Der Fall Sarrazin – ein deutscher Fundamentalist trifft den Nerv des deutschen Volksempfindens

Ein elitärer Schnösel wird Volkstribun

Deutschland im Sommer 2010: Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen“ macht Furore. Am meisten beim einfachen Volk selbst: endlich findet mal jemand den Mut und spricht aus, was alle denken, sich aber so nicht zu sagen trauten! Ausgerechnet Sarrazin, der das gemeine Volk nach Strich und Faden verachtet, weil er es als Fanatiker der Nützlichkeit des Volkes für den Staat jenseits aller wirklichen politökonomischen Berechnungen, die mit dem Volk angestellt werden, nicht aushält, wenn es Menschen (gemeint ist selbstverständlich die Unterschicht) gibt, die ohne zu arbeiten existieren („ein nennenswerter Teil der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter dämmert in transferabhängiger Passivität komfortabel vor sich hin“), avanciert zum neuen Volkshelden.

Und genau nach derselben Logik, nach der er den von der kapitalistischen Reichtumsproduktion dauerhaft ausgemusterten einheimischen Unterschichtlern ihre Verwahrlosung als Grund für ihre Lage reinreibt, genauso weiß er, dass die ausländischen Unterschichtler ihre Existenz am unteren Ende unserer Konkurrenzgesellschaft nur sich selbst und ihrer mangelnden Tauglichkeit zuzuschreiben haben. Sein Szenario vom drohenden Untergang der höherwertigen europäischen Lebensart („Die aus unserer Sicht kulturell vorzuziehende Lebensform Europas wird letztlich unterlaufen durch die höhere Fertilität der muslimischen Migranten und den durch sie ausgelösten Nachzug. Wer sich stärker vermehrt, wird am Ende Europa besitzen. Wollen wir das?“) wird nicht als Albernheit eines muslimischen Verfolgungswahns überführt (seit wann übernimmt die kinderreiche Unterschicht „letztlich“ die Macht und steigt einfach durch Kinderreichtum zur Elite auf?), sondern durchaus ernst genommen. Allenfalls wird von irgendwelchen Schlauköpfen einmal nachgerechnet, wie sich das „Fertilitätsverhalten“ wirklich auf die Bevölkerungsstruktur in 100 Jahren auswirken wird, womit klar ist, dass man das „Ausgangsproblem“ durchaus teilt, doch siehe da: man kann wissenschaftlich korrekt dazu keine Aussage machen, Thilo Sarrazin hat sich einfach verrechnet! Auch von der „politischen Klasse“ kommt durchaus Zustimmung. Sarrazin hätte nur längst bekannte „Fakten“ zusammengetragen und dass die von ihm dargestellten „Sachverhalte“ nicht länger hinzunehmen sind und dass „wir“ unser Problem mit den Ausländern nicht weiter verleugnen dürfen und ihrer „Integration“ entschiedener Beine machen müssen, darin sind sich alle einig und darauf einmal in aller Deutlichkeit hingewiesen zu haben, darin besteht sogar das öffentlich zugestandene Verdienst Thilo Sarrazins.

Demokratische Rassisten finden Rassismus blöd

Nicht einig mit Sarrazin ist aber zumindest die maßgebliche demokratische Öffentlichkeit in dem einen Punkt: dass Sarrazin von der mangelnden „Integration“ der vorwiegend muslimischen Ausländer, die es nun einmal gibt,  auf ihre mangelnde „Integrierbarkeit“ schließt, dass er ihre mangelnde Intelligenz auf Vererbung zurückführt, dass er also ihren unbestreitbaren Status als Verlierer dieser Konkurrenzgesellschaft ihren Genen zuschreibt und ihnen biologistisch die Fähigkeit  zum ökonomischen Erfolg abspricht –  das gilt im aufgeklärten Deutschland als „rassistisch“ und gehört sich einfach nicht, schon gar nicht für jemand, der im Vorstand der Bundesbank, einer offenbar international anerkannten antirassistischen Vereinigung, sitzt. Thilo Sarrazin muss gehen, während die Verkaufszahlen seines Buches nach oben schnellen und die „Vorschläge“ zur Integration, Aushungerung oder Abschiebung „integrationsunwilliger“ Ausländer kein Ende nehmen. So stellt die „politische Klasse“ klar, dass  Ausländerfeindlichkeit wohl dosiert sein will und immer den richtigen Ton treffen muss, also bei ihr in den besten Händen ist.  Das Volk soll sich wie immer seinen Teil denken, alles weitere aber denen überlassen, die für Recht und Ordnung nun einmal zuständig sind. Das Volk findet sich stirnrunzelnd ab, wie es sich für ein Volk gehört. Gerade hatte doch einer von oben die eigene Ausländerfeindlichkeit mal ausdrücklich ins Recht gesetzt, nun muss man schon wieder die Verachtung der Fremden mit Respekt garnieren, Mist.

Fakt ist: Wir mögen keine Ausländer

So ein eingeborener Volksgenosse fragt sich nämlich niemals, ob er nicht mit dem ganzen zugereisten Gesockse, auf das er so gerne herabblickt,  mehr gemeinsam hat als mit seinen gewählten Herrschaften. Dass er hier geboren ist und vom Staat sofort als sein Zuwachs an Volk verbucht wird, nimmt er als seinen eigenen Grund, sich zu diesem Laden und seinen eingerichteten Verhältnissen dazugehörig zu denken. Zwar hat ihn niemand gefragt, er muss sich vielmehr ziemlich ohnmächtig nach der Decke strecken und zusehen, wie er in den Verhältnissen einer kapitalistischen Gesellschaft zurechtkommt mit all ihren Gegensätzen, die er tagtäglich zu spüren bekommt. Aber gerade weil das so ist und er die machtvollen Interessen, die seinen entgegenstehen beim Arbeiten, Wohnen und Essen, gar nicht aushält, ist er auf den Staat und seine Gewalt angewiesen, ausgerechnet auf die Instanz, die diese Verhältnisse der kapitalistischen Reichtumsvermehrung gewaltsam eingerichtet hat und schützt als Mittel, die Macht der Nation zu mehren. Dafür hat das Volk Ressource zu sein. So buchstabiert sich für den Staat die „Zugehörigkeit“ von Staat und Volk, und das ist ein ziemlich schlechter Grund für den gemeinen Angehörigen eines Staates, sich diese Zugehörigkeit als etwas Gutes zu denken und sich einzubilden, man hätte in seinem Staat so etwas wie eine Schutzinstanz und mit den anderen Volksgenossen, ganz getrennt davon, ob sie einem als Vermieter, Arbeitgeber, Lebensmitteldiscounter oder sonst was gegenüberstehen und das Leben schwer machen, ganz schön viel  gemeinsam; mehr als genau das – derselben Herrschaft unterworfen zu sein – bleibt dabei allerdings nicht übrig.

Dass der Staat die Angehörigen eines anderen Staates prinzipiell mit Misstrauen begutachtet und strenge Regeln ihrer Duldung erlässt (das mag er an der eigenen Mannschaft: darauf, dass sie gar nicht aus Gründen des vergleichenden Abwägens und eigenen Nutzens hier ist, sondern ganz bedingungslos gar nicht anders kann als hier zu sein),  ist die eine Sache. Eine andere ist es, sich das staatliche Misstrauen in die „Angehörigen“ eines anderen Staates zu eigen zu machen und ihre disparatesten Lebensäußerungen als Manifestationen des „uns“ Fremden wahrzunehmen und deshalb als störend, wenn nicht gar schädigend, zu empfinden. Nur so, nämlich die Welt durch die Brille des Nationalisten gesehen, werden die ganzen Wahrnehmungen von der Andersartigkeit der Ausländer in den Rang von „Fakten“ erhoben, die einfach nicht zu leugnen wären.

Nur für Nationalisten ist das Leben von Ausländern nicht einfach auch ein nicht besonders erfolgreicher Versuch, sich in dieser kapitalistischen Welt durchzuschlagen, sondern ein besonders erfolgreicher Versuch, sich auf „unsere“ Kosten hier breit zu machen.  Aber ein gutes Volk kann anscheinend nicht anders.

____________________________

 

Staatliche Krisenmaßnahmen (I)

Die Rettung des Bankengeschäfts

1. Warum hilft der Staat den Banken?

Viele Leute finden es im Grunde nicht in Ordnung, dass die Regierung sich im Augenblick der Rettung ihrer Banken widmet. Sie sehen die Sache so: Das sauer verdiente Geld der Steuerzahler (und davon nicht gerade wenig!) wird ausgegeben, um moralisch keineswegs integre Figuren „vor dem Abgrund“ zu retten, in den diese sich mit ihren windigen und geldgierigen Operationen hinmanövriert haben. Viele sind der Ansicht, dass man die Finanzfritzen ihre Suppe selbst auslöffeln lassen sollte – so wie „der Markt“ eben auch sonst alle bestraft und zur Vernunft zwingt, die seinen Anforderungen nicht entsprechen. Auch wenn die staatlichen Bemühungen insofern als ungerecht gelten – irgendwo sehen die allermeisten allerdings doch auch ein, dass sie schlicht und einfach unumgänglich sind. Die Kanzlerin drückt das so aus: Niemand solle denken, dass sie den Bankern jetzt gerne die staatlichen Milliarden in den Rachen werfe. Die Rettungsaktion müsse aber sein, weil sonst Spargroschen und Arbeitsplätze aller Bürger bedroht seien.

Was wird damit ausgesprochen?

Im Augenblick der Krise erinnert die Regierung ihr Volk daran, wovon dieses Gemeinwesen und damit auch alle seine Bürger praktisch abhängen: Wenn die Rechnungen der Banken und der sonstigen Finanzwelt nicht mehr aufgehen, dann ist die gesamte Wirtschaft bedroht, alles, wovon diese Gesellschaft lebt. Deshalb soll die Rettung der Banken unumgänglich und im Interesse aller Bürger sein. Diese Argumente haben es in sich. Einerseits sind sie gelogen. Andererseits sprechen sie eine Wahrheit über dieses System aus.

Die Lügen:

• Die Abhängigkeit, an die die Kanzlerin erinnert, soll gleich unmittelbar das Argument dafür sein, dass jedermann ein Interesse an der Rettung der Banken haben soll – als könnte man eine Abhängigkeit, die einen stört, nicht auch beseitigen.

• So soll man aber keinesfalls denken. Die Abhängigkeit soll man sich vielmehr als großen und wichtigen Dienst vorstellen, den die Banken am Rest der Wirtschaft erbringen: Sie „versorgen“ uns alle mit dem nötigen Kredit, dem „Schmiermittel“ des Wirtschaftskreislaufs. Wenn, wie jetzt, dieser Dienst unterbleibt, wirkt sich die Krise der Finanzwelt negativ auf alles andere aus. Wenn der Rest der Wirtschaft allerdings vom Bankengeschäft abhängig ist, ist es deshalb noch lange nicht der Zweck der Banken, alle anderen mit Geld und Kredit zu versorgen. Sie wollen – das ist auch kein besonderes Geheimnis – Gewinn machen. Ob sie Chancen dafür sehen und ob sie dafür die Mittel haben, entscheidet also darüber, ob Kredite fließen. 

• Dass die Rettung dieser Wirtschaft mit ihren Arbeitsplätzen im Interesse aller liege, ist die nächste Verdrehung. Weil jeder, der kein Geldvermögen besitzt, auf’s Arbeiten angewiesen ist, ist es noch lange nicht sein Interesse, wenig zu verdienen, viel zu arbeiten, sich ewig ein paar Spargroschen abzuknapsen und doch ein Leben lang nicht aus prekären Verhältnissen rauszukommen. Dass die Rettung einer so organisierten Wirtschaft ein Dienst der Politiker ausgerechnet an denen ist, die dauernd von ihr geschädigt werden, ist schon eine gekonnte Frechheit.
Die Kanzlerin spricht ihre Botschaft allerdings auf dem Boden einer praktischen Wahrheit aus – weshalb sie auch keineswegs mit Gelächter von unten quittiert wird. Sie regiert schließlich eine moderne Marktwirtschaft, in der tatsächlich sämtliche Lebensinteressen in letzter Instanz davon abhängig gemacht worden sind, dass die Geschäfte in den oberen Etagen von Börsen und Banken klappen. Bei ihrer Agitation dafür, dass jeder die Notwendigkeit und Alternativlosigkeit der staatlichen Krisenbewältigungsmaßnahmen einsehen soll, benutzt die Regierungschefin dieses Moment: Jeder soll daran denken, dass er, ja auch er als kleiner Mann, funktionierende Banken braucht (und innerhalb eines kapitalistischen Systems stimmt das ja sogar! Am Ende auch noch für Hartz-IV-Empfänger!), „also“ soll er gefälligst froh sein, wenn die Regierung beherzt eingreift und sich nicht aus falsch verstandener Schadenfreude gegenüber Ackermann einen Crash der deutschen Bank wünschen.     

Die Wahrheit:

An einem zuverlässig funktionierenden Finanzwesen hängt in ganz grundsätzlicher Weise das Wachstum des nationalen Standorts – weshalb Unternehmen und der Staat das allergrößte Interesse an seiner Rettung haben. Über die Banken versorgt der Staat seine kapitalistische Gesellschaft mit dem, was sie am dringendsten braucht: Einerseits mit dem Geld selbst, in dem alle wirtschaften sollen, andererseits mit dem nötigen Kredit. Der Finanzsektor gehört zu den Wachstumsbranchen, die dem Staat Steuern einbringen. Der Staat selbst kann seinen eigenen finanziellen Spielraum erweitern, indem er sich verschuldet – seine Banken verkaufen die Staatspapiere an das breite Publikum und erwerben auch selbst welche. Nicht zuletzt tragen große Banken mit ihrem internationalen Geschäft dazu bei, den Einfluss deutscher Unternehmen und des Staats in der ganzen Welt zu vergrößern. 
Insofern haben Merkel und Steinbrück es nicht darauf abgesehen, den seit neuestem verachteten „Zockern“ in den Führungsetagen der großen Finanzhäuser staatliche Rettungsgelder in den Rachen zu werfen. Sie wollen mit der Unterstützung der schwächelnden Banken wirklich etwas mehr, nämlich ihr ganzes System marktwirtschaftlichen Profitmachens retten. Und damit auch sämtliche Funktionen, die es in diesem System gibt: die Arbeitsplätze, an denen sich die Lohnabhängigen gewinnbringend beschäftigen lassen; die gute Realwirtschaft mit ihren Produkten und Bilanzen, die Deutschland zum Exportweltmeister machen; und nicht zuletzt selbstverständlich auch das Finanzgeschäft mit seinen innovativen Ideen und Operationen.

2. Wie hilft der Staat den Banken?

Der praktische Ausgangspunkt bei der Krisenbewältigung ist also der, dass der Staat die Banken wieder in den Stand versetzen will, ihr Geschäft zu machen. Damit sollen sie dann auch wieder all das leisten, was vorher so schön geklappt hat – Kredite an den Mittelstand, Organisation von Firmenübernahmen, Verkauf von Staatspapieren etc. pp.

Dafür mobilisiert die Bundesregierung alle Kräfte, über die sie verfügt. Zunächst wird im Eiltempo ein Rettungspaket geschnürt, für das Merkel & Steinbrück die bisher undenkbare Summe von 470 Mrd. € aufbieten. 

• Ein Teil der gigantischen Geldsumme wird den Banken als Bürgschaft dafür zugesichert, dass sie sich wieder untereinander Geld leihen. Der Bundesregierung stellt sich das Problem der Banken so vor, dass sich diese nach der Pleite einiger großer Bankhäuser untereinander aus Angst keine kurzfristigen Kredite mehr zubilligen und darüber den Geld- bzw. Kreditmarkt austrocknen, obwohl sie eigentlich durchaus über Geld verfügen. Entsprechend denkt sie sich die Lösung. Sie spricht eine Bürgschaft aus und springt mit ihrer Geldzahlung in die Bresche, wenn ein solcher „Interbankenkredit“ nicht zurückgezahlt wird, weil die Empfängerbank zwischenzeitlich zahlungsunfähig geworden ist. Dabei spekuliert sie darauf, dass diese politische Garantie im Prinzip ausreicht, um die Notsituation zu überwinden – in der Hoffnung, dass sie die zur Verfügung gestellten Gelder gar nicht wirklich oder nur zu einem erheblich kleineren Teil einsetzen muss.

• Ein weiterer Teil wird Banken als Zufluss von neuem Geldkapital zur Verfügung gestellt. Banken, deren Eigenkapital durch die Entwertung „fauler Wertpapiere“ (–> Grund der Krise) angegriffen ist, können sich unter den Rettungsschirm der Regierung begeben. Sie erhalten einen entsprechenden Zufluss von staatlichem Geld – müssen dafür einige politische Bedingungen erfüllen (Kürzung der Gehälter und Boni, Reinreden in Kreditvergabe etc.). Der Zuschuss soll später aus Gewinnen zurückgezahlt werden.

• Die deutsche Regierung hat zudem eine allgemeine Einlagensicherung ausgesprochen. Kleinen wie großen Geldanlegern gibt sie eine staatliche Garantie auf sämtliche von ihnen eingezahlten Gelder bei allen deutschen Geldinstituten. Damit will sie verhindern, dass massenhaft Geld von den Banken und Sparkassen abgezogen wird – denn dies würde dem Bankgeschäft seine Grundlage entziehen.

• Darüber hinaus werden die Bilanzierungsvorschriften gelockert. Die Banken dürfen die Wertpapiere zum Einkaufspreis in ihre Bilanzen schreiben. Dass die Papiere in ihrem Besitz auf den Märkten momentan unverkäuflich, also im Grund nichts wert sind, müssen sie schlicht nicht zugeben. Damit wird das Eingeständnis von Zahlungsunfähigkeit vieler Geldhäuser aufgeschoben, in der Hoffnung, dass es mit wieder beruhigten Märkten nicht einzutreten braucht.

• Angesichts dessen, dass die bisherigen Maßnahmen nicht ausreichen, geht die Regierung auch (zu der bislang undenkbaren Praxis) über, bei Banken einzusteigen oder eventuell ganz zu verstaatlichen. Im Falle der Commerzbank steigt der Staat mit 10 Mrd. € ein, wird mit ¼ größter Einzelaktionär und verhilft der Bank damit zu neuem Kapital, über das sie für ihre Sanierung verfügen kann (und im Fall der Commerzbank die Fusion mit der Dresdner Bank gerettet wird).

An der Größe der Geldsummen und der Radikalität von Maßnahmen wird erstens noch einmal deutlich, wie viel dem Staat an der Rettung seines Finanzwesens liegt: Das ist nicht eine quantitative Bevorzugung gegenüber anderen Staatsmaßnahmen – wie die populäre Kritik mit ihrem „dafür gibt es Geld!“ anmeckert. Hier wird allen Ernstes das System gerettet – gegen die Krise, in die es sich selbst hineingewirtschaftet hat.

Zweitens aber verraten die Maßnahmen, dass die Regierung bei diesen Rettungsmaßnahmen einiges an Widersprüchen vorfindet und selbst produziert.

a) Jede Rettungsidee ist nämlich zugleich ein Eingeständnis über die Härte der Situation. Wer den Einlegern ihre Spargroschen über die bisher ja schon vorhandene Einlagensicherung der Banken hinaus politisch garantiert, der spricht als erstes einmal aus, dass nichts, aber auch gar nichts sicher ist bei all den Banken und Sparkassen, über die er regiert. Dass der Staat mit seinen Finanzmitteln im Fall der Fälle eine allgemeine Zahlungsunfähigkeit der Banken tatsächlich kompensieren könnte, ist nebenbei bemerkt ein guter Witz!

b) 470 Milliarden hören sich nach sehr viel Geld an – immerhin eine Zahl mit dreizehn Nullen! Trotzdem ist die Verkündung dieser Summe nur darauf berechnet, als Anstoß zu wirken, als eine Art Katalysator dafür, dass die mit der Summe ausgesprochene politische Garantie wieder ein Geschäft in ganz anderer Größenordnung ins Rollen bringt. Denn woran das Finanzwesen momentan krankt, ist ein bisschen mehr, als dass Banken sich kurzfristige Kredite verweigern, so dass eine politische Bürgschaft dem abhelfen könnte. Die Banken haben in den letzten Jahren mit ihren innovativen Geschäftsmethoden (–> Die Finanzkrise) eine riesige Expansion ihres mit Wertpapieren operierenden Geschäfts hingekriegt. Mit dem Platzen dieser Papiere ist ein Großteil dieses Geschäfts zusammengebrochen; damit fehlt den Banken vorläufig erstens die Möglichkeit, sich über diese Schiene weiter lukrative Möglichkeiten ihres Geldverdienens zu verschaffen. Mit den geplatzten Papieren ist aber zweitens auch jede Menge längst verbuchtes Geldvermögen der Banken abhanden gekommen, auf das sich ihre gesamte Geschäftstätigkeit inklusive Kreditvergabe untereinander und an die „Realwirtschaft“ gründet. Die zerstörerische Potenz der Krise betrifft diese gigantische Expansion des Finanzgeschäfts: Das, was an kapitalistischem Eigentum bereits vernichtet ist, was in weiteren Kettenreaktionen noch zusammenbrechen wird und was als Basis weiteren kapitalistischen Wachstum damit bereits tatsächlich fehlt. Dagegen ist selbst eine so beeindruckende Summe von 470 Milliarden, die fast doppelt so groß ist wie der jährlichen Staatshaushalt der Bundesrepublik liegt, ein Klacks. Insofern hängt die Rettung daran, dass der Finanzsektor „irgendwie“ wieder anspringt. Die gesamte Marktwirtschaft mit ihrem Geld- und Kreditbedürfnis kann auch der kompakte Steinbrück nicht „stemmen“, wie es im momentan beliebten Jargon staatlichen Tatendrangs so schön heißt. Das aber ist fraglich. Die Angst vor weiteren Verlusten kann der Staat den Banken mit seinen Bürgschaftsversprechen nehmen. Aber allein durch die Abwehr von Gefahren kehrt die Möglichkeit, das jetzt brachliegende Geldkapital wieder rentabel anzuwenden, noch nicht zurück.

c) Die zur Verfügung gestellten Milliarden müssen dazu von den Banken selbst erst noch angenommen werden. Das hört sich paradox an, schließlich will die Regierung ihren Banken helfen. Andererseits: In einer Marktwirtschaft befiehlt eine Regierung ihren Banken schließlich nicht einfach, was sie zu tun oder zu lassen haben. Sie hat ihre Finanzinstitute gesetzlich dazu ermächtigt, sich durch Geld- und Kreditgeschäfte zu bereichern. Das haben diese nach Kräften getan – und sich gerade damit in ihre jetzige Krise hinein gewirtschaftet. Angesichts ihrer Probleme könnten die Banken staatliche Sicherheiten und Geldzufluss einerseits gut gebrauchen; andererseits wirkt die Annahme der Staatshilfe wie ein Eingeständnis, es nötig zu haben. Banken, die die staatliche Hilfe annehmen, müssen damit rechnen, in der Konkurrenz um Kredit bei Rating-Agenturen, Börsen etc. schlechter wegzukommen. Das lässt viele von ihnen zögern (in den USA und England wurden die Banken deshalb gezwungen, die staatlichen Milliarden anzunehmen). Die Konkurrenz der Banken, die durch ihre gemeinsame Betroffenheit in der Krise natürlich nicht weg ist, kommt insofern dem staatlichen Angebot ein Stück weit in die Quere.

d) Inzwischen haben sich die ersten Banken unter den staatlichen Rettungsschirm begeben. Den Super-Gau – einen abrupten Zusammenbruch des Bankensektors – hat die Regierung damit bisher verhindern können. Die Krise ist damit aber längst nicht bewältigt, sondern neue Fragen sind aufgeworfen. Die Annahme der staatlichen Rettungsmaßnahme soll das Geschäft in den Banken zu seinem gewohnten Gang bringen: Kredite an die Realwirtschaft, Wertpapiergeschäfte, Börsenspekulationen – eben alles, was das Bankgeschäft und seine nützliche Stellung in der deutschen Marktwirtschaft ausgemacht hat. Ob das passiert, hat die Regierung nicht in der Hand. Möglicherweise nehmen die Banken die staatlichen Gelder vorläufig nur, um daraus die Abfindungen ihrer Banker zu zahlen ... Ob das politische Ideal der Rettung aufgeht, dass die Banken „ihren Dienst an unserer Wirtschaft“ wieder versehen, kann auch die höchste Gewalt in der Marktwirtschaft nicht sicherstellen – sie kann nur darauf spekulieren, dass alle Wirtschaftssubjekte sich von Aussichten auf zukünftiges Geschäft erneut animieren lassen.

e) Angesichts dessen, dass sie inzwischen (Februar 2009) schon eine ganze Menge in diese Rettungsmaßnahmen investiert hat und sich keine grundlegende Besserung, sondern viel eher eine Steigerung der Notlagen vieler Banken abzeichnet; angesichts dessen, dass die Krise inzwischen in aller Härte in der Realwirtschaft angekommen ist, und die Regierung auch dort mit „Konjunkturpaketen“ eingreift; angesichts dessen also, dass ein Ende der staatlichen Schuldenaufnahme zur Krisenbewältigung gar nicht recht absehbar ist, hat sich die Politik in Berlin eine „Schuldenbremse“ verordnet. Die soll auf alle Fälle ab 2016 bzw. 2020 die staatliche Neuverschuldung abbremsen – vor allem aber schon jetzt die Finanzmärkte beruhigen. 

____________________________

 

„Der Staat soll es richten“

In der Finanzkrise wissen plötzlich wieder alle: Ohne Staat geht es nicht. Gestern noch haben Liberale und Neoliberale jeden noch so kleinen staatlichen Eingriff  erbittert bekämpft und wollten darin nur verkehrte Hindernisse für das segensreiche Wirken des Marktes ausmachen. Heute verlangen sie ohne mit der Wimper zu zucken danach, dass der Staat seine Hand aufmacht und den Banken daraus viele hundert Milliarden zur Verfügung stellt. Zur „Rettung des Systems“ – damit dann alles so weitergehen kann wie bisher! „Rat und Tat sind gefragt. Es ist die Stunde der Regierenden, der Pragmatiker, die Stunde des Staates, in dessen rettende Arme sich mit schlotternden Knien die Spitzen des internationalen Finanzsystems nun flüchten.“ (WamS, 12.10.08)

Was war eigentlich vorher? Kein Staat, keine Regierung?

Wenn jetzt alle nach dem Staat und seinen rettenden Armen rufen, stellt sich die Frage, ob es vorher denn keinen Staat, keine Politik und keine Regierung gegeben hat. Stimmt es, dass der Staat vor dem großen Crash einfach nichts getan hat oder nicht genug auf seine Wirtschaft aufgepasst hat? Ist der Staat tatsächlich der große Problemlöser? Oder ist er nicht vielleicht Teil des Problems?

Die Wahrheit ist, dass der Staat eine ganze Menge getan hat und dass ohne dieses Tun weder „der Markt“ noch „das Finanzsystem“ und seine jetzige Krise zustande gekommen wären. Schon im Ausgangspunkt ist es nicht so, dass „die Wirtschaft“ einfach da ist und der Staat irgendwann als eine Art unparteiischer Schiedsrichter dazu tritt:

• Der Staat schützt das Eigentum – und damit die entscheidende Grundlage der ganzen Marktwirtschaft. Mit dieser staatlichen Garantie sind alle diejenigen, die vielleicht eine Zahnbürste, Klamotten und einen mp3-player, aber eben kein Vermögen besitzen, von allen Mitteln ausgeschlossen, die sie brauchen, um ihr Leben zu bestreiten. Sie und damit die große Mehrheit der Gesellschaft müssen als „abhängig Beschäftigte“ arbeiten gehen. „Abhängig“ gemacht sind sie von denen, deren Vermögen schützt. Mit ihrem Geld oder sonstigen Mitteln, über die sie verfügen (Produktionsmittel, Häuser etc.), können diese Leute etwas anzetteln, um aus ihrem Geld mehr Geld zu machen. Sie lassen andere für sich arbeiten, „lohnend“ natürlich – sonst würden sie gar nicht erst anfangen mit dem unternehmen oder dienstleisten, vermieten ihre Häuser, verkaufen Grund und Boden usw. 

• Der Staat sorgt mit seinen Geldzetteln (Nachdruck verboten!) dafür, dass alle sich am Reichtum der Gesellschaft nur darüber beteiligen können, indem sie sein Geld erwerben, ausgeben oder sparen.

• Der Staat sorgt – verkürzt gesagt – mit seiner Zentralbank dafür, dass die Geschäftsbanken über genügend Kredit verfügen, den sie zur ihrem eigenen Nutzen an die restliche Wirtschaft verleihen.

Der Staat will also eine Wirtschaft, in der Unternehmen mit der Ausbeutung ihrer Belegschaft Gewinne machen. Er will außerdem eine Finanzwelt, die diese Unternehmen ständig mit genügend Kredit versorgt und in ihrer Börsen- und Derivate-Welt selbst immer größer und schlagkräftiger wird. Denn vom Wachstum seiner Unternehmen und Finanzanleger lebt der staatliche Haushalt mit seinen Steuern genauso wie von Lohn- und Mehrwertsteuern. Eine erfolgreiche Wirtschaft, die ein stetiges Geldwachstum zustandebringt, erlaubt dem Staat, sich mehr zu verschulden und sie verschafft ihm mehr Einfluss in der Welt, ökonomisch wie politisch.

• Deshalb tut die Regierung zusätzlich allerhand dafür, dass die „Stützen ihrer Gesellschaft“ – die Unternehmer wie die Banker – Erfolge einfahren. Hindernisse schafft sie ihnen möglichst aus dem Weg, etwa die Lohnforderungen der Gewerkschaften, lästige Sozialkosten usw.

• Zu diesen Hindernissen gehören auch Regulierungen des Spekulierens. Weil der Staat will, dass die Finanzwelt auf das deutsche Wachstum spekuliert und weil er will, dass möglichst viel spekulatives Finanzgeschäft an der deutschen Börse stattfindet bzw. von deutschen Banken gemacht wird, hat er frühere Einschränkungen außer Kraft gesetzt und seinen Spekulanten möglichst viel Freiheit und Konkurrenzfähigkeit verschafft.

Von wegen also, der Staat hätte nichts gemacht, nicht genügend aufgepasst oder so! Genau umgekehrt ist es:

Der Staat  hat selbst auf die Spekulation gesetzt und genau das tatkräftig unterstützt, was jetzt mit seiner Krise alles in Unordnung zu bringen droht.

Wenn dieser Staat jetzt alles Erdenkliche unternimmt, um „das System“ zu retten – was will er dann eigentlich retten? Eben genau das, was er vorher eingerichtet hat und was ihm jahrzehntelang viel ökonomisches Wachstum und den Aufstieg der Bundesrepublik eingebracht hat: Er will Banken und Börsen retten, damit das Wachstum seiner Unternehmen wieder funktioniert.

Ob es ihm gelingt oder nicht, sei dahingestellt. Alle diejenigen, die keine Unternehmen und Banken besitzen, sollten sich allerdings in diesem Moment fragen, ob sie das eigentlich weiter mitmachen wollen – dass es nach der Krise wieder so weitergeht wie vorher!

• Die Nutznießer des Systems haben ihre guten Gründe dafür: Geld- und Fabrikbesitzer ebenso wie der Staat!

• Alle anderen glauben zwar, dass auch sie auf die Rettung des Systems setzen müssen. Ihre Gründe sind allerdings nicht so gut. Sie bestehen nämlich in nichts anderem als ihrer eigenen Abhängigkeit von den Profitrechnungen der anderen.

• Wenn diese Profitrechnungen zusammenbrechen, geht es ihnen schlecht. Aber wenn diese Profitrechnungen aufgehen, geht es ihnen dann eigentlich gut? Gibt es beschissene Löhne, lange Arbeitszeiten, Stress am Arbeitsplatz und Sorge um ihn nicht schon ständig, in den allerschönsten Phasen der Marktwirtschaft? Was sieht eine florierende Marktwirtschaft an schönem Leben für ihre Normalbürger vor?

Was also haben die kleinen Leute von der Rettung des Kapitalismus?

zurück zur Titelseite „Von Marx lernen“