Futurologie:

Gegenwartsbewältigung mit der Zukunft


Im Zuge der Amerikanisierung der Wissenschaft hat man auch bei uns „die Kunst der Fiktion“, die lange Zeit mit dem Ruch der Unseriosität behaftet war, in den Rang einer vom Staat anerkannten und geförderten Wissenschaft erhoben: die Futurologie, Obzwar ihre Vertreter sich immer noch gegen den Verdacht wehren müssen, in ihren „Denkfabriken“ nichts als „gutbezahlten Schwindel“ zu produzieren – so wurde erst kürzlich dem amerikanischen „Genie“-Futurologen H. Kahn in einem Playboy-Interview unter die Nase gerieben:

„Die Informationen, die sie von sich geben, sind umstritten. Es gibt Leute, die sie schlicht einen Scharlatan nennen“ –

sind sie sich dennoch ihrer Anerkennung an entscheidender Stelle gewiß:

„Die Männer, die wirklich Entscheidungen fällen müssen, nehmen uns sehr ernst.“ (Kahn im Playboy, 7/77)

Alle Angriffe, die sie als „Hexenmeister“ oder „Zukunftsdoktoren“ abqualifizieren und ihnen ihre Wissenschaftlichkeit absprechen, weisen sie souverän zurück, sehen sie doch darin nur ihr Urteil über die „Kurzsichtigkeit“ und „Dummheit“ der öffentlichen Meinung bestätigt, die aufzuklären sie sich berufen fühlen:

„Ich bin kein Prophet. Ich habe keine Visionen und keine göttlichen Eingebungen. Ich bin auch kein Eiferer. Ich bin Analytiker. Wir wollen die Menschen nicht mit geschlossenen Augen ins Unglück rennen lassen, sondern immer wieder Alternativen aufzeigen.“ (Kahn im Playboy, 7/77)


Prevoir sans savoir

Die offen ausgesprochene Absicht, zwar nicht dem Menschen, wohl aber seinen jeweiligen Repräsentanten Entscheidungshilfen an die Hand zu geben – nicht für dieses oder jenes Problem, sondern für ihr Regierungsgeschäft als solches – wird deshalb auch mit methodologischen Begründungen untermauert, die der Prophetie ihren bevorzugten Platz im Reich der Wissenschaft zuweisen. Das geht natürlich nicht ohne das ganze Arsenal der wissenschaftlich vorgetragenen Angriffe auf das Denken ab, dessen sich die bürgerliche Wissenschaft zur Rechtfertigung ihres Instrumentalismus bedient. Da wird das Dogma savoir pour prevoir auf den vulgärwissenschaftlichen Begriff gebracht –

„Es gibt viele Bestimmungen der Wissenschaft, aber eine ist unverkennbar und wesentlich: in der Bildung von Prognosen bestehen das Ziel und die Existenzberechtigung der Wissenschaft.“ (Ossip K. Flechtheim, Futurologie 1970, S. 121) –

und das savoir mit Lügen über den Charakter der Zukunft durchgestrichen:

„Nun ist die Zukunft aber dadurch definiert, daß sie alles umfaßt, worüber wir noch nicht verfügen können, und was deshalb auch nicht als Objekt bestimmt werden kann. Deshalb ist eine »objektive« Wissenschaft im bisherigen Sinn des Wortes von der Zukunft prinzipiell nicht möglich. Erkenntnis der Zukunft und »Objektivität« schließen sich wechselseitig aus.“ (Georg Picht, Mut zur Utopie, 1969, S. 12)

Die Umkehrung des Historikerfehlers, das, was ist, mit dem zu erklären, was nicht mehr ist, zur Beurteilung der Gegenwart aus der Sicht dessen, was noch nicht ist, führt mit dieser erklärten Absage an Objektivität auch nicht zum Zweifel an den eigenen Erkenntnissen, sondern zur umstandslosen Behauptung, der ins selbstgeschaffene Reich der Möglichkeiten schweifende Geist sei einzig wahre Erkenntnis:

„Wenn sich die Gegenwart so schnell von der Vergangenheit entfernt, daß wir aus der Vergangenheit das, was wir für die Gegenwart brauchen, nicht mehr lernen können, dann läßt sich nur aus einem Vorblick auf die zukünftigen Möglichkeiten erschließen, welchen Weg wir hier und heute einzuschlagen haben.“ (Picht, S. 18)


Interessierte Kassandrarufe vom Katheder

Mit dem Gejammer über die Schnelligkeit der Zeitläufte, die „jede heutige Erkenntnis morgen schon sinnlos erscheinen läßt“, nehmen die Vertreter geistigen Spekulantentums Abschied vom gängigen Verherrlichen der Gegenwart und widmen sich ihr in Form der Sorge um die „Überlebenschancen des Experiments Menschheit“. Unbekümmert um die Ursachen all der „grimmigen Tatsachen“, durch die sie das „Kollektiv Menschheit“ für bedroht erklären, predigen sie die Moral der Verantwortung aller für die Zukunft der Gegenwart –

„Die Menschheit wird durch den Prozeß der wissenschaftlichen Revolution in die Zwangslage versetzt, in einem qualitativen Sprung ihres Bewußtseins die Verantwortung für ihre zukünftigen Geschichte zu übernehmen.“ (Picht, Mut zur Utopie, S. 23) –

und warnen ihr imaginäres Menschheitspublikum mit Kassandrarufen vor einer Katastrophe, an die sie selbst nicht glauben. Seelenruhig und unbesorgt um ihre eigene »Überlebenschance« streichen sie ihre Gehälter dafür ein, daß sie als Vertreter von „Vernunft und Rationalität in dieser Welt“ deren „Wahnsinn“ anprangern und als Prediger in der Wüste der „ Vernunftwidrigkeit“ den alltäglichen Gang kapitalistischer Ausbeutung mit apokalyptischem Gezeter über seine schwindenden Zukunftsaussichten begleiten. Die lächerlichen „Es ist schon fast zu spät“-Beschwörungen –

„Die Möglichkeiten, die der Menschheit noch zur Verfügung stehen, einer gewaltigen Katastrophe zu entgehen, werden ständig geringer, Verzögerungen bei der Wahrnehmung der noch verbleibenden Entscheidungsmöglichkeiten haben im wahrsten Sinne des Wortes tödliche Folgen.“ (Institut für Wirtschaftsforschung: Neue Modelle für die Zukunft der Menschheit, 1975, S. 8) –

und die heuchlerischen Menetekel eines frühzeitigen Weltuntergangs –

„Es ist zwar möglich, aber unwahrscheinlich, daß die Vernichtung des größeren Teils der Menschheit und alle bisherigen Formen der Kultur verhütet werden kann.“ (Picht, S. 144) –

bedienen sich der Not, des Elends, der Zerstörung von Menschenleben und natürlichen Reichtumsquellen, kurz all der Mittel, durch die sich der Kapitalismus weltweit erhält, als Material für die immer neue Vorführung eines einzigen Gedankens: Diese Folgen des segensreichen Wirkens des Kapitals dürfen nicht zum Hindernis für den Fortgang der weltweiten Geschäfte werden. Und diese Vorführungen liefern, ohne daß man erst groß danach suchen müßte, das Belegmaterial für den einen einzigen Grundgedanken der Kritik an dieser Wissenschaft: Wer angesichts der Zustände in der Welt beständig an die Möglichkeiten und Gefahren für die Zukunft denkt, der sorgt sich um den Bestand des Heute; wenn er der Gegenwart den Vorwurf macht, sie habe so gut wie keine Zukunft mehr, dann predigt er das Ideal einer Gegenwart ohne Störungen, also die Rücksichtslosigkeit gegen die selbstgeschaffenen Störfaktoren; und wenn er den Blick auf „die Menschheit“ richtet, dann äußert er das Staatsinteresse am reibungslosen Erhalt seiner jetzigen Grundlage umstandslos und ungetrübt von allen Einzelbemühungen um die Bewältigung der Alltagsprobleme kapitalistischer Staaten, also ungetrübt von den Beiträgen der Einzelwissenschaften zum Fortgang der Staatsgeschäfte:


Wenn die Berge kreißen

Diese Rücksichtslosigkeit des Standpunkts, der sich von seiner Bewährung an den aktuellen Gegebenheiten freigemacht hat, wird von den Futurologen zu einer eigenen Wissenschaft ausgestaltet, die sich deswegen noch rühmt, in ihren Zukunftsüberlegungen nicht, wie die bornierten Science-ficion-Schriftsteller „nur ein Zukunftsbild von Entwicklungen“ zu entwerfen, „die heute schon zu beobachten sind“. (Kahn). Sie treten polemisch gegen die Einzelwissenschaften auf, deren Skepsis gegenüber der „Integrität“ ihres futurologischen Denkens ihnen nur Beweis für die Halbherzigkeit dieser Spezialdisziplinen ist, für

„das Unvermögen von wissenschaftlich-hochtrainierten Fachleuten, über den Zaun des eigenen Fachgebiets hinwegschauen zu können.“ (Kahn).

Sie selbst dagegen treiben sich munter in Nachbars Gärten herum, schauen über alle Zäune und machen den Fachidioten vor, was z.B. ein Zwei-Zentner-Mann mit einem IQ von 200 (50 über der Geniegrenze) aus ihren Spezialprognosen alles machen kann, wenn er sie als Material für die Erstellung von Gesamtprognosen möglicher Entwicklungstrends verwendet. Schließlich gilt es nicht neue Ergebnisse zu fördern, sondern den vorhandenen eine neue Dimension zu verleihen:

„Mit der immer größeren, praktischen und theoretischen Verbreitung der Zukunftsforschung wird wahrscheinlich immer deutlicher, daß die Zukunftsforschung nicht eine Wissenschaft sein kann oder darf, sondern sich als eine neue Dimension verschiedener Wissenschaften entwickeln muß ...“ (A. Sörensen, in: Ansichten einer zukünftigen Futurologie, 1973, S.43)

Insofern Futurologen ihr Interesse an der Fortexistenz der Gesellschaft auf der Basis der Einzelwissenschaften als reine Spekulation hervorbringen, haben sie der wegen ihrer „Spezialisierung“ und ihres „Fachidiotentums“ vielgeschmähten Wissenschaft doch zu dem ihr eigentümlichen Universalismus verholfen.

Sie ergänzen den praktischen Beitrag der „Fachidioten“ zum Fortgang der Gesellschaft um die Unterordnung dieser Beiträge unter den rein betätigten Standpunkt, dem sie verpflichtet sind. Wo also die Einzelwissenschaften ihr Interesse an den existierenden Problemen betätigt, da erheben sich Futurologen über diese niederen Sphären des Wissenschaftsalltags, nutzen die interessierten Ergebnisse der Einzelwissenschaften zu parasitär-eklektischen Anleihen, korrelieren sie schöpferisch zu neuen quantitativen Beziehungen, womit zwar nicht der „Zusammenhang der Welt“, wohl aber eben ein „universalistisches Modell“ von ihr entstanden ist, nach dem die Futurologen sie nun „kreißen“ lassen können:

„Partiunt montes ... Es kreißten die Berge! Eine Schar von Wissenschaftlern erstellte in mehr als dreijähriger Arbeit ein Computer-Weltmodell, genauer gesagt: ein »regionalisiertes, hierarchisches Mehrebenen-Modell des Weltsystems« mit etwa 100 000 Gleichungen. Dieses Modell soll als Grundlage für langfristige Planungen und Entscheidungen dienen, mit denen die Menschheit, »fünf Minuten vor zwölf« von ihrem derzeitigen selbstzerstörerischen Kurs in ein »organisches Wachstum« übergeleitet werden soll.“ (IFO-Bericht, S. 1)


Radikale Globalperspektiven

Wenn Futurologen sich für die Beseitigung der Hindernisse imperialistischen Wirkens stark machen, dann besteht ihre eigentliche wissenschaftliche Leistung also darin, die Gewalt des Staates theoretisch zu vervollkommnen: Sie denken sich mögliche Entwicklungen der Probleme aus, die kapitalistische Staaten so quälen und geben mit der Originalität ihrer spekulativen Vernunft Bedingungen und Möglichkeiten an, wie sie mit einer Staatsgewalten bewältigen wären, die alle Rücksicht auf die Unvernunft des Gegebenen ablegt. Sie unterscheiden sich also in ihrem vulgärwissenschaftlichen Vorgehen durchaus nicht von ihren spezialisierten Kollegen. Nur daß wegen ihrer „radikalen Globalperspektive“ die Dummheit und damit Brutalität der geistigen Staatsdienerschaft handgreiflicher ist; denn der Schein von Begründungen ist ganz der „Extrapolation“ erwünschter und unerwünschter „möglicher Zukunftstrends“ und den originell erdachten, von jedem Schein der Objektivität befreiten Vorschlägen zu ihrer Verhinderung oder Beförderung gewichen. Da werden die Gegenstände der Staatssorge in Variablen verwandelt –

„Für jede Variable, z.B. Bevölkerung, Ernährung, Rohstoffverbrauch, bes. Energiebedarf, wird zunächst ein »Standard-Szenario« konstruiert, das die künftige Entwicklung bei Fortdauer des derzeitigen Trends zeigt...“ (IFO-Bericht, S. 5) –

und mit der mathematisch vorgeführten Spekulation, was geschehen würde, wenn die Trends anhielten, die Basis für die Folgespekulation geschaffen, wie sich Änderungen auswirken könnten. Zur Originalität der prognostischen Wenn-Dann-Beziehungen, die der Welt angehängt werden, gehört der – gegen Angriffe als Vorzug des freien, sich nicht dem Trott des Gegebenen beugenden Denkens gepriesene – Pluralismus, den genialische Köpfe wie Kahn ganz nach Auftraggeber und Konjunkturlage um neue Varianten bereichern. Er prognostizierte der japanischen Regierung auf lukrative Anfrage hin ihre steigende Überlegenheit, er sagte den Franzosen („Die deutsche Regierung gehört nicht zu unseren Auftraggebern.“) bis 1985 die europäische Vormachtstellung voraus (die Prognose scheiterte laut Kahn leider an der mangelnden Berücksichtigung der Wechselkurse, die die Kaufkraft der DM um 20 % über-, die des Franc um 10 % unterbewerten, weswegen die Prognose auch nicht einfach als falsch abzutun ist). Kahn vollzog nach dem Ende des Vietnamkriegs, wo er erklärtermaßen Hoffnung als Mittel der Aufschwungförderung erzeugen wollte (man sieht, der Übergang vom futurologischen Massenprediger zum Wirtschaftspsychologen ist nicht weit), die Kahnsche Wende vom drohenden Atomtodschreckbild zum Paradiesversprechen eines Wohlstands für alle in 200 Jahren („Ihr werdet es erleben“). Daneben konkurrieren bei ihm eine Anzahl „möglicher Zukünfte“, nämlich „eher integrierte Weltformen“ mit seinen „Entwürfen für eher desintegrierte Weltformen“, wobei es in der möglichen „desintegrierten Welt“ wiederum einige Alternativen gibt:

„1. Szenarium: Zusammenbruch der Nato; 3. Szenarium: eine politische Offensive der Sowjetunion in Europa aber auch 4. Szenarium: ein linksgerichtetes vereintes Europa“.

Futurologen gilt diese Vielfalt der Möglichkeiten natürlich als Bestätigung für die Fortsetzungswürdigkeit ihres Gewerbes:

„Ja, es kreißten die Berge? Aber gilt auch der zweite Teil des Zitats: »nascitur ridiculus mus?« Diese Frage muß entschieden verneint werden. Nicht eine Maus wurde geboren, schon gar nicht eine »lächerliche Maus« sondern – um im Tiervergleich zu bleiben – vielleicht ein Elefant oder eine Horde von Elefanten, die möglicherweise (!) Berge bewegen könnte.“ (IFO- Bericht,, S. 2)


7 mögliche Zukünfte ...

Und wie diese „Horde von Elefanten“ mit ihren „Modell-Prototypen der Welt“ „die Menschheit als Ganzes“ bewegen will, darüber geben die „sieben möglichen Zukünfte“ des Gregor Foley Auskunft:

„1. Setzt die Menschheit ihren gegenwärtigen Trend fort, so sind wachsende Industrialisierung, Umweltverschmutzung und Überbevölkerung die unausbleibliche Folge. Sie gipfeln um das Jahr 2030 in einem bedrohlichen Mangel an Rohmaterialien und Nahrungsstoffen. Im Jahre 2100 wird dementsprechend die Bevölkerungszahl auf die Ebene von 1980 gesunken sein und der Lebensstandard auf die Ebene von 1900.

2. Reduzierte die Menschheit sofort ihren Rohstoffverbrauch um 75 % und ersetzte ihn durch Kunst- und Ersatzstoffe, so wäre das Resultat noch schlimmer: Zwischen 2030 und 2050 würden wir eine Umweltkatastrophe von ungeahntem Ausmaß erleben, mit Seuchen und Hungersnot im Gefolge, die bis zum Jahre 2070 fünf Sechstel der Menschheit ausrotten und die Bevölkerungszahl auf weniger als die des Jahres 1900 reduzieren würde.

3. Würde die Menschheit ihre Kapitalakkumulation um 20 % erhöhen – um eines höheren Lebensstandards willen –, so würde sie dadurch die Krise beschleunigen – Absinken der Bevölkerung im Jahre 2030 und eine Umweltkatastrophe um 2040

4. Würde die Menschheit die normale Geburtenrate um 50 % senken, so hätte sie bis zum Jahre 2000 einen höheren Lebensstandard zu erwarten, darauf einen Bevölkerungsanstieg und als Folge wiederum eine Umweltkatastrophe im Jahre 2040.

5. Kombinierte die Menschheit eine 20 % höhere Kapitalinvestition mit 75 % Reduktion des Rohstoffverbrauchs, so würde auch dies zu einem noch schnelleren und verheerenden Bevölkerungszusammenbruch im Jahre 2020 führen.

6. Gelänge es der Menschheit, die Umweltverschmutzung um 50 % zu reduzieren, gäbe es zuerst einen industriellen Boom und einen 25 %igen Bevölkerungsanstieg, dann aber wiederum den Zusammenbruch um 2040, – unsere vorläufige »technische« Lösung würde nur garantieren, daß letztlich mehr Menschen leiden müßten.

7. Die einzige Lösung des Pessimistischen Computers: 40 % Senkung der Kapitalinvestition, 50 %ige Senkung der Geburtenrate, 75 % Senkung der Nahrungsmittelproduktion. Allein dann wäre es möglich: Die Bevölkerung würde ein wenig zurückgehen auf den Stand von 1970, der Lebensstandard allmählich um 33 % abnehmen, das Gleichgewicht aber für die nächsten 200 Jahre nicht stören.
(W.D. Marsch, in: Ansichten einer zukünftigen Futurologie, S. 211 f.)


... für die Notwendigkeit des Kapitals

Was hier im Gewande statistischer Unumstößlichkeit auftritt, ist alles andere als Gesetzmässigkeit. Es ist der schlüssig vorgeführte Beweis, daß die von den Futurologen konstruierten Alternativen nur dazu dienen, die apodiktische Forderung aufzustellen, daß die mit der Akkumulation des Kapitals gegebenen lästigen Begleiterscheinungen so gelöst werden müssen, daß sie dem Ideal eines gleichgewichtigen Wachstums entsprechen. Und was zur Erreichung dieses Ideals ansteht, geben sie auf die Prozentzahl genau an: die überschüssige Bevölkerung hat sich totzuhungern und für den verbleibenden Rest muß der Konsumverzicht auf die Tagesordnung gesetzt werden. Der Schein der Möglichkeiten löst sich so noch allemal auf in die brutale Forderung nach Durchsetzung der Notwendigkeiten einer kontinuierlichen Entwicklung des Kapitals, und der Pluralismus besteht in nichts weiter als in Variationen dieser Forderung.

So endet auch der scheinbar verzweifelte Stoßseufzer des Club of Rome über den drohenden Weltuntergang –

„Es muß betont werden, daß die Möglichkeiten Stabilität zu erreichen, immer geringer werden, solange das exponentielle Wachstum anhält.“ (IFO-Bericht, S. 4) –

in der Ausmalung eines Zustandes, wo das freie Spiel der Wirtschaftskräfte durch rücksichtslose Eingriffe des Staates in die richtigen Bahnen gelenkt wird, wobei man dieser Forderung durch die futurologischen Visionen A. Toynbees, den der Club als „prominente Stimme von außerhalb“ zitiert, die Weihen eines universalhistorischen Urteils verleiht:

„In den sogenannten entwickelten Gebieten – Europa, Nordamerika, Sowjetunion und Japan – hört das Wachstum demnächst auf. Mehr noch, es wird ins Gegenteil umschlagen. In den kommenden anhaltenden Rezessionen werden sich die genannten Länder in einem permanenten Belagerungszustand befinden, wobei die materiellen Lebensbedingungen mindestens so dürftig sein werden wie während der beiden Weltkriege ... In jedem der entwickelten Länder wird ein erbitterter Kampf um die Herrschaft über die verringerten Ressourcen ausbrechen ... Hungersnot und Epidemien werden die Folge sein ... Infolgedessen wird sich in den entwickelten Ländern ein rücksichtslos autoritäres Regime, eine neue, streng geregelte Lebensweise durchsetzen müssen.“ (IFO-Bericht, S.7)

„Aber“, so schließt Toynbee tröstlich seine Prognose,

„Eine Gesellschaft, die sich in materiellem Niedergang befindet, kann geistig wachsen, und so könnte der Verlust unseres Wohlstandes zum Glück im Unglück werden, wenn wir uns ihm gewachsen zeigen.“ (IFO-Bericht, S. 7)

Die Ausmalung der kommenden Katastrophe kann gar nicht gewaltig genug sein, um den Menschen eindringlich einzuschärfen, daß, wenn mit dem Wachstum etwas nicht stimmt, dies noch lange nicht mit dem Wachstum, sondern mit ihrer „Konsumethik“ zusammenhängt, die mit „der kommenden Zeit des Mangels an Rohstoffen“ unverträglich ist. Ein politischer Zustand ist herbeizuführen, wo die Leute ihre Erwartungen an das Wachstum aufgeben, denn mit den Auswirkungen der „Gesetze des Wachstums“ rechnen Zukunftsforscher wie mit einem Naturgesetz, dem die „unvernünftige Moral“ der ,,Wirtschaftssubjekte“ „blind“ gegenübersteht, weshalb ihnen die Folgen einer solchen „Sorglosigkeit“ genüßlich vor Augen geführt werden müssen, um sie von der praktischen Notwendigkeit einer „neuen Moral“ zu überzeugen:

„Wenn der Mensch als humanes Leben überleben (!) soll muß er heute (!) bereit sein, auf Vorteile zugunsten zukünftiger Generationen zu verzichten.“ (IFO, S, 12)

 

„Das Portrait des ideal-typischen Futurologen“:

„Es ist ein Mann, von dem erwartet wird, daß er ein Spezialfach gründlich studiert hat, aber auch interdisziplinär arbeitet. Der Futurologe soll sich sowohl speziell wie vielseitig informieren und regelmäßig publizieren. Vermutlich Dozent, soll er forschen und lehren, sich in der Hochschulpolitik engagieren, aber auch als Gutachter für Entscheidungsgremien zur Verfügung stehen. Dieser Mann soll Humanist sein und sich möglichst progressiv als politischer Taktiker und Stratege bewähren. Die Öffentlichkeit soll er aufklären über Gefahren und Chancen der Zukunft. Nach allem ist unser Futurologe ein Mann, der unter den Lasten seiner Verantwortung fast zusammenbricht. Nach Mitternacht übrigens gesteht er einem vielleicht, daß er eigentlich habe Künstler werden wollen. Aber selbst zum Nachdenken über die Grundlagen seines selbstgewählten neuen Fachs fehle ihm die Zeit. Es ist der Typ des akademischen Multi-Managers: der selbstentfremdete Futurologe.“

(R. Lenz, in: Ansichten, S. 137)

 


Der Mensch: Eine Gefährdung seiner Zukunft ...

Der sich aufklärerisch gerierende Veränderungswille der Zukunftsforscher zielt dann auch nur auf eine Veränderung, die das System militant durchzusetzen hat: den Menschen hat man so zu verändern, daß er als neuer „homo humanus“ die „Unvernunft seiner Gesellschaft“ aushält und für sich selbst alle anderen „möglichen Alternativen“ ausschließt und sich mit den Möglichkeiten des Heute bescheidet.

Und der erlogene Determinismus der technischen Entwicklung, der die Menschheit ausgeliefert ist, bildet die Grundlage für die immer neue Ermahnung, sich auf das, was unausweichlich ist, einzustellen, wobei die Futurologen mit dem Ideal einer rationalen technischen Planung der Zukunft dem Staat allerlei Denkanstöße geben wollen, wie er diese Grundvoraussetzung des Weitermachens erzwingen kann. Damit die Ordnung nicht an den unvernünftigen Ansprüchen der Subjekte scheitert, liebäugeln sie mit der politischen Alternative des Faschismus, die in jedem Fall dafür sorgen würde, daß die ,,tödlichen Folgen der Entwicklung“ jedenfalls nicht auf Kosten der staatlichen Ordnung gehen würden, und die sich rücksichtslos darum kümmern würde, daß die Leute ,,geistig wachsen“.

So feiern denn im Gewände der humanen Vernunft, die sich dem „Wahnsinn“ der Gegebenheiten nicht beugt, die ältesten Hüte kapitalistischer Apologetik fröhliche Auferstehung; angesichts der futurologischen Klagen über das Bevölkerungswachstum würde der Pfaffe Malthus, dem Marx nachwies, daß sein Gejammer über ein Zuviel an Menschen die Sorge vor einem Zuviel an nutzlosem Ausbeutungsmaterial fürs Kapital ist, vor Neid erblassen, weil er sich nicht hätte träumen lassen, wie mannigfaltig sich die Forderung nach einer funktionalen billigen Reservearmee und der dazugehörigen ehrlichen Moral der „labouring poor“ ausgestalten läßt, wenn man die Verfabelung der Armut in ein Problem der natürlichen Knappheit der Ressourcen heutigem wissenschaftlichen Standard gemäß immer neu zu Ende denkt. Wo der noch vergleichsweise biedere Malthus die angeblich naturwüchsig disproportionale Wachstumsprogression von Natur- und Menschenmaterial beschaubilderte, reicht heute der Hinweis auf Gewicht und Größe der unnützen Erdenwürmer:

„Nach der Jahrtausendwende rund acht Milliarden Menschen auf der Erde – was bedeutet das? Eine Zahlenspielerei macht es deutlich. Geht man von einem Durchschnittsgewicht von 40 kg aus, so ergäben sich 320 Millionen Tonnen menschlicher Leiber auf diesem geplagten Planeten. Könnte sich einer dem anderen auf den Kopf stellen, und rechneten wir mit einer Durchschnittslänge von einem Meter, so würde die Menschenkette rund zwanzigmal von der Erde zum Mond reichen.“ (T. Löbsack, Menscheninflation, AZ)


... der es Einhalt zu gebieten gilt

Am liebsten würde man als anständiger Futurologe die Überzähligen gleich auf letzteren schießen, damit sich

„unser Heimatplanet von den Wunden, die ihm die Menschen durch die industrielle Zivilisation zugefügt haben, wieder erholen kann. Eines Tages kann die Erde dann zu einem schönen Ferienort für die Kolonisten aus dem All werden.“ (Physikprofessor O'Neill nach Stern 41/77)

Die meisten nehmen freilich bei ihren Wunschvorstellungen mehr Rücksicht auf die tatsächlichen Potenzen der irdischen Staatsgewalten. Ihnen würde es schon reichen, wenn man der „Menscheninflation“ dadurch Einhalt gebieten könnte, daß man eben ihre wertlosen Bestandteile (nicht jeder „Überzählige“ ist eine Belastung des Wachstums statt eine Quelle seiner Vermehrung!) beseitigt, obwohl dies natürlich, schon wegen der „Langwierigkeit“ des Prozesses, längst nicht so besticht, wie die technisch elegante Lösung:

„Selbst wenn dort (in den Entwicklungsländern) durch eine rigorose Bevölkerungspolitik ab sofort die Fruchtbarkeitsrate auf das »Ersatz-Niveau« beschränkt werden könnte, so würde die Bevölkerung noch bis weit ins nächste Jahrhundert hinein weiterwachsen, bis die Altersstruktur sich stabilisiert hat.“ (IFO, S. 23)

Weil die Bevölkerung in den Entwicklungsländern ihr Leben und Sterben nicht an den Erfordernissen des Gleichgewichts orientiert, sondern unverschämterweise die Erfolge der Medizin und Hygiene auch noch ausnutzt, die Erde mit einer „wahren Springflut“ an nutzlosen Geburten zu überschwemmen –

„Die Ursachen für den steten Bevölkerungszuwachs sind bekannt. Es ist der Rückgang der Todesrate dank medizinischer Fortschritte bis hin zur Verlängerung des Sterbens an der künstlichen Lunge (ein Sterbeaufschub, der bekanntlich besonders bei verhungernden Negern und Indios zur Korrektur der Statistik bevorzugt wird!) und es ist das ständig erhöhte Durchschnittsalter.“ (Löbsack, Menscheninflation, AZ) –,

müssen die entwickelten Länder mit all ihrer zivilisierten Überlegenheit dafür sorgen, daß das Bevölkerungswachstum keine „astronomischen Zahlen“ annimmt, denn sonst – so prophezeien Futurologen – wachsen nicht nur die Gelder, die sich die Zivilisierten die Ausbeutung dieser Länder kosten lassen müssen, ins Astronomische, sondern – und das ist weit schlimmer – wächst die Gefahr, daß „die hungernden Millionen zum Bürgerkrieg geradezu gezwungen werden“, was sich auf die Vormachtstellung der entwickelten Länder auswirken würde. Futurologen, mit der ihnen eigenen Radikalität, veranschaulichen das so:

„Es ist – um vorsichtig zu sprechen – eine offene Frage, ob das labile politische und militärische Gleichgewicht unserer gegenwärtigen internationalen Ordnung einen Weltbürgerkrieg überstehen könnte.“ (Picht, S. 52)


Imperialismus gegen engstirnigen Nationalismus

Der Drohung mit dem möglichen „Weltkollaps“ folgt denn auch die eindringliche Aufforderung an die „westlichen Staaten“, im Gebrauch ihrer Macht nicht zimperlich zu sein, wenn sie sie erhalten wollen. Weil die internationalen Beziehungen heute so „verflochten“ sind, daß noch jede Veränderung irgendwo auf der Welt sich negativ auf die Stabilität der westlichen Ordnung auswirken kann

„Heute und in Zukunft können wir ... die Welt nicht mehr als eine Ansammlung von mehr als 150 Nationen und eine Reihe von politischen und Wirtschafts-Blöcken sehen. Sie ist ein aus untereinander abhängigen und sich gegenseitig beeinflussenden Nationen und Regionen bestehendes System geworden, in dem keiner von den Auswirkungen eines größeren Ereignisses oder einer weitreichenden Aktion an irgendeinem Punkt der Erde verschont bleibt.“ (IFO, S. 5) (vgl. die Gerald Fordsche Rühreitheorie, derzufolge wir alle zusammen in eine Pfanne gehauen sind, und niemand mehr wissen kann, von wem welches Ei ist!) –

haben die westlichen Staaten dafür zu sorgen, daß sich die Abhängigkeit nicht zu ihren Ungunsten verändert, bzw. nach Möglichkeiten Ausschau zu halten sie für sich effektiver zu gestalten. Am besten wäre es, wenn man die „Klüfte“ zwischen den Staaten gleich so schliessen würde, daß man sich als „Weltsystem“ die „schwächeren Staaten“ einverleibt, denn daß deren

„engstirniger Nationalismus stets in eine Sackgasse führt, muß ein für allemal und quasi als Gesetz anerkannt werden.“ (IFO, S. 11)

Das Ideal des „ Weltbürgertums“, das Futurologen für sich reklamieren, erweist sich hier als die moralische Waffe, mit der sie für den skrupellosen Zugriff des Imperialismus kämpfen. Als wissenschaftliche Perry Rhodans denken sie dabei zwar nicht an die phantastischen Möglichkeiten einer Herrschaft über das ganze Weltall, wohl aber an die ungehinderte Herrschaft des Imperialismus über die Erde. Zur Verwirklichung dieser Fiktion bedarf es jedoch der Ausbildung ,,eines neuen globalen ethischen Bewußtseins als dessen Wegbereiter sich die Futurologen verstehen, wenn sie die Opfer des Imperialismus davon überzeugen wollen, daß alle Widerstände gegen eine „Neustrukturierung des Weltsystems“, also gegen eine bedingungslose Öffnung für den Imperialismus, nationale Sentimentalitäten sind, die man sich als „Weltbürger“ nicht zu leisten hat.

„Einige Vertreter von Entwicklungsländern wehrten sich (auf der Berliner Tagung des Club of Rome) – fast mit Tränen in den Augen – gegen den Gedanken, einen Teil ihrer neuen, schwer erworbenen Souveränität zugunsten eines diffusen Weltsystems aufgeben zu sollen. ...“ (IFO, S. 13)


Verhaltene Aggressivität gegen Osten

Vom Versuch einer radikal vernünftigen Bereinigung der Ausbeutungsschwierigkeiten, die sich die kapitalistischen Staatenwelt selbst schafft, kommen die Zukunftsforscher allerdings bald zurück auf die tatsächlich existierenden Ausbeutungsbedingungen des Imperialismus und stoßen auf die „ideologischen Gegensätze zwischen den Systemen“ als einem Hindernis für die Verwirklichung eines einheitlichen Weltsystems.

„Die Antagonismen zwischen der kommunistischen und der freien Welt, die Widersprüche und Interessengegensätze innerhalb dieser beiden Blöcke, die Nationalismen, Fanatismen, Rassismen, sind sehr viel schwerer zu korrigieren als etwa ein Energiedefizit.“ (IFO, S. 16)

Hier scheint jede zukünftige Korrektur also von vornherein illusorisch, es sei denn, man nähme einen Krieg in Kauf, mit dem man die Kommunisten dem Funktionieren des „Weltplans“ unterwerfen würde, dafür rechnen Zukunftsforscher aber zu geringe Erfolgschancen aus:

„Es war schon 1939 ein Wahnsinn zu glauben, daß es sich lohnen würde, zum Zweck der Eroberung von Danzig und dem polnischen Korridor einen Weltkrieg zu entfesseln. Aber immerhin konnte man sich noch eine Chance ausrechnen. Inzwischen hat die Waffenentwicklung einen Zustand herbeigeführt, in dem niemand mehr der Illusion verfallen kann, daß ein Angriffskrieg sich auszahlen würde. Zum Angriff ist die militärische Macht nicht mehr zu gebrauchen.“ (Picht, S. 43)

Da ist es schon opportuner, wenn der Imperialismus auch in Zukunft verhalten aggressiv gegenüber dem Ostblock auftritt, um diesem Vorteile abzutrotzen:

„Ist aber ein Militärsystem weder für den Angriff noch für die Verteidigung mehr zu gebrauchen, so bleibt nur noch der Zweck, dem die großen Militärbündnisse heute faktisch dienen: der Zweck der politischen Erpressung.“ (Picht, S. 43)

Am besten wirken also die militärischen Mittel, wenn sie Erfolg haben, ohne daß man sie einsetzen muß. Dazu gehört natürlich der Wille, sie erfolgversprechend anzuwenden, weshalb Futurologen auch solche „verantwortungslosen Politiker“ tadeln, die Kernreaktoren an Entwicklungsländer geliefert und ihnen damit die Erpressungsmittel des Westens zur Verfügung gestellt haben.

„Wenn die Entwicklungshilfe echt dazu dienen soll, den hungernden Milliarden einen Weg aus ihrer Armut hinaus zu bahnen, dann müssen die industrialisierten Regionen ihrer eigenen weiteren Überentwicklung Einhalt gebieten. Wenn man diese Lektion nicht beizeiten lernt, dann wird es bald für jeden heutigen Terroristen tausend neue geben, und schließlich werden dann Erpressung und Terror mit »simplen«, im »Eigenbau« gefertigten Atombomben überall jedes normale Leben lähmen können. Noch ist es Zeit... In zehn oder zwanzig Jahren aber wird es vermutlich zu spät sein. Dann wären selbst hundert Kissingers, die ständig für Friedensmissionen unterwegs sind, zu wenig, um die Welt vor einem Sturz in den Abgrund zu nuklearer Selbstvernichtung zu bewahren.“ (XFO-Bericht, S. 39)


Die Atombombe und die Krise des Kapitalismus

Und was fällt denjenigen, bei denen die Morgenröte einer schon begonnenen besseren Zukunft tagtäglich die Plackerei für den Staat vergoldet, angesichts dieses in Atomtodvisionen gekleideten Votums für nützliche, d.h. von den imperialistischen Führungsnationen monopolisierte Atombomben ein?

„Aus solchen Feststellungen ist zu ersehen, wie weit bürgerliche Ideologen angesichts des veränderten internationalen Kräfteverhältnisses in den letzten Jahren in ihren Ansprüchen und Zielsetzungen zurückweichen mußten. Die Propaganda um die »Vorzüge« der amerikanischen Lebensweise, der militärischen und ökonomischen Stärke des US-Imperialismus, die typisch für die fünfziger und teilweise auch sechziger Jahre war, erhält zunehmend pessimistische Züge und reflektiert in vielfältiger Weise die Erscheinungsformen der allgemeinen Krise des Kapitalismus.“ (Alfred Bönisch über Herman Kahn „Angriff auf die Zukunft“ in: Wirtschaftswissenschaft, 7/1973, Berlin [DDE])


Kritische Gegenmodelle ...

Ihr bürgerliches Pendant finden diese Anhänger der prognostischen Kraft des Marxismus, die sie in ihrer Variante von Zukunftsforschung, der Vorhersage eines unausweichlichen Trends zum Sieg des Sozialismus, betätigen, hierzulande in der Zunft der „kritischen“ Zukunftsforscher, die im Unterschied zu ihren Revi-Zunftbrüdern von drüben und „systemkonformen“ Zunftbrüdern von hüben dem Kapitalismus noch viel mehr Möglichkeiten seiner „Fortexistenz“ bei ein bißchen mehr Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse seiner Bürger andichten, und deswegen ihre Hauptaufgabe darin sehen, die Zukunft von den Zugriffen der „Apologeten des Establishments“ zu „befreien“, die sie insbesondere bei den Vertretern des Club of Rome am Werk sehen. Ausgerechnet da, wo der Club of Rome mit seiner „Katastrophenprophetie“ erklärt, was er in Zukunft für notwendig hält, nämlich die planmäßige Beförderung eines Kapitalwachstums auf der Basis des Konsumverzichts der Bevölkerung, werfen ihm die Linken Verbreitung von „Angst und Resignation“ gegenüber einer „rationalen Gestaltung der Zukunft“ vor, und gehen daran, „Gegenmodelle“ zu entwickeln, die von der Hoffnung auf Möglichkeiten der Harmonie zwischen einem „angemessenen“ Kapitalwachstum und dem „angemessenen“ Wohlstand derer, die es schaffen, leben. Die konstruktiv-kritische Definition der futurologischen Aufgabe –

„Die Futurologie muß die fünf »challenges« die die Menschheit bedrohen, beantworten – sie muß ihren Beitrag leisten zur Eliminierung des Krieges und Institutionalisierung des Friedens, zur Beseitigung von Hunger und Elend und zur Stabilisierung der Bevölkerungszahl, zur Überwindung von Ausbeutung und Unterdrückung und zur Demokratisierung von Staat und Gesellschaft, zur Beendigung des Raubbaus und zum Schutz der Natur und der Menschen vor sich selber, zum Abbau von Entleerung und Entfremdung und zur Schaffung eines neuen kreativen Homo humanus.“ (Flechtheim, Futurologie, S. 9) –

gefällt natürlich unserer demokratischen Staatsgewerkschaft, weswegen sie in ihren Thesen zur Hochschulreform eine „verstärkte Förderung“ solcher Forschungen fordert,

„die dazu beitragen, eine humane Zukunft der Gesellschaft rational zu gestalten. Dazu gehören Bereiche der Sozialwissenschaft, insbesondere der Arbeitswissenschaft, der Arbeits- und Unfallmedizin, der Friedens- und Zukunftsforschung ...“ (DGB-Thesen zur Hochschulreform)

 

... zur Überwindung des social lag

Gewerkschaft und linke Futurologen sind sich einig im Ausgangspunkt, daß diese Gesellschaft (die sich munter fortentwickelt), die Möglichkeiten sich selbst zu erhalten noch gar nicht hergestellt hat, weswegen sie ihr vorwerfen, daß sie bestimmte Möglichkeiten, ihre Wachstumsprobleme zu lösen, einfach in ihrer „Struktur“ nicht vorgesehen hat:

„Der social und cultural lag manifestiert sich heute immer drastischer in der Fortexistenz des Machtstaates, einer Profit- oder Rüstungswirtschaft, einer die Bevölkerungsexplosion begünstigenden Kirche, einer den Menschen autoritär formenden Schule und Familie.“ (Flechtheim, in: Ansichten, S. 19)

Aus dem Willen der Politiker, alles beim alten zu lassen, den die Bürger teilen, machen die Linken die mangelnde Fähigkeit, eine schönere Zukunft zu erkennen und solche Erkenntnis die Massen zu lehren, und bringen damit das „Prinzip Hoffnung“ in diese Wissenschaft. Damit die Leute alternative Vorstellungen ausbilden können, hat die Gesellschaft getreu den Maximen des ersten Zukunftsforschers Marx die Possibilität ihrer strukturverändernden Revolutionen zu ergreifen und zu einer Mutation ihrer selbst hochzumendeln:

„Es wird vielleicht überraschend klingen, aber die Geschichte des modernen Zukunftserkennens setzt tatsächlich mit Karl Marx ein. ... Für Marx hat die Zukunft eine stochastische Struktur, indem diese ein Feld von möglichen Entwicklungslinien darstellt, von denen eine jede eine bedingte Wahrscheinlichkeit aufweist. Die Zukunft schließt in sich ferner die Possibilität von Mutationen ein, d.h. die Verwirklichung radikaler Veränderungen von grundlegenden Strukturen: Revolutionen.“ (P. Apostel (!!), in: Ansichten, S.46)

Schließlich hat sie doch durch ihre Geschichte Marx bei allem, was er der „Kunst der Vorausschau“ zu bieten scheint, als einen an seinem proletarischen Spleen gescheiterten Propheten entlarvt:

„Daß Marx die Zukunft so mißdeuten konnte, dürfte andeutungsweise wie folgt zu erklären sein:
1. Marx unterschätzt die »stillen Reserven« der »bürgerlichen Gesellschaft«.
2. Er überschätzt das revolutionäre Potential des Proletariers.
3. Er vernachlässigt die außereuropäischen und internationalen Entwicklungen.“
(Flechtheim, Futurologie, S. 53)

Dessen Erkenntnisse werden daher von diesen Futurologen weder über- noch unter-, sondern gar nicht geschätzt, deshalb auch nicht vernachlässigt, sondern abgelehnt, weil das „Fatale“ an der heutigen Situation gerade darin besteht, „daß wohl keine der großen Herausforderungen mehr isoliert beantwortet werden kann“.

„Die Institutionalisierung des Friedens setzt die Überwindung des überlieferten Machtstaates voraus. Die Beseitigung des Elends setzt die Eliminierung der Rüstungsausgaben, der Konsumverschwendung und der rapiden Bevölkerungszunahme voraus. Die Beendigung des Raubbaus und der Zerstörung der Natur setzt die Institutionalisierung einer Weltordnung frei von Rüstungswettlauf und Konsumverschwendung voraus. Die Demokratisierung von Staat und Gesellschaft setzt ein hohes Maß an Abrüstung und Frieden, die Stabilisierung der Bevölkerung und den Konsumverzicht zumindest der privilegierten Gruppen, vor allem aber auch die Demokratisierung der patriarchalischen Familie, Schule und Kirche sowie den Abbau der autoritären Charakterstruktur voraus. Die Schaffung eines neuen kreativen Menschen setzt eine friedliche, relativ stabile und demokratische Welt voraus, genauso wie umgekehrt eine solche Welt kaum von dem alten Adam geschaffen werden kann.“ (Flechtheim, in: Ansichten, S. 18 f.)


Zukunftswerkstätten für Adam

Ob dieses Zirkels muß man als Futurologe keineswegs zum Strick greifen, sondern weiter nach den „Bedingungen der Möglichkeit der Veränderung“ fragen und dem Menschen wieder die über der „Warentauschbeziehung“ (dies die bekannte linke Version der Erbsünde!) verlorengegangene Unschuld der Zukunftshoffnung beibringen. Er soll endlich teilnehmen an der zukunftsträchtigen Verschönerung seines Staatswesens und muß sich deshalb vorhalten lassen, ein alter („entfremdeter Adam zu sein, der einfach die Möglichkeit vergessen hat, seine „Zukunft selbst zu produzieren“. Doch lassen ihn die linken Propheten in seinem dumpfen Rückwärtsschauen und Sich-Treiben-Lassen nicht allein, sondern entwerfen Zukunftsvisionen für die allgemeine Produktion von Zukunftsvisionen,

„In verzweifelter Gegenwehr gegen Verdinglichung und Entfremdung“ planen sie „einen Fachbereich der Fachbereiche, ein Forscher-Parlament, eine kybernetische Katakombe, ein synkretisches Kloster, eine methodologische Verschwörung, eine postplatonische Hilfs-Akademie, ein Meta-Seminar,“ (R. Lenz, in: Ansichten, S. 144)

um „wissenschaftliche, künstlerische und soziale Phantasie konvergieren zu lassen, so daß mündige und handlungsfähige Subjektivität sich allererst konstituieren und objektivieren kann.“ (Ansichten, S. 142). Der Vater der linken Futurologie, Robert Jungk, schlägt die Bildung von „Zukunftswerkstätten“ vor, in denen er „Wissende wie Phantasiereiche zum Entwurf alternativer Lebensformen und Lebensläufe“ zusammenführen will, um ihre „soziale Phantasie“ zu mobilisieren für:

„1. Die Erfindung neuer gesellschaftlicher Institutionen. 2. Die Erfindung gewaltloser Methoden sozialer, politischer und ökonomischer Veränderungen. 3. Die Erfindung andersartiger Beschäftigung und Leistung. 4. Die Erfindung neuer Wert- und Zielsetzungen. 5. Die Schaffung einer kreativen Gesellschaft.“ (R. Jungk, in: Ansichten, S. 126)

In schöpferischer Imagination soll man sich hier also über die Zwänge der Gegenwart hinwegtrösten; denn die „Zukunftswerkstätten“ sind nicht dazu aufgerufen, etwas für eine bessere Zukunft zu tun, sondern diese zu simulieren, weswegen in ihnen auch nicht das „Prinzip der rationalen Logik“ herrschen, sondern die „prärationale Sphäre“ aktiviert werden soll, in der die „neue Gesellschaft“ bereits als „konkrete Utopie“ schlummert. Jungk entwirft nicht mehr eine bessere Zukunft, sondern die zukünftige Erleichterung des Jetzt durch die Institutionalisierung spontaner Zukunftsträumereien unter der Aufsicht von „Zukunftsräten“ (man sieht, die Futurologen träumen auch von ihrer Zukunft!), die dafür sorgen, „daß die Chance wirklich neuer origineller Einfälle sich vergrößert“ – also dafür, aus dem „brain-storming eine Methode zu machen –, und die verhindern, daß jemand auf den uralten unoriginellen Einfall verfällt, man könnte die Utopien realisieren, statt sie mit hoffnungsvollen Diskussionen über die Hindernisse ihrer Verwirklichung ins Unendliche konkretisieren. Nur so erspart man sich

„Resignation – ausgelöst durch die Erkenntnis, wie groß die Kluft zwischen Wunsch und Alltag sei – Um Rückfälle in vermeintlichen »Realismus« (!), in Frustration und Resignation bei den Mitarbeitern von »Zukunftswerkstätten« zu vermeiden, empfiehlt es sich, der Entwicklung von Vorschlägen stets ein exaktes und systematisches Studium der Hindernisse, die sich solchen alternativen Zukunftsvorstellungen entgegenstellen, anzuschließen. (R. Jungk, in: Ansichten, S. 133)

Der linksfuturologische Generalangriff auf die mangelnde Beteiligung der mit ihren täglichen Sorgen Befaßten an der schöpferischen Ausmalung ihres zukünftigen Gemeinwesens umschreibt in kritischen Farben ziemlich genau das, was die Futurologie in all ihren Varianten zum Fortschritt des Kapitalismus beizutragen hat. Denn die Spekulationen über Möglichkeiten der Zukunft und die phantastischen technischen Neuerungen, die Zukunftsforscher erfinden, helfen dem Staat wenig bei der Lösung aktueller Probleme. Nicht daß die heutigen Staatsmänner keinen Gefallen an solchen Neuerungen, wie „relativ wirksamen Methoden der Bekämpfung von Aufstandsbewegungen“ oder an „einem flexiblen Strafrecht ohne unbedingte Anwendung von Gefängnissen (mit modernen Methoden der Überwachung, der Steuerung und Kontrolle)“ finden könnten, deren „wahrscheinliche Realisation“ ihnen H. Kahn schon für „das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts“ verspricht, wo die Technik also das Geschäft der Gewaltausübung erheblich erleichtern könnte, aber diese Möglichkeiten entheben sie nicht ihrer aktuellen Sorge mit den Terroristen etc. Als Handlungsanweisung für die praktische Politik sind also die Hypothesen der Zukunftsforscher völlig unbrauchbar; was soll der Staat auch mit solchen Informationen anfangen wie der „zwar weniger wahrscheinlichen, dafür aber um so bedeutsameren Möglichkeit“, daß die Lebewesen in fernerer Zukunft „ihre Umwandlung von Säugetieren (Menschen?) zu Flüssigkeitsatmern vollziehen.“!


Science Fiction für die Zukunft der Gegenwart

Diese Versprechungen ungeahnter Möglichkeiten für zukunftsbewußte Staatsmänner ist nicht mehr als die Begleitmusik zu deren sehr gegenwartsbezogener und der heutigen, durchaus ausreichenden Möglichkeiten (technische Probleme plagen den Staat ja wirklich nicht) sich bedienender Staatsfürsorge für den Fortgang der Geschäfte, deren Reibungen und zerstörerische Potenzen die Politiker ohne große Zukunftssorgen durch die gegenwärtig lohnarbeitende Klasse ausbaden lassen. Das schöne Ideal einer rational bewältigten Zukunft denunziert sich als das Zerrbild der in jedem Politikerhirn geisternden Träumereien von einer Erleichterung ihres aufreibenden Wirkens durch bessere Techniken der Selbst- und Fremdkontrolle des staatstragenden Menschenmaterials, und dies um so mehr, je konkreter die wissenschaftlichen Zukunftsdeuter ihre Prognosen zu originell-abstrusen Tableaus technisch möglichen Zusammenlebens ausgestalten. Und je mehr diese – wie alles Fortschrittliche – aus dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten stammenden Denkvertreter ungeahnter Möglichkeiten die schon gemachten und noch nicht gemachten Ergebnisse der ja nicht gerade untätigen natur- und staatswissenschaftlichen Intelligenz zur scheinwissenschaftlichen Bebilderung zukünftiger Gegenwartsbewältigung ausschlachten, um so erfolgreicher sind sie auf dem Felde, wo sie zum Fortbestand der Gegenwart beitragen – auf dem der moralischen Erbauung. Was für den einfachen Mann Perry Rhodan, Mondbasis Alpha und Raumschiff Enterprise, das sind für Leute mit Anspruch die Phantastereien der habilitierten Dr. Spocks, die in Stern, Playboy und Spiegel schreiben und in den Bestsellerlisten Hits sind: Science fiction ohne Romanfiktion und mit dem Gestus wirklicher Möglichkeiten, die die Gegenwart voranbringen. Ob sie je nach Konjunkturlage und dazugehörigem Zeitgeist mit dem Weltuntergang drohen, wenn nicht bestimmte Möglichkeiten staatlicherseits ausgeschöpft werden, in die nähere Ferne des Atomverwaltungsstaats schweifen, oder optimistische Lügen über die ungeahnten Wohlstands- und Freizeitvergnügungen eines zukünftigen Goldenen Zeitalters verbreiten, der wissenschaftsbewußte und fortschrittsgläubige Staatsbürger kann sich die täglich breitgetretenen Sorgen seiner Nation, an denen ihn Politiker, Politologen, Soziologen, Wirtschaftsfachleute usw. per Öffentlichkeit teilnehmen lassen, einmal in einem anderen, erbaulich-erschreckenden Lichte vor Augen führen. Er läßt sich durch die Futurologen auf anspruchsvoll vergnügliche Weise die eigene Überzeugung bestätigen, daß staatlicherseits alle Anstrengungen unternommen werden müssen, die Zukunft der Gegenwart zu retten oder aber ohne Sorgen um die Zukunft so weiterzumachen wie bisher, was beides schließlich auf ein und dasselbe hinausläuft.

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„Savoir pour prévoir, prévoir pour pouvoir“ („Wissen, um vorherzusehen, vorherzusehen, um handeln zu können“) – Ausspruch Auguste Comtes

 

aus: MSZ 20 – Dezember 1977

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