne Kapitalismus ist garantiert auch in seiner größten Krise dem Sozialismus überlegen. Turmhoch.“ (BILD, 20.5.) Dem gehobenen Journalismus ist diese Tour einfach zu durchsichtig. Klar – das Ergebnis soll schon so rauskommen, aber irgendwie doch ein wenig reflektierter, begründeter, nicht so offensichtlich unkritisch, schließlich will man aufkommendes Gemecker und Gemoser doch auch irgendwie mitnehmen auf die Reise, den Leser in seiner Welt abholen.

Also führt man in einigen deutschen Schreibstuben eine herrliche Debatte auf hohem Niveau. In der geht es um nicht weniger als „die Systemfrage“, die sich jetzt angeblich allen stellt. Mit Verve tut man selbst in Zeit und FAZ so, als befinde man sich gerade in einem Werbespot der „Gesellschafter“. Künstlich naiv, so als gäbe es keine  durch staatliche Gewalt gültig gemachten Interessen, denken demnach Mitglieder und Eliten dieser kapitalistischen Gesellschaft allen Ernstes darüber nach: „In welcher Gesellschaft wollen wir leben?“

Besonders legt sich dann aber der Spiegel kapitalismuskritisch ins Zeug.

„Warum der Kapitalismus nicht aus seinen Fehlern lernen kann“,

titelt er Anfang Mai und überrascht seine Leser zunächst einmal damit, alle möglichen Erklärungen, die er selbst ein ums andere Mal aufgetischt hat, in einem großen Rundumschlag zu widerlegen. Gier lässt sich demnach gar nicht von Profit trennen – nachdem man genau das in den letzten Monaten erbittert durchkonjugiert hat. Die Real- gegen die Finanzwirtschaft auszuspielen – ein Standardgedanke des bisherigen Krisenjournalismus! – grober Unsinn, überall dasselbe Prinzip am Werk, das in die Krise führt. Den Grund für die Krise den Amis zuschustern – auch hier war der Spiegel ganz vorne dabei – ignoriere die allgemeinen Gesetze der Marktwirtschaft. Also nicht Einzelphänomene, sondern – wir haben verstanden! – „System“. Und was für eins:

„Wer im Kapitalismus ein System sieht, das eine schöne Idee ist, die von Gierigen leider missbraucht wird, der ist ungefähr so weltfremd wie ein Marxist, der glaubt, Sozialismus sei eine gute Idee, die leider von Lenin, Stalin und Fidel Castro missbraucht worden sei.“ Selbst „die Kapitalisten wundern sich am lautesten über ihren Kapitalismus“

und eigentlich sei schon jetzt allen klar, dass der Versuch des Staates, die Krise zu bekämpfen, höchstens

„ein Problem löse, indem er zwei neue produziere, mehr Staatsverschuldung und drohende Inflation“.

Mit einer in diesem Stil seitenlang aufgeblasenen Tirade, die völlig abgeklärt mit allem abrechnet, was man bis gestern behauptet hat und demnächst sicher auch wieder steif und fest behaupten wird,  steuert der Artikel zielstrebig darauf hin, dass sich der Kapitalismus diesmal nicht in einer seiner üblichen Verwertungskrisen befindet, die dann die Restwelt auszubaden hat. Es ist nämlich viel schlimmer:

„Die systemische Erkenntnis dieser Krise ist nicht, das der Markt systemisch zu Krisen führt, das wusste man vorher (ach tatsächlich?); die Erkenntnis ist, dass die ideologische Hülle der Marktwirtschaft zerstört ist, wohl für immer.“

Mein Gott! Keine Ideologien mehr zur Marktwirtschaft – das ist natürlich wirklich grässlich, nicht auszudenken und schon gar nicht auszuhalten. Wie soll es da weitergehen?

„Nackt steht die Marktwirtschaft da, ein kaltes Gerüst, dem Gespött ausgeliefert.“

Schon entdeckt der Spiegel fürchterliche Tendenzen:

„SAP-Gründer Hasso Plattner hat bemerkt, dass es so eine Stimmung im Land gibt, dass wir Kapitalismus eigentlich gar nicht mehr wollen, sondern was anderes, Netteres“.

Bei der bisher „anachronistisch“ in der Ecke stehenden Sarah Wagenknecht ist ein Lächeln der „Genugtuung“ zu sehen angesichts der „antikapitalistischen Schlagzeigen der vergangenen Wochen“ und das Ami-Magazin „Newsweek“ behauptet „We are all socialists now“. Die Lage ist also wirklich ernst.

Aber dann doch Entwarnung – der Artikel biegt auf die Zielgerade ein.

„Ein schlüssiges Gegenkonzept zum Kapitalismus gibt es nicht“

– das sagt ausgerechnet seine Gegnerin Wagenknecht. Sonst nimmt ein Spiegel-Redakteur den „Spinnern von links“ ihre Einsichten und  Kritiken ja eher nicht so ab, aber in diesem Fall? Eine Kommunistin, die bezeugt, dass es keine Alternative gibt – bingo! Das ist es doch, wonach man in der Krise verzweifelt gesucht hat: Legitimation ohne den Umweg über eine momentan unglaubwürdige Schönfärberei. Der Kapitalismus steht mit seiner Krise vielleicht „nackt“ da, muss aber einfach sein – ohne aufwändige Begründung, ohne großartige Versprechen, ohne lateinische Adjektive. Das System ist große Scheiße, mangels Alternative aber unumgänglich und notwendig! – wenn das mal nicht ein geradliniger Schluss ist und eine Begründung, wie man sie sich argumentloser schlicht nicht vorstellen kann.

PS: Wenn es denn nur die Alternative ist, die fehlt – wir hätten da vielleicht was „Netteres“ in petto!

[Zitate: Spiegel 11.5.2009]

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Die Finanzkrise 

Ein notwendiges Produkt des ganz normalen Finanzgewerbes

Jetzt, wo die weltgrößten Bankunternehmen zusammenbrechen und sich über Nacht riesige Vermögenswerte in Luft auflösen, weiß jeder, wer das verbrochen hat: Schuld an allem sollen die Spekulanten in den Finanzagenturen sein, die in ihrer Gier kein Risiko mehr kannten und riesige Kreditblasen aufgebläht haben, die nun der Reihe nach platzen und die ganze schöne Wirtschaft in den Abgrund zu reißen drohen. Das nennt man dann abschätzig: „Zocker-“ oder „Kasinokapitalismus“.

Das Urteil über die Herren Finanzdienstleister, bis vor kurzem noch ein höchst ehrenwertes Gewerbe, ist nicht sachgerecht. Die haben doch genau das gemacht, was sie immer schon gemacht haben: Sie haben sich nach allen Regeln ihrer Kunst für die Umsatz- und Gewinnsteigerung ihrer Institute ins Zeug gelegt. Wenn jetzt alle Welt über die „Zocker“ herfällt und ihnen reinreibt, was sie alles verkehrt gemacht hätten, dann will sie gar nicht wissen, was die Spekulationsblase mit dem stinknormalen und angeblich grundsoliden Geschäft einer Bank im kapitalistischen Gesamtzirkus zu tun hat. Denn dann wäre ja der Gedanke fällig, dass die gigantische Krise gar nicht dem wahnwitzigen Fehlverhalten von irgendwelchen durchgeknallten Finanzheinis geschuldet ist, sondern zu den Schönheiten des kapitalistischen Systems notwendig dazugehört.

Vom spekulativen Teilhaben am Vermögenszuwachs, den andere schaffen …

Banken machen dasselbe wie alle kapitalistischen Unternehmer – aus Geld mehr Geld. Nur nicht über den Umweg über Produktion und Verkauf von Gütern. Sie vermehren ihr Vermögen, indem sie Geld verleihen, zum Beispiel an ein Industrieunternehmen. Ihr Kreditnehmer muss es ihnen nach einer vereinbarten Frist mit Zinsen zurückzahlen. Wie er das hinkriegt, ist der Bank egal. Sie geht einfach davon aus, dass die Belegschaft ihres Kunden billig ranklotzt und keine Probleme macht und dass die Waren des kreditierten Unternehmens sich in Qualität und Preis am Absatzmarkt gegen die Konkurrenz durchsetzen. Aber auch dann, wenn der Kreditnehmer weniger Umsatz und Gewinn macht als geplant, tut eine Bank alles, um ihr Recht auf Zins und Tilgung zu befriedigen (zur Not kann sie auch ans Vermögen der Unternehmung ran: Verwertung eingeräumter Sicherheiten). Im Allgemeinen aber eignet sich die Bank im Zins einen Teil des in Produktion und Handel erwirtschafteten Gewinns an; die kreditierten Unternehmen zahlen den Tribut, weil sie mit dem geliehenen Kapital der Bank mehr Profit zustandebringen als nur mit eigenen Mitteln. Ein gehöriges Maß an Spekulation ist im normalen Kreditgeschäft der Bank aber allemal enthalten: Sie schießt Geld vor, ohne zu wissen, ob bzw. inwieweit das Geschäft des Kreditnehmers gelingt. Sie tut so, als ob sich ihr Kapital, einfach weil sie es anderen zur Verfügung stellt, automatisch verwerten – also erhalten und vergrößern – könnte.

….über die Inbeschlagnahme fremden Geldes für die eigene Kreditmacht …

Ihre einmalige Stellung, Geld ohne allen Umweg zu Kapital zu machen, nutzt eine jede Bank, so gut sie kann. Dabei käme sie nicht weit, wenn sie nur das Geld verleihen würde, das ihr als Eigenkapital zur Verfügung steht. Noch viel mehr als ihre Kreditnehmer arbeitet eine Bank mit Geld, das ihr nicht gehört. Sie leiht es sich bei ihren Kunden, indem sie Einlagen einwirbt und für Sparbücher, Festgeld, manchmal auch für Girokonten, Zinsen verspricht. So verschafft sie sich Verfügung über das Geld anderer Leute, um es gegen höhere Zinsen weiter zu verleihen: Die Zinsspanne ist ihr Gewinn.

Diese Geschäftspraxis gilt als seriös und solide, ist es allerdings nur im Vergleich zu noch spekulativeren Machenschaften. Immerhin sagt die Bank ihren Gläubigern, die bei ihr Kontoguthaben besitzen, jederzeitige Zahlung zu, obwohl sie deren Geld längst an Geschäftsleute oder Private weitergereicht, sich also von deren Zahlungsfähigkeit abhängig gemacht hat. Sie nutzt also ihren Zugriff auf das Geld, das bei ihr deponiert worden ist, und schafft daraus neues Geldkapital. Dass das Spekulative an diesem doppelten Kreditgeschäft der Bank nicht jeden Tag auffliegt, liegt an der Masse an Kunden, also Kreditbeziehungen, die eine Bank auf sich ziehen kann: Zu- und Abflüsse von Geld gleichen sich tendenziell aus. Im Schnitt bleibt eine Bank auch dann liquide, wenn manche Geldrückflüsse ins Stocken geraten oder der eine oder andere Einleger sein Geld abzieht. Es darf nur nicht zu viel daneben gehen ... Zweifel an der Zahlungsfähigkeit einer Bank dürfen aber unter keinen Umständen aufkommen. Insofern ist es eben auch ungeheuer wichtig, dass der eigene Reichtum möglichst protzig zur Schau gestellt wird, mit Glitzerpalästen, die die Innenstädte so gemütlich machen, und mit Managern, deren Millionengehälter und Luxuskarossen darauf berechnet sind, den unverwüstlichen Geschäftserfolg des eigenen Bankhauses zu beweisen.

Schon dieses „Kerngeschäft“ einer Bank mit ihrer Kunden (Kreditnehmern wie -gebern) führt immer wieder zu Wirtschaftskrisen: Mit ihren Krediten ans warenproduzierende und -handelnde Gewerbe feuern Banken die Konkurrenz der Anbieter um Marktanteile so lange an, bis alle zusammen überproduziert haben: Die Waren können nicht mehr abgesetzt werden, Zahlungen bleiben aus, auch solche an die kreditgebenden Banken, die dann, um sich selbst zu retten, einen Kreditstopp verhängen und so die Zahlungsunfähigkeit ihrer Kunden verschärfen und über die ganze Wirtschaft verallgemeinern.

Die gegenwärtige Krise ist aber anders entstanden, sozusagen in der zweiten oder dritten Etage des Bankgeschäfts.

... bis hin zu Finanzgeschäften mit Wertpapieren ...

In diesem Überbau des Kreditzirkus dreht sich alles um Geschäfte mit Wertpapieren. Mit Wertpapieren kommt eine neue Form von Kreditbeziehung in die Welt. Ihre Grundform ist die verzinsliche Schuldverschreibung. Der Herausgeber (Emittent) eines solchen Wertpapiers – wenn man vom Staat mal absieht: größere Unternehmen und Banken – borgt sich für eine gewisse Zeit (Laufzeit des Papiers) gegen ein Rückzahlungs- und Verzinsungsversprechen Geld vom Käufer. Mit diesem Geld, meist werden sehr große Summen aufgenommen, können die Unternehmen längerfristig kalkulieren und größere Investitionen finanzieren; Banken können z. B. langfristige Kredite vergeben. Die Käufer solcher Wertpapiere (Anleger) sorgen so für die Ausweitung der Geschäfte bei den Emittenten. Als Gegenleistung werden sie mit der laufenden Zinszahlung am Gewinn beteiligt. Wie bei allen Kreditbeziehungen trifft das Risiko misslingender Geschäfte beide Seiten; tritt der Fall ein, dann geht der Streit um die Verteilung des Schadens richtig los.

Das eigentlich Neue am Wertpapier ist damit aber noch nicht auf dem Tisch. Durch die „Verbriefung“ in einem Wertpapier nimmt die Kreditbeziehung eine eigenständige Existenz an. Das Wertpapier verkörpert ein Zins- und Tilgungsverprechen des Emittenten gegenüber jedermann. Alle Beteiligten tun so, als wäre die Einlösung dieser Versprechen eine gewissermaßen real gegebene Eigenschaft des Papiers und nicht eine unsichere Sache, die der Herausgeber gar nicht in der Hand hat – die Zinserlöse, die das Papier regelmäßig abwirft, „beweisen“ dabei, dass das „Papier“ tatsächlich „Wert“ enthält. Das Wertpapier kann gehandelt werden, auf dem sog. Kapitalmarkt. Der Anleger muss also nicht bis zur Fälligkeit warten, bis er an sein Geld kommt, sondern kann jederzeit an Dritte weiterverkaufen. Durch diesen beständigen Handel entsteht eine eigenständige Wertbewegung: Das Papier erhält einen Preis (Kurs), der je nach Angebot und Nachfrage ständig schwankt, um den Nominalwert herum, den der Emittent bei Fälligkeit zu zahlen verspricht. Wenn der zugesagte Zins des Papiers über dem aktuellen Marktzins liegt, steigt die Nachfrage und damit der Kurs. Umgekehrt umgekehrt. Kommt der Verdacht auf, das kreditierte Unternehmen könnte zahlungsunfähig werden, kann so ein Wertpapier schlagartig wertlos und unverkäuflich werden.

Bei Aktien sind bekanntlich noch ganz andere Kurssprünge auf der Tagesordnung. Das liegt an der besonderen Natur dieser Wertpapierart. Unternehmen und Banken, die Aktien ausgeben, holen sich das Geld der Anleger ohne Rückzahlungspflicht herein. Kredit wird hier sozusagen endlos gewährt, verwandelt sich in Eigenkapital der Aktiengesellschaft. Und der Kapitalgeber ist kein Gläubiger, sondern Miteigentümer (Aktionär). Infolgedessen wird auch kein Zins zugesagt, sondern eine Gewinnbeteiligung (Dividende) in Aussicht gestellt, die in unterschiedlicher Höhe anfallen, aber auch ausfallen kann, je nach Geschäftslage. Darüber darf der Aktionär auch noch mit entscheiden: Die Gewinnverwendung ist ein Thema auf der Hauptversammlung. Das Interesse der Aktionäre ist also auf den Erfolg ihres Unternehmens ausgerichtet. Hierauf wird an der Börse dann auch spekuliert. Aktien von Unternehmen mit guter Geschäftslage oder guten Zukunftsperpektiven werden verstärkt gekauft, andere dafür abgestoßen. Das macht die Kurse sehr variabel und hat noch einen weiteren Effekt: Die Anleger setzen gar nicht nur auf mögliche Gewinnaussschüttungen, sondern auf die Kursbewegung selber: Sie hoffen, bald oder irgendwann teurer verkaufen zu können als sie gekauft haben. Und wenn viele in die gleiche Richtung spekulieren und die Nachfrage verstärken, wird die Erwartung wahr gemacht: Die Kurse steigen erst recht. Umgekehrt umgekehrt.
Banken sind an diesen Wertpapiergeschäften in vielerlei Hinsicht beteiligt, überall winken Geschäfte, die über das Grundgeschäft mit Krediten hinausreichen. Banken geben selber Wertpapiere aus, um sich auf dem Kapitalmarkt massenhaft fremdes Geld zu besorgen. Sie verdienen an verschiedenen Dienstleistungen, die sie für Wertpapieremittenten wie Anleger anbieten, Milliarden an Provisionen: Sie helfen eine Emission abzuwickeln, bieten ihre Kunden als Käufer an, sie organisieren Firmenübernahmen (Aufkauf von Aktienmehrheiten anderer Unternehmen), sie verwalten Wertpapierdepots von Firmen- und Privatkunden. Und sie investieren selber in Wertpapiere aller Art, um ihr Kapital durch Zins-/Dividendenerträge wie auch durch Kursgewinne zu vermehren.

... und Derivaten, die sich nur noch im Finanzgewerbe selbst abspielen.

Jedes Problem, das Anleger mit Wertpapieren haben – Rendite und Liquidität sollen hoch ausfallen, das Risiko aber möglichst gering – greift die Bank auf, um eine Lösung anzubieten, die ihr Geld einbringt. So sind auch die Derivate entstanden. Das sind Techniken, mit denen man Preisänderungsrisiken – bei Wertpapieren, aber auch bei Rohstoffen oder Währungen – ausschalten oder reduzieren kann. Optionen sind eins dieser „innovativen Finanzprodukte“: Man kauft das Recht (die Option), zum Beispiel Aktien zu einem zuvor festgelegten Kurs zu kaufen oder zu verkaufen. Diese relative Absicherung muss man natürlich bezahlen (Preis der Option). Solche Absicherungsinstrumente werden dann sofort auch andersherum interessant: Die Preisbewegung der Option ist um ein Vielfaches größer als die Preisbewegung der zugrundeliegenden Aktie. Diese „Hebelwirkung“ nutzen Anleger (wozu natürlich auch die Banken selbst gehören), um noch schneller ihr Geld zu vermehren.

Derivate selbst sind wiederum nur ein Beispiel dafür, was die Finanzbranche rund ums Wertpapier so alles zustande bringt. Diese „Finanzindustrie“ spuckt immer neue Produkte aus, mit denen kräftig Geld verdient werden kann: Zertifikate auf Aktien oder Rohstoffe, Aktien-, Immobilien- oder Windräderfonds, Zins- und Währungsswaps und und und. Teils sind diese feinen Waren für alle Sorten Anleger, teils nur für Profis gedacht. Im Unterschied zu anderen Branchen verschaffen sich die „Hersteller“ nicht nur als Verkäufer, sondern auch als Käufer neue Geschäftsmöglichkeiten und Renditen. Ein Großteil dieser Finanzgeschäfte hat mit der Kreditierung von Unternehmen der „Realwirtschaft“, die mit Kaffebohnen oder Gabelstaplern ihr Geld verdienen, nichts mehr zu tun: Es handelt sich um Kreditgeschäfte rein innerhalb des Finanzsektors, zwischen Finanzinstituten aller Abarten. So entstehen nach und nach und höchst folgerichtig immer neue Stufen der Spekulation. Gerade auch mit den Derivategeschäften werden Kursbewegungen an Börsen beschleunigt und so kann es niemanden verwundern, dass „Blasen“ entstehen und irgendwann, wenn die Euphorie in Panik umschlägt, in einem Crash zerplatzen. Dann sind mit einem Mal gewaltige Werte vernichtet. Derartige Finanzkrisen kommen in schöner Regelmäßigkeit zustande.

Besonderheiten der derzeitigen Finanzkrise: Wertpapiere auf umverpackte Immobilienkreditforderungen erweisen sich als „Giftmüll“ ...

Die Immobilienkrise in den USA mag ein Ausgangspunkt der jetzigen Finanzkrise sein – ihr Grund liegt in den Geschäftstechniken der Finanzbranche. Wieso stehen derzeit weltweit, ob in den USA, in Deutschland oder in China und Neuseeland, Banken (aber auch Versicherungen, Fondsgesellschaften und andere Finanzgeier) vor dem Ruin oder sind bereits gecrasht? So dass nur irrsinnige Staatsaktionen den Zusammenbruch dieser Branche verhindern können? Wie kann der US-Immobiliensektor diese Wirkung entfalten?

Zwischen Ausgangs- und Endpunkt dieser Krise liegt das Wertpapiergeschäft der Finanzindustrie. Diesmal ist ein neues „innovatives Finanzinstrument“ in der Berichterstattung groß herausgekommen: „Asset backed securities“ (ABS), auf deutsch: durch Vermögenswerte gedeckte Wertpapiere. Die Geschichte erzählt sich so. Amerikanische Immobilienbanken haben jahrelang Riesengeschäfte mit Häuserfinanzierung gemacht. Bei niedrigen Zinsen und steigenden Häuserpreisen haben sie mit allen „Drücker“-Methoden immer mehr Kunden geworben, die ihre Kredite nutzen und ein Eigenheim erwerben. Die Kredite wiederum beflügelten den Immobilienmarkt und seine Preise. Die Ansprüche an die Zahlungsfähigkeit der Kunden wurden gelockert: Auch arme Leute erhielten den Kredit, weil die Banken in den steigenden Immobilienpreisen eine Sicherheit sahen – und weil eine neue Geschäftstechnik zur Verfügung stand: der Weiterverkauf der Kreditforderungen und damit auch der Kreditrisiken. Es entstand eine Kette von Kreditbeziehungen, die weltweit alle Finanzmarktakteure anlockte und mit hinein verwickelte: Die ersten Aufkäufer dieser Immobilienkreditforderungen – allein die zwei zuletzt pleitegegangenen US-Hypotheken-Refinanzierer Freddie Mac und Fannie Mae hatten Forderungen über zusammen 5 Billionen USD zusammengekauft – schnürten aus den Millionen Einzelforderungen ganze Pakete zusammen (nach bestimmten Ausfallrisikoklassen gewichtet) und gaben darauf Wertpapiere heraus (ABS), die mit entsprechend unterschiedlichen Zinssätzen ausgestattet wurden (je höher das Durchschnittsrisiko eines Pakets, desto höher die Verzinsung). Ratingagenturen haben die Papiere bewertet und angesichts des florierenden Geschäfts am Immobilien- und Kreditmarkt auch dann mit guten Noten versehen, wenn in den zugrundeliegenden Paketen offensichtlich einige „faule Eier“ lagen. Diese neue Gattung Wertpapiere war weltweit ein Verkaufsschlager: Einerseits lag die Verzinsung ein wenig über derjenigen alternativer Anlageobjekte, z. B staatlicher Schuldtitel – aber wenn man Milliarden investiert, wie große Fondsgesellschaften, Versicherungen und natürlich Banken, summieren sich auch kleine Zinsaufschläge zu hohen Gewinnen. Andererseits – eine Ironie dieser Geschichte – wurden diese Papiere als „konservative Anlageform“ gewertet, verglichen mit Aktien oder Optionen. Natürlich wurde das Investieren in die ABS mit anderen bewährten Geschäftstechniken verknüpft: Der eine Hedgefonds kaufte für 3 Milliarden und kriegte dafür einen ganz normalen Darlehenskredit von seiner Bank. Ein anderes Finanzinstitut kaufte die ABS und holte sich am Kapitalmarkt das Geld dafür mit kürzerlaufenden Wertpapieren herein, so dass eine schöne Zinsdifferenz, also Gewinnmarge entstand. Wieder ein anderer Emittent oder Investor schloss Derivategeschäfte ab, um sein Ausfallrisiko (als Schuldner oder Gläubiger der ABS) zu minimieren; Banken nahmen die Wette an und kassierten Gebühren für solche „Credit Default Swaps“ (CDS). Usw. usf. Alle beteiligten sich an jedem Unteraspekt dieses Schneeballsystems, weil überall ein Problem in einen Gewinn umgemünzt werden konnte. Und alle legten die „Risikofreude“ an den Tag, für die die Unternehmen der Marktwirtschaft normalerweise immer gelobt werden, weil nur so Wachstum entsteht. Dass da ein „zu großes Rad“ gedreht wurde, ist nichts als dümmliche Schlaumeierei im Nachhinein.

... und bringen Banken und andere Großanleger an den Rand der Existenz

So ist sie entstanden, die weltweite Blase, die keineswegs nur eine Immobilienblase ist. Bis im Sommer 2007 das Platzen begann. Irgendeine Nachricht über leicht zunehmende Zahlungsausfälle bei amerikanischen Hypothekenschuldnern reicht in Kombination mit Infos über eine Trendumkehr bei Zinsen und Häuserpreisen lässig aus, um schon vorhandene Zweifel in ein akutes Misstrauen umzuwandeln, das bei der erreichten Verschachtelung von Kreditbeziehungen zwischen allen denkbaren Finanzmarktunternehmen weltweit einen ebenso globalen Dominoeffekt auslöst: Keiner kauft mehr, alle wollen verkaufen, der Preis für ABS geht in den Keller, viele müssen mit Verlust verkaufen oder Werte abschreiben, ihre eigene Zahlungsfähigkeit geht zu Bruch, neues Geld kann nicht aufgetrieben werden, Banken leihen sich untereinander kein Geld mehr ... Selbst solche Institute, die eher wenig als viel von den „Giftpapieren“ gebunkert haben, können insolvent werden, eine Insolvenz sorgt für die nächste ...

Dass diese Finanzkrise, wie jede andere, aber entsprechend dem derzeitigen Ausmaß, Wirkungen hat, die die ganze Wirtschaft, alle Branchen, erfasst, liegt auf der Hand. Wie diese Verallgemeinerung der Krise vonstatten geht und welche Rolle der Staat bei der Herstellung wie bei der Bekämpfung dieser Finanz- und Wirtschaftskrise spielt, ist in anderen Artikeln nachzulesen.

Fazit

Erstens ist diese Krise wie jede andere auch kein vermeidbarer Ausrutscher des Systems: Der über Kredit laufende kapitalistische Geschäftsbetrieb, unsere Marktwirtschaft, ist ohne solche „Exzesse“ (Frau Merkel) nicht zu haben. Die nächsten zum Platzen anstehenden Blasen sind schon im Gespräch, lange bevor die jetzige Krise ausgestanden wäre.

Zweitens ist die Krise in erster Linie eine für die Macher und Nutznießer des Systems. Sie leiden unter nicht laufenden bzw. zerstörten Geschäften. Die im Finanzsektor aktiven Unternehmen, Bankinstitute, Hedgefonds usw., machen nicht nur keinen Gewinn, sie müssen gewaltige Verluste hinnehmen oder ganz vom Markt verschwinden. Ihre Manager und Anteilseigner müssen auf die gewohnten Kapitalerträge und Bonuszahlungen verzichten, erleiden Vermögenseinbußen im großen Stil.

P. S. Der Normalmensch, der von seiner Arbeit lebt, kommt natürlich nicht ungeschoren davon. Er steckt in allen Phasen des Konjunkturverlaufs des Kapitals in der „Dauerkrise“, seine Finanzkrise ist permanent. Er ist immer Mittel und Geschädigter des Geschäfts, im Boom wie in der Talsohle. Er zahlt mit viel Arbeit und wenig Lohn den Preis für die Geschäftemacherei, die andere – Unternehmer und ihre Banken – zu ihrem Vorteil betreiben. Dass er dann – als „abhängige Variable“ (Marx) ihrer Unternehmungen – auch noch von ihren Krisen extra betroffen ist und gemacht wird, passt wie die Faust aufs Auge. 

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Dioxin im Essen:

Wie die Medien dem Bürger in der Not beistehen

„Während die Wissenschaftler noch der Frage nachgehen, wie das Gift ins Futter kam, stehen wir unversehens vor der Frage, was wir eigentlich essen wollen und wie wir unsere Nahrung erzeugen sollten.
Machen wir uns nichts vor: Mit der Massentierhaltung steigen die Gesundheitsrisiken. Wer im Anblick der industrialisierten Landwirtschaft Europas von artgerechter Tierhaltung redet, ist ein Träumer. Riesige Monokulturen werden angelegt, Äcker überdüngt und das Trinkwasser mit Pestiziden belastet. Wir importieren Soja für die Fleischproduktion, für dessen Anbau Regenwälder gerodet wurden, deren Erhalt wir uns wiederum aus Klimagründen Milliarden kosten lassen. Es ist ein globaler Irrsinn. Darüber müssen wir uns klar sein – und zugleich im konkreten Fall handeln: Wieso können Futtermittelhersteller nicht verpflichtet werden, jede Charge auf Dioxin zu testen, und zwar bevor sie das Futter mischen?“ (WAZ, 12.1.11)

Dieses Zitat steht für viele andere Beispiele, wie die Profidenker aus den diversen Redaktionsbüros dem Bürger geistig zu Hilfe kommen. WAZ-Mann Christopher Onkelbach, der Schreiber dieses Kommentars, hat die Gemütsruhe weg. Erst spricht er den Leser als einen an, der angesichts der Dioxinscheiße vor der Frage stehe, wie er die künftige Nahrungsmittelproduktion in Europa und weltweit haben wolle und wie nicht. Als ob Du & Ich darüber zu befinden hätten und nicht alles längst politisch und ökonomisch entschieden wäre. Dann stellt er selber klar, dass gar nichts zu entscheiden ist, weil wir nun mal in den Zeiten der „industrialisierten Landwirtschaft“ leben: Die ist ein einziger „Irrsinn“, das ruft er dem Leser durch einige Beispiele – den aktuellen Dioxinfall überbietend – in Erinnerung, ohne an irgendeiner Stelle den Grund für den Irrsinn auch nur anzudeuten. Was er da anführt an skandalösen Sachverhalten, erklärt sich nämlich keineswegs daraus, dass Viehhaltung und Pflanzenanbau auf großer Stufenleiter, massenhaft, riesig und industrialisiert stattfinden, sondern einzig aus dem herrschenden Zweck in der Marktwirtschaft, aus jedem Produkt möglichst viel Gewinn zu schlagen und dementsprechend an allen Kostengrößen sparen zu wollen. Aber egal: Es ist jedenfalls ein „Irrsinn“, den wir schlicht als die herrschende Realität in Rechnung zu stellen haben, statt irgendwelchen Träumen nachzuhängen. Umgekehrt aber bietet diese Aufforderung zum brutalen Realismus keine Erlaubnis dafür, alles einfach nur hinzunehmen. Nein: „Im konkreten Fall“ müssen „wir“, will heißen: die zuständigen Politiker, unbedingt handeln.

Der sture Wille zur Aufrechterhaltung der Illusion, dass trotz Beibehaltung der Geschäftsprinzipien deren Auswirkungen durch entsprechende politische Ge- und Verbote vermieden werden könnten, ist für Onkelbach und seinesgleichen als Ergänzung zur illusionslosen Hinnahme der Verhältnisse Bürgerpflicht.

Lesetipp:

Stichwort: Konsumentenverantwortung

Billiges Menschenfutter geht kapitalistisch nur so!

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Entwarnung nach Dioxin-Skandal

Gift ist normal

„Das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) hat nach dem Dioxin-Skandal Entwarnung gegeben. Die in Eiern und Schweinefleisch festgestellte erhöhte Konzentration des Umweltgiftes war höchstwahrscheinlich ungefährlich, wie die Wissenschaftler am Mittwoch auf der Grünen Woche mitteilten. »Aus meiner Sicht: keine Sorgen machen, sondern bunt und lecker weiteressen«, empfahl Institutspräsident Andreas Hensel den Verbrauchern. Dioxin sei in allen Lebensmitteln enthalten.“ (SZ, 27.1.)

Schöne Logik: Weil Dioxin – einstmals als „Sevesogift“ verteufelt – in allen Lebensmitteln enthalten ist, man seiner tagtäglichen Vergiftung also wirklich nicht auskommt, braucht sich der Konsument nicht länger zurückhalten und ausgerechnet den Eier- und Schweinefleischproduzenten das Geschäft vermiesen.

Selbst über die Menge des zugeführten Dioxin muss man sich keinerlei Sorgen mehr machen:

„Auch bei der gemessenen Überschreitung liege keine Gesundheitsgefahr vor, sagte Hensel. Das gelte selbst, wenn jemand ein Jahr lang täglich zwei Eier mit der höchsten festgestellten Dioxinbelastung gegessen habe. Die Konzentration des Umweltgiftes im Körperfett erhöhe sich dadurch zwar, bleibe aber weit unterhalb des kritischen Werts.“

Warum also noch länger bei Dioxin von Gift reden und es nicht gleich zum Lebensmittel erklären?

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Das Erfolgsmodell Zeitarbeit und seine Konjunkturen 

„Jobwunder“, „Wunderwaffe“  – so heißen seit den Anfängen der Agenda 2010 die Arbeitsverhältnisse, die einige Jahre zuvor noch als Sinnbilder für die schlimmsten Auswüchse „amerikanischer Verhältnisse“ galten, als Ausdruck einer „Hire & Fire-Mentalität“, die den Gepflogenheiten der sozialen Marktwirtschaft widerspreche.
Doch nun kippt die Konjunktur – und mit ihr die öffentliche Meinung: BMW will bis Ende Dezember auf rund 2500 Zeitarbeitskräfte verzichten. Daimler bestätigte, dass die Zahl von etwa 2500 Leiharbeitern reduziert werde. Erstmals wird auch Angestellten von Zeitarbeitsfirmen Kurzarbeitergeld gewährt. Obwohl sie nichts anders macht als die letzten Jahre, gerät die Zeitarbeitsbranche in den Augen der Öffentlichkeit ein wenig in Verruf: Den Zeitarbeitern werde in der Krise „übel mitgespielt“, der SPIEGEL – nicht gerade als Vorreiter der Arbeiterbewegung bekannt – redet von „moderner Sklaverei“, NRW-Arbeitsminister Laumann spricht von „Licht und Schatten“ bei der Zeitarbeit.

Dazu zwei  Klarstellungen:

1. Nichts am „Jobwunder“ Zeitarbeit ist „wundersam“. Zeitarbeit gibt es, wenn und weil sie die Lohnkosten der Unternehmen senkt – und seit der deutsche Staat einen solchen "Niedriglohnsektor" als Konkurrenzmittel seiner Unternehmen zulässt.

2. Wer diese Leistung der Zeitarbeit für die Kapitalisten als „Erfolgsgeschichte“ begrüßt, soll nun die entlassenen Opfer nicht betränen. Denn deren Ein- und Ausstellung folgen derselben Logik.

 „Jobwunder“ durch Lohndumping

Der Boom der Zeitarbeit ist eine Folge der Hartz-Reformen: Seit 2003 dürfen Leiharbeiter länger als ein Jahr in einem Unternehmen beschäftigt werden. Die Zahl der Zeitarbeiter hat sich seitdem auf 700 000 Menschen mehr als verdoppelt. Mit 60 000 Beschäftigten ist die niederländische Randstad Marktführer in Deutschland vor der in der Schweiz beheimateten Adecco. Worin besteht ihr Dienst für die Firmen (vorwiegend Großbetriebe)?

Zeitarbeitsfirmen ermöglichen Unternehmen die bedarfsgerechte Ein- und Ausstellung von Mitarbeitern. Die Unternehmen müssen die Mitarbeiter nicht fest anstellen, sondern gehen ein Leihgeschäft mit der Zeitarbeitsfirma ein, bei der die Arbeiter unter Vertrag stehen. Die Vorteile: Lästige Sozialleistungen, Kündigungsfristen und Abfindungen entfallen, die Lohnkosten sinken. Mit Leiharbeitern kommen Unternehmen ihrem Ideal näher, immer genau nur das Arbeitsquantum abzurufen, nach dem sie aktuell Bedarf haben. Dabei werden die Zusatzkosten für die Erhaltung der Arbeitskraft von dem Lohn, den sie zahlen, abgetrennt. Bei guten Geschäften können schnell Mitarbeiter akquiriert werden, die sie bei stockender Auftragslage sofort wieder los sind.

Von diesem Fortschritt aus betrachtet, erscheinen die bisherige Normalarbeitsplätze ihrer Stammbelegschaft den Unternehmen fast wie ein unrentabler Irrsinn: Warum eine „zu große“ Arbeitermannschaft parat halten nur für Fälle erhöhten Auftrageingangs? Und warum für den Lebensunterhalt der Arbeiter in Zeiten aufkommen, in denen sich dieser Aufwand nicht unmittelbar in Profit umwandeln lässt? Arbeiter ausleihen und nach Bedarf schlicht an die Zeitarbeitsfirma zurückzugeben ist also ein wirklicher Fortschritt für den kapitalistischen Zugriff auf Arbeitskraft – und wird dazu noch zu einem einträglichen Geschäftszweig für die verleihenden Zeitarbeitsfirmen. Deren Dienst besteht darin, beständig ein Reservoir an Arbeitskräften für die kapitalistischen Produzenten auf Abruf zu halten. Sie stellen Arbeitslose befristet oder dauerhaft an und – die Geschäftsidee ist nicht besonders kompliziert – sorgen für eine stattliche Verbilligung der Ware Arbeitskraft, mit der diese antreten. Das Geschäft der Zeitarbeitsfirmen besteht in der Differenz zwischen der Summe, die das ausleihende Unternehmen zahlt und dem Gehalt, das die Zeitarbeitsfirmen den Leiharbeitern zahlt:

„Ein Zeitarbeitnehmer, der zuvor  1.498,76 Euro netto verdient hat, erhält bei Randstad 765,95 Euro (!)“ (IG Metall).

Krokodilstränen

Der Nutzen der Zeitarbeitsfirmen für die produzierenden Kapitalisten besteht also in der absoluten Verbilligung des Faktors Lohn und dessen flexiblem Einsatz. Doch nun ist die Krise in der Realwirtschaft angelangt (siehe: Verallgemeinerung der Krise); Arbeitskräfte werden nicht nur in einzelnen Firmen überflüssig, sondern massenhaft. „Natürlich“ sind Leiharbeiter die ersten Betroffenen: Sie werden an ihre Zeitarbeitsfirma zurückgegeben, wo sie dann betriebsbedingt gekündigt werden können. Das geht kurz- und schmerzlos: Weder Rechtsstreitigkeiten kommen den Firmen in die Quere noch steht Ärger mit Gewerkschaften und Betriebsräte an – die sind im Normalfall froh, dass es (vorläufig) nicht die Stammbelegschaft trifft.

Die öffentlich vergossenen Krokodilstränen über die ersten Entlassungswellen, die die Zeitarbeiter treffen, sind insofern ziemlich verlogen. Schließlich sind die Unternehmen die Leiharbeitsverhältnisse unter anderem genau deswegen eingegangen, weil sie diese schnell wieder beenden können. In der Krise zeigen diese moderne Form der Tagelöhnerei  insofern ihre Stärken – dass das auf Kosten ihrer Arbeitskräfte geht, ist weder überraschend noch "die schlechte Nachricht", die der ansonsten guten hinterher folgt, sondern schlicht und einfach das Geschäftsmittel dieser Unternehmen.

Dummerweise gerät mit sich ausweitenden Entlassungswellen nun allerdings auch das „Erfolgsmodell Zeitarbeit“ in eine Krise: Nicht nur Leiharbeiter werden arbeitslos, der Umsatz der Zeitarbeitsfirmen bricht massiv ein. Im Unterschied zu den Krokodilstränen, die Staat und Öffentlichkeit hierzulande für die Nöte der Zeitarbeiter haben, ist die Bedrohung der Zeitarbeitsfirmen ein paar Überlegungen und praktische Maßnahmen wert. Deshalb wird jetzt  eine Art Kurzarbeiterregelung auch für diese Unternehmen eingeführt – schließlich hält man sie und ihren Dienst an den Bedürfnissen der Großbetriebe für ein Erfolgsmodell, das man in der Aufschwungphase nach der Krise nicht ganz und gar vermissen will.

Einen ideologischen Gratiseffekt liefern die Zeitarbeiter übrigens auch noch ab - egal, ob sie gerade beschäftigt werden oder sozusagen auf Halde sind. Sie sind die lebendigen Kronzeugen dafür, dass einem Arbeiter in dieser Gesellschaft nichts Besseres passieren kann, dass für ihn nichts erstrebenswerter ist als das eine: ein dauerhaftes Normalarbeitsverhältnis.

Mehr dazu: Lehrstück Arbeitsplatz

Nachtrag:

Gute Nachricht, schlechte Nachricht

„Die Zeitarbeit-Branche in Nordrhein-Westfalen boomt. Das ist eines der Ergebnisse einer unabhängigen Studie, die der nordrhein-westfälische Arbeitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) am Freitag in Düsseldorf präsentierte. Demnach hat sich die Zahl der Zeitarbeitnehmer in NRW seit 2001 von 84 000 auf 146 000 erhöht. (...)

Als problematisch erkennt die Studie die beiden Faktoren Beschäftigungsdauer und Entgelt an. (...) Laut der Studie liegt das Bruttoentgelt der Zeitarbeiter trotz eigener Tarifverträge zudem zwischen 36 und 45 Prozent unter dem Entgelt des Stammpersonals der gleichen Berufsgruppe. Dies sei ,in der Tat ein Problem', konstatierte Laumann.“ (SZ, 13./14.12)

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