Eine verteidigungspolitische Affäre:

Der Hamburger Waffenskandal

„Am 6. September starb der achtjährige Oliver Ludwig beim Hantieren mit Chemikalien vom Stoltzenberg-Grundstück. Seitdem hat die Hansestadt, was einhellig von links bis rechts der »Hamburger Giftskandal« geheißen wird.“

Als ginge es um einen größeren Posten Schwefelsäure oder Nitrolösung, der ungesichert im Siedlungsgebiet herumsteht, so wird – segensreiches Wirken der Abstraktion – die „Affäre“ um die „Chemiefirma“ Stoltzenberg unter das beliebte Thema »Chemikalien vergiften unsere Umwelt« eingereiht. Daß es sich um die Herstellung und Lagerung von Stoffen handelt, die nur für Krieg, Bürgerkrieg und insbesondere Gaskrieg taugen, wird dabei keineswegs verschwiegen, gilt aber nur als Beleg für die Schwere der „Umweltgefährdung“:

„Zyankali, Lost, Tabun – die Gefáhrlichkeit dieser Stoffe, die Bundeswehr und Polizei letzte Woche in Hamburg-Eidelstedt sicherstellten, wird nur noch von der Sorglosigkeit der Behörden übertroffen.“

Offenbar will niemand von der sorgfältig gepflegten Überzeugung lassen, daß es sich um „grob fahrlässiges“ Handeln staatlicher Behörden dreht. Dabei widerlegt schon der Augenschein das Märchen von der Fahrlässigkeit: Das unsachgemäß vergiftete Kind und die befürchtete Umweltwirkung dieses Materials belegen, für welchen sachgemäßen Gebrauch das Zeug vorgesehen ist.


Sorglosigkeit?

Während andere Firmen munter produzieren und verkaufen und staatliche Stellen, wie die Gewerbeaufsichtsämter, in größeren Abständen Kontrollen vornehmen, um die Verstöße gegen Auflagen und Gesetze auf das vom Staat tolerierte Durchschnittsmaß zu begrenzen (womit ,,Pannen“ garantiert sind), mischt der Staat bei der Firma Stoltzenberg ganz anders mit: Hier sind staatliche Institutionen überhaupt die einzigen Kunden für die ,,gefährlichen Stoffe“. Wer außer Bundeswehr, Grenzschutz und Polizei hat schon Bedarf an Lost, Tabun, Sarin, Tränengasgranaten und chemischen Keulen? Nichts einfacher daher, als eine Firma zu kontrollieren, die nur von Vater Staats Gnaden lebt: Natürlich hat man über Verwendung und Aufbewahrung jedes Gramms Gift Bescheid gewußt, da Art und Menge sowohl der angeforderten wie auch der zur Vernichtung zurückgegebenen Stoffe bestens bekannt waren.

In einer anderen Sparte, auf deren Produkte der Staat einen Monopolanspruch hat, der Geldproduktion, finden derartige „Sorglosigkeiten“ ja auch nicht statt: Der Staat wacht eifersüchtig über jedes Gramm Papier und Silber, und die Münzanstalten und Gelddruckereien sind die am dicksten gepanzerten Produktionsstätten der Nation.


Geplante Luderwirtschaft

Aber schließlich handelt es sich nicht um Geld, sondern um Giftgas, und das ist nicht nur ein stofflicher Unterschied, sondern erfordert die penible Instruktion von „Geheimnisträgern“ in allen irgendwie zuständigen Behörden und öffentlichen Einrichtungen, sowie die sorgfältige Geheimhaltung vor der Öffentlichkeit. Während zu Zeiten des Tausendjährigen Reiches die Entwicklung und Herstellung von Giftgas ein hochgeschätztes Gewerbe war, das unter schärfster staatlicher Bewachung betrieben wurde, weil die Bereithaltung auch solchen Kriegsgeräts zu den selbstverständlichen Gepflogenheiten der Großmächte gehörte, ist die politische Kalkulation der Bundesrepublik heute (noch) anders: Am Verzicht auf die Herstellung von ABC-Waffen, den sie in den Verträgen der Westeuropäischen Union unterschrieben hat, will sie festhalten, weil gerade dieser Verzicht für ihre politische Reputation und damit für ihren politischen Einfluß auf den Rest der Welt günstiger ist. Das heißt freilich noch lange nicht, daß unser Staat keine Vorsorge für den Fall träfe, daß – wie schon jetzt der amerikanische und sowjetische – auch der deutsche Einfluß in der Welt die Bereithaltung oder den Einsatz von Kriegsgas verlangt. Dafür reichen die noch vorhandenen, durchaus noch verwendbaren und kampferprobten Restbestände aus Weltkrieg I und II natürlich nicht aus. Vorausschauend plant die Bundeswehr weiter. Für derartige Vorsorgebemühungen sind die extra dafür geschaffenen Klauseln der WEU-Verträge günstig: Der Verzicht auf chemische Waffen

„bezieht sich nur auf die großtechnische Herstellung, nicht auf geringe Mengen, die notwendig sind, um beispielsweise (!) Gasmasken zu testen.“

Natürlich betreiben weder die BRD noch die europäischen Verbündeten ihre Giftküchen, um Gasmasken zu testen – effektive Gegengifte und Filter könnte man besser und jeweils auf den neuesten Stand internationaler Giftentwicklung gebracht vom Großen Bruder Amerika beziehen –, aber als fadenscheiniges Alibi für Staaten, die an dieser Entwicklung selbständig teilnehmen wollen, ohne in den Ruch einer C-Waffen-Nation zu geraten, taugt es allemal.

Um eben diesem Verdacht zu entgehen, gezielt mit Gas zu experimentieren, hat die Bundeswehr (zumindest damals) weder eigene Labors eingerichtet noch einen Chemiegroßkonzern (IG Farben!) damit beauftragt, sondern diesbezügliche Wünsche von der ,,Chemie-Klitsche“ Stoltzenberg erledigen lassen. Gerade diese Abtrennung von den offiziellen Staatsaufträgen und Verlagerung auf einen runtergekommenen, aber auf solche Produktion spezialisierten Kleinkapitalisten wie Stoltzenberg ist die adäquate Weise, wie unser (ent)spannungs politisch orientierter Staat sein bedingtes Interesse an Kampfgasen realisiert. Man hält sich also einen Spezialisten, der Beruf und Berufung aufs glücklichste in sich vereinigt, für die Produktion von Kampfstoffen, für deren „großtechnische Fertigung“ die Zeit noch nicht reif ist. Und was liegt dann näher, als ihm auch weitere heikle Aufträge zu geben und ihm die „Beseitigung überalterter Gase und Nebeltöpfe“ zu überantworten? So sparte man mit dieser Zwischendeponie Platz in der bundeswehreigenen Wiederaufbereitungsanlage Munsterlager, die sich erst im Aufbau befindet.

Damit war freilich zugleich eine „Luderwirtschaft allergrößten Stils“ garantiert. So wurde Stoltzenberg zwar nicht formell, aber doch durch gezieltes Ignorieren von der Einhaltung von Vorschriften (sogar über den Zeitpunkt der Betriebsaufgabe hinaus) entbunden – was der sich nicht zweimal sagen ließ, das Geld für die Delaborierung einsackte und die Gase auf seinem Grundstück unter dem zugedrückten Auge von Vater Staat anweisungsgemäß abstellte:

„Einerseits waren ihnen (den Behörden) die verlotterten Zustände und wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Firma Stoltzenberg bekannt. Andererseits war man auf die Herstellung bestimmter Produkte durch die Firma angewiesen.“ (Dr. Rabeis, Hamburger Staatsrat)


Was der Skandal ist, wird bereinigt

Was am 6. September mit dem ,,tragischen Tod eines Kindes“ passierte, war also nicht die Aufdeckung eines lange schwelenden Skandals – die Aufdeckung selbst ist der Skandal! Zu dem Nutzen, den sich unser Staat von der Firma Stoltzenberg versprach, gehört die „Riesensauerei“ (Klose) samt ihren tatsächlichen und möglichen Folgen. Jetzt, nachdem die Zustände bei Stoltzenberg bekannt geworden waren und erregte Bürgerprotestversammlungen stattfanden, gilt es, das Vertrauen in den Staat wiederherzustellen.

Erster Schritt dazu ist die öffentliche Festlegung, wogegen man sein darf und wogegen nicht:

„Nicht daß die Firma ein paar Kilo Lost für die Bundeswehr herstellte, macht denn auch letztlich den Skandal aus, sondern daß sie unter gemeingefährlichen Bruchbuden-Bedingungen betrieben werden konnte.“

Die Festsetzung, daß Gasexperimente bei der Bundeswehr und für sie als normal zu gelten haben, ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert: Zuerst zeugt sie vom gestiegenen Selbstbewußtsein des „stärksten Staates, den wir je hatten“: Giftküchen fürs Militär werden nicht mehr wie noch Anfang der 70er Jahre als peinlich dementiert, sondern als Selbstverständlichkeit behandelt (weswegen es inzwischen auch keine Randexistenzen wie Stoltzenberg und Leuschner mehr braucht, und eine Reihe von Kleinskandalen, wie Gas in der Ostsee, gleich miterledigt wurden) – der Übergang von der Nachkriegszeit zur Vorkriegszeit ist geschafft! Sodann liefert diese Festsetzung natürlich das Argument für die Verwandlung von Kriegsproduktion in ein „ökologisches Waterloo“, also ein Problem des Umweltschutzes. Die Vorbereitung des Einsatzes chemischer Massenvernichtungswaffen hat also die Reinheit von Luft und Grundwasser im Auge zu behalten! Medien und Behörden haben sich also die Öko-Logik amerikanischer AKW-Gegner zu Herzen genommen, die Atom-U-Boote als „schwimmendes Harrisburg“ kritisieren, und benutzen das „geschärfte Umweltbewußtsein“ der Bürger zur gezielten Verdunkelung des kleinen Unterschieds zwischen Krieg und Dreck. Und selbst die bildliche Vorführung der Giftgaswirkung durch Filme aus dem 1. Weltkrieg wurde zur Demonstration, was für eine Umweltkatastrophe daraus hätte werden können.

Damit ist auch der zweite Schritt der Skandalbereinigung vorgegeben, nämlich die allseits gestellte Frage: „Wie konnte es passieren, daß der Staat nicht schon längst ...“. Und diese Frage will eben nichts von der Ursache des Stoltzenberg-Skandals wissen, sondern erklärt als ein Versäumnis des Staates, was dieser sehr zweckmäßig ins Werk gesetzt hat. Der Staat hat nicht etwa wegen seiner Planung des Kriegs und allem, was dazu gehört, die Bürger in Gefahr gebracht, sondern er hat seine Aufgabe vernachlässigt, sie vor Gefahr zu schützen.

Und weil sich alle Parteien einschließlich der Presse in dieser Lüge einig sind, hebt überall der dritte Schritt zur Bereinigung an: Wo etwas versäumt wurde, gibt es einen Schuldigen ! Hier freilich ist dann Schluß mit der Einigkeit, denn es sind handfeste Parteiinteressen im Spiel. So kann man sich profilieren als jemand, der schon früher seine Pflicht getan und die Mißstände angeprangert hat, wie dies die FDP tut. Oder man kann den Rücktritt der Hamburger Landesregierung – oder ausschließlich des Kriegsministers Apel – fordern, wie dies die CDU tut. Oder man kann schonungslose Härte gegen alle dingfest zu machenden Senatoren anbieten und wenigstens einen finden und entlassen, wie dies der Hamburger SPD-Klose getan hat. Oder man kann den Skandal als Beweis dafür werten, daß es statt der oder zumindest neben/mit den etablierten Parteien der Bunten Liste bedarf.

Für welche Alternative sich die Bürger auch entschieden haben – auf diese Weise hat wenigstens der Staat samt seiner sauberen Bundeswehr und ihrem Waffenarsenal keinen Schaden genommen.

 

aus: MSZ 31 – Oktober 1979

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