Krebsfälle in Asse – statistisch total ungeklärt

Das niedersächsische Sozialministerium meldet eine Häufung von Krebsfällen rund um das Atommülllager Asse. „Krebs, der aus der Asse kommt?“(SZ, 26.11.2010) fragt nicht nur die Süddeutsche Zeitung. Man fordert umfassende Aufklärung und bekommt von den zuständigen Instanzen auch prompt „zügige und ergebnisoffene Ursachenklärung“ zugesichert. Das „ergebnisoffen“ ist dabei kein überflüssiger Zusatz – eine Klärung, deren Ergebnis schon feststeht, ist ja schließlich keine – , sondern macht in zweierlei Hinsicht Sinn:
Dass diesmal nicht beschissen wird, muss einerseits ausdrücklich betont werden. Es ist nämlich bekannt, dass „die Geschichte des Atommüll-Lagers Asse eine Geschichte der Lügen, Vertuschungen und Täuschungen“ ist. In den als „Forschungsbergwerk“ deklarierten Salzstock wurden über 10 Jahre lang „fast alle angefallenen schwach- und mittelradioaktiven Abfälle gekippt, was genau dort unten liegt (und in welchem Zustand), ist nicht vollständig erfasst.“ (SZ, 27./28.11.2010)

Bekannt ist auch, dass in das „marode“ Salzbergwerk von außen Wasser rein- und erheblich radioaktiv angereichert aus den Lagerkammern unten rausfließt. „In der Schachtanlage wurden dann seit Ende der 90er-Jahre Salzlaugen gemessen, deren Belastung mit Cäsium-137 die Grenzwerte um das bis zu Elffache überstiegen. ... Gerade der zuverlässige Ausschluss aller Flüssigkeiten ist in unterirdischen Endlagern die Voraussetzung dafür, dass nicht langfristig doch Radioaktivität ins Grundwasser gerät.“ (Hamburger Abendblatt 25. Juni 2010)

Bekannt ist ebenfalls, worauf die befragte Strahlenmedizinerin vom Landesgesundheitsamt verweist:

„Allerdings sei gerade bei Leukämie und Schilddrüsenkrebs Radioaktivität ein großer Risikofaktor.“ (HNA.de 16.12.10)

Andererseits berechtigt das aber nicht zu voreiligen Schlüssen über etwaige Zusammenhänge zwischen der strahlenden Asse und den gehäuften Fällen von Schilddrüsenkrebs und Leukämie unter den Ortsansässigen. Im Umgang mit dem Atommüll, so erfährt man umgehend, werden nämlich deutsche Grenzwerte behördlich überwachtermaßen eingehalten.

„Die Überwachungsmessungen über und unter Tage zeigten, »dass zum jetzigen Zeitpunkt von der Asse weder für die Beschäftigten noch für die Bevölkerung eine Gefahr ausgeht«, sagte ein BfS-Sprecher (BfS = für Strahlenschutz).“ (taz.de 21.11.2010)

Wenn ein Bundesamt misst und den gewonnenen Messwerten (sowie denen, die der ehemalige Betreiber früher vorgelegt hat,) bescheinigt, den geltenden Bestimmungen zu entsprechen, dann steht offiziell ein „Ergebnis“ doch schon vor der Ursachenklärung fest: Von der Asse kann der statistisch festgestellte „zusätzliche“ Krebs eigentlich nicht kommen.

Interessant ist in diesem Zusammen aber doch, wie und was da gemessen wird und für welchen Zweck. Die Strahlenschutzverordnung „schützt“ vor Strahlung, indem sie allen Betreibern von „strahlenden“ Einrichtungen vorschreibt, dass alles, was sie der näheren und weiteren Umgebung so zumuten, eine Grenze hat. Ihre Anlagen, „mit denen Strahlenexpositionen oder Kontaminationen von Mensch und Umwelt verbunden sein können, müssen unter Abwägung ihres wirtschaftlichen, sozialen oder sonstigen Nutzens gegenüber der möglicherweise von ihnen ausgehenden gesundheitlichen Beeinträchtigung gerechtfertigt sein.“(§ 4 Strahlenschutzverordnung) Zwischen dem, was die Politik sich vom Betrieb der strahlenden Energieerzeugung verspricht (siehe Versus 36), und dem „Risiko“, das sie ihrem Volk dafür zuzumuten gedenkt, wird also abgewogen.

Zu beziffern bleibt das Risiko, das „wir“ dafür in Kauf zu nehmen haben, und da läuft die Wissenschaft zur Hochform auf: Ausgehend von der strahlenmedizinischen Tatsache, dass jede Dosis ionisierender Strahlung gesundheitsgefährdend ist, soll festgestellt werden, wie sehr. Von den qualitativ durchaus unterschiedlichen physiologischen Wirkungsweisen von harter Alpha- oder Gamma-Strahlung auf der einen, von den ultravioletten Strahlen, die eine Sonnenbank abgibt, auf der anderen, und von der Aufnahme von Radionukleotiden wie Caesium 137 in den menschlichen Körper auf der dritten Seite wird abgesehen. Mit der rechnerischen Zuordnung eines „Wichtungsfaktors“ wird behauptet, sie wären hinsichtlich ihrer schädigenden Wirkung auf den menschlichen Körper das Gleiche, nur unterschiedlich stark.

Die Messgröße für diese biologische Wirkung („Sievert“) ist also eine mit statistischen Mitteln kreierte Größe, die es so gar nicht gibt, mit ed sich aber für jede Kontamination, die man den Menschen zumutet, weiter „rechnen“ lässt, um einen „Grenzwert“ festzulegen, von dem man dann behauptet, bis zu dem würde dem Menschen das bisschen Strahlung eigentlich gar nichts ausmachen. Diese Festlegung ist wiederum das Resultat statistischer Operationen. Man braucht und erfindet dafür einen „Reference Man“, „ein 1974 von der ICRP (Commission on Radiological Protection) kreiertes hypothetisches Objekt ... . Damit wird ein gesunder weißer Mann aus Nordamerika oder Europa definiert, der 25-30 Jahre alt ist, 154 pounds wiegt und 5 Fuß und 7 inches groß ist. Es wird angenommen, dass sein Immunsystem intakt sei und dass er über optimale Zellreparatur-Mechanismen verfüge.“(.IPPNW2010.org) der aushalten kann, darüber liefern dankenswerterweise die von Japan veröffentlichten Daten über die Folgen der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki Anhaltspunkte. Man kann, so entnimmt man dem, „Mensch“ schon einiges zumuten, ohne dass sein „Krebsrisiko“ den wirtschaftlichen Nutzen seiner Strahlungsexposition überschreitet, und findet mit einigem Rechnen zum passenden Grenzwert. (Wie diese Rechnereien gehen und was alles an Kritik der zugrunde liegenden Annahmen existiert, kann jeder problemlos im Internet finden.) Klar ist jedenfalls schon mit dem, was ein solcher Grenzwert ist: Die Aussage, dass mit Einhaltung der Grenzwerte von Asse – gehen wir der Einfachheit halber mal davon aus, dass nicht interessiert gemessen wird – keine Gefahr ausgeht, ist auf jeden Fall gelogen.

Wenn die Einwohner von Asse sich jetzt nicht an das halten, was für den „Grenzwert“ so „errechnet“ wurde, und in unkalkuliertem Prozentsatz von der normalen = erwarteten Krebsrate abweichen, dann beharren die Verantwortlichen auf dieser Rechnung. der dergestalt ermittelten statistischen Wahrscheinlichkeit einer bestimmten Anzahl von Krebsfällen pro Bevölkerungseinheit machen sie so etwas wie eine wissenschaftlich ermittelte Gewissheit, dass mehr Krebsfälle, als statistisch grenzwertmäßig berechnet, nicht anfallen können. Die Sudellogik: Weil die „gesundheitliche Beeinträchtigung“ stärker ist als bei der Bestimmung des Grenzwerts angenommen, vorgesehen und in Kauf genommen wurde, kann sie mit dem, wofür man diesen Grenzwert errechnet hat, gar nichts zu tun haben.

Ist das erst mal wissenschaftlich erwiesen, fragt sich allerdings: Was mag in Asse ansonsten bloß los sein?! Erste Antwort: nichts! Die 9727 Einwohner der Samtgemeinde Asse sind, so wird vorstellig gemacht, eine Gruppe, deren geringe Stückzahl die statistisch überzähligen Krebsfälle als „statistisches Rauschen“ qualifiziert. Bei so wenigen ist ja ganz wenig Krebs schon statistisch signifikant! Das hat die Bundesregierung auch gleich begriffen oder begreiflich gemacht bekommen und einen Zusammenhang mit dem Atommülllager „ausgeschlossen“: „Sie erklärte demnach die Erkrankungsrate mit `statistischen Zufällen´“. (heute.de 04.12.2010)

Vertreter der Opposition und Teile der vor Ort zuständigen Lokalpolitiker möchten sich damit nicht so schnell zufrieden geben. Zusätzliche Daten müssen her, um wiederum statistisch zu ermitteln, welche vom Atommüll unabhängigen Ursachen für Krebs sorgen. Krebs kann man ja schließlich von allem Möglichen kriegen, und davon ließe sich rund um Asse durchaus einiges finden. Der Landrat von der SPD kennt sich da aus:

„Neben den Strahlenabfällen in dem ehemaligen Salzbergwerk könnten vielleicht auch die in der Samtgemeinde Asse betriebene intensive Landwirtschaft, die Mülldeponie eines Chemieunternehmens oder das früher als Dreckschleuder verschrieene Braunkohlekraftwerk Buschhaus bei Helmstedt als Auslöser in Frage kommen.“ (HNA.de 16.12.10)

Lauter mit Grenzwerten behaftete Geschäftsfelder, die die Lebensgrundlagen der Anwohner mit Schadstoffen bereichern – da ist der Atommüll doch schon fast aus dem Schneider. Und wenn auch beim sonstigen Gift die Grenzwerte eingehalten wurden und nur statistisches Rauchen festzustellen ist? Dann bleibt immer noch allerhand zu erfragen, denn menschliches Verschulden gepaart mit Zufall lässt sich ja niemals ausschließen:

„Ziehen kettenrauchende Arbeiter einer Asbestfabrik in die Gegend, könnte auch das die Zunahme von Krebs erklären.“ (SZ, ebd.)

Schön zu sehen, dass in der Krebsursachenforschung wenigstens in Bezug auf das Rauchen und das heutzutage ja fürsorglicherweise verbotene Asbest Sicherheit herrscht, obwohl beides –wenn schon Sicherheit, dann auch medizinisch und deshalb auch statistisch korrekt –eher für Lungenkrebs als für Krebs an Schilddrüse und Blutzellen sorgt. Noch schöner das Versprechen der zuständigen Instanzen, mit Hilfe der Wissenschaft den Problemfall Asse bei besserer Datenlage noch genauer aufzuklären und für dieselbe auch zu sorgen. Ein Fragebogen an die zahlreichen Krebsfälle ist schon in Arbeit. In dem soll ein jeder „zum Beispiel Angaben zu seinen Arbeitsstellen, früheren Wohnorten, Lebensalter, Tabak- und Alkoholkonsum sowie Krebsfällen in der Familie machen.“(Naturheilkunde& Naturheilverfahren Fachportal 17.12.2010) Dann wird sich hoffentlich statistisch und ganz „ergebnisoffen“ errechnen lassen, wieso die Leute in der und um die Asse Krebs kriegen, obwohl sie doch durch die Asse gar nicht gefährdet sind. Irgendwas ist bei ihnen bestimmt falsch gelaufen!

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Afghanistan: Revue der deutschen Kriegsbegründungen  

Vom Brunnenbohren zum Jetzt-erst-recht!

Seit dem Winter 2001 führt Deutschland Krieg in Afghanistan. Nach neun Jahren, seit dem Frühling 2010, beginnt man in Deutschland das, was deutsche Soldaten in dem abgelegenen Bergland Zentralasiens im Auftrag des deutschen Bundestags tun, auch so zu nennen. Guttenberg spricht von einem „kriegsähnlichen Einsatz“ und bekundet Verständnis dafür, dass man „umgangssprachlich“ von Krieg redet.

Wie man den deutschen Afghanistan-Kriegseinsatz jahrelang dargestellt, warum man ihn dem deutschen Publikum ebenso wie dem Ausland in dieser Art und Weise präsentiert hat, weshalb man jetzt umschwenkt und sich und seinem Publikum eine neue, diesmal angeblich „ungeschminkte“ Wahrheit zumutet – das soll im Folgenden untersucht werden.
Für die, die´s nicht erlebt oder (vielleicht auch wegen des Trommelfeuers der heutigen Propaganda) vergessen haben, zusätzlich und gratis ein kleiner Vorspann zur Erinnerung.

Von den guten zu den bösen Taliban

Afghanistan ist nicht erst seit dem neuen Jahrtausend ein Brennpunkt der Weltpolitik. Die gesamten achtziger Jahre hindurch hat die damals noch existierende UdSSR versucht, durch militärische Intervention (seit 1979) eine kommunistische Regierung in ihrem damaligen Nachbarland an der Macht zu halten. Das hat der „freie Westen“ nicht hingenommen. Er bezichtigt die SU völkerrechtswidriger Übergriffe und liefert ihr mit Hilfe von radikalislamischen Mujahedin, die Afghanistan von Pakistan her infiltrierten und mit westlichen Waffen ausgestattet werden, einen langjährigen Stellvertreterkrieg.

Mit von der Partie: Osama bin Ladin, der im saudi-arabischen Auftrag in Afghanistan gegen die Sowjets kämpft. Ideologisch wird die kommunistische Regierung als von außen eingesetzt, sprich: „unnational“ denunziert; ihrer Politik wird (ebenso wie den „sowjetischen Besatzern“) vorgeworfen, dass sie die religiösen und ethnischen Traditionen und Gefühle der Bevölkerung mit Füßen trete, indem sie ihnen Gleichstellung der Frauen, Schulpflicht und andere „atheistische“ Praktiken aufzwinge.

Nach dem Abzug der Sowjets (1989) und der Vertreibung der kommunistischen Regierung (der letzte Präsident wird in Kabul aufgeknüpft) kommt es im ganzen Land zu Machtkämpfen unter „unseren Freiheitskämpfern“, die sich als untereinander verfeindete Gruppierungen und Stämme entpuppen. Ab 1994 werden die Taliban (eine Mujahedin-Gruppe aus Pakistan) immer stärker und werden von den USA wegen ihrer anti-iranischen religiösen Ausrichtung als denkbare künftige Zentralmacht gefördert. Seit1996 regieren sie Afghanistan von Kabul aus, 1997 haben sie drei Viertel des Landes erobert. An ihrem religiösen Fundamentalismus, der die zivilisatorischen Fortschritte der Vorgänger-Regierung zunichte macht, die Frauen wieder in ihr Haus und unter ihre Burka schickt usw., stört sich niemand im Westen. Zunächst. Erst als radikalislamische Gruppen den USA im Jemen und in Afrika mit kleineren und größeren Terroranschlägen zu schaffen machen, ändert sich die Stimmung. Die afghanischen Taliban bieten nämlich Osama bin Ladin und anderen islamischen Kämpfern Unterschlupf. Gegen amerikanische Auslieferungsgesuche bleiben sie stur – und machen sich damit selbst verdächtig. Jetzt wird der Vorwurf von Menschenrechtsverletzungen aus der Schublade gezogen. Und in der öffentlichen Meinung unten durch sind die radikalen Koranschüler, als sie Anfang 2001 die Buddha-Statuen von Bamiyan sprengen, die die UNO zum Weltkulturerbe erklärt hat ...

Mission Enduring Freedom 

Nach den nine-eleven-Anschlägen auf das World-Trade-Center u. a. rufen die USA einen weltweiten „war on terror“, einen Krieg gegen den Terrorismus aus. Sein erstes Ziel wird Afghanistan, dessen Taliban-Regierung jetzt offiziell beschuldigt wird, der Organisation von Osama bin Laden, Al Quaida, Unterschlupf geboten, sich somit antiwestlicher Bestrebungen schuldig gemacht und die Anschläge ermöglicht zu haben. Bush verkündet: „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns!“ und will diesen Anspruch Amerikas exemplarisch exekutieren. Das renitente Regime in Kabul soll gestürzt werden, Afghanistan eine demokratische Regierung wählen und zukünftig stabile, prowestliche Politik machen – das ist das erklärte Ziel des Kriegs, der den Namen „Enduring Freedom“ erhält und eine „Mission“ sein soll. Die UN segnen das Vorhaben als legitime Selbstverteidigung der USA ab, der Krieg ist damit völkerrechtlich legitimiert.

Die Nato ruft den Bündnisfall aus und verpflichtet die Nato-Partner zur Teilnahme, was ihr auch zugesagt wird. Deutschland beteiligt sich unter der Schröder-Fischer-Regierung mit etwa 3.500 Soldaten und stellt damit das drittgrößte Kontingent. Auch wenn der von Amerika ausgerufene Krieg gegen den Terror nicht unbedingt erste bundesrepublikanische außen- und sicherheitspolitische Priorität ist, will das wiedervereinigte Deutschland an dieser Stelle die geforderte Solidarität in der Nato nicht verweigern und darüber hinaus in Zentralasien (wie schon zuvor auf dem Balkan) als neuer weltpolitischer Mit-Ordner dabei sein.  Das deutsche Kontingent soll deshalb – nach den großen Luftschlägen der US-Militärmaschinerie, mit denen die Talibanherrschaft im Nu gebrochen wird, so dass deren Repräsentanten und Anhänger auf der Flucht sind und von US-Einheiten gejagt werden – im Norden des Landes für Ordnung sorgen. Auf der „Petersberger Konferenz“ im Dezember 2001 bestimmen die alliierten Staaten Karsai zum afghanischen Staatspräsidenten und sorgen dafür, dass die Afghanen dies im Oktober 2004 in einer demokratischen Wahl bestätigen.

Wir bohren Brunnen

Sicher, auch in Deutschland gibt es seit dem Kriegseintritt die Sorte Kriegsbegründung, die sowieso immer aufgelegt wird: „Verteidigung“. „Unsere Sicherheit wird am Hindukusch verteidigt“ (Verteidigungsminister Struck 2002). Ohne dass da groß ausgeführt würde und werden müsste, wie es kommt, dass man so weit von der Heimat entfernt Sicherheitsinteressen hat, die einen Krieg wert sind, wird ein nationales Interesse angesprochen, das man mit ihm verfolgt. Das ist dann schon so viel wie ein guter Grund, selbst wenn mancher Bürger nicht so recht erkennen kann, dass die Taliban Deutschland gefährden könnten. Die von Otto Schily oft bemühte gedankliche Krücke, auch hier in Deutschland könnten islamistische Terroristen zuschlagen (die in einem von uns  nicht kontrollierten Afghanistan herangezüchtet würden), tut an dieser Stelle ihren guten Dienst – auch wenn derselbe Innenminister seit dem deutschen Kriegseintritt (also wegen ihm!) eine erhöhte Anschlagswahrscheinlichkeit ausruft.

Von Anfang an aber legt die Bundesrepublik besonderen Wert darauf, dass sie mit ihren Soldaten für etwas anderes steht als einfach Krieg. Der grüne Außenminister Joschka Fischer spricht mit tiefen Sorgenfalten auf der Stirn von der „bloß“ militärischen Sichtweise Amerikas und verlangt eine Perspektive für den zivilen Aufbau Afghanistans. Die „rote Heide“, SPD-Entwicklungsministerin, stellt den deutschen Einsatz bei der Bundestags-Abstimmung mit zitternder Stimme als uneigennützigen Hilfsdienst für unschuldige afghanische Mädchen und Frauen dar, die schwer unter den Taliban zu leiden gehabt hätten. Gerade Politiker der rot-grünen Koalition tun sich damit hervor, die ersten Kriegseinsätze der Bundeswehr mit den höchsten moralischen Weihen versehen – und damit auch die „Generation der 68er“ samt friedensbewegten Anti-Nato-Vorstellungen ins Boot zu holen.

Hatten Fischer und Scharping im Kosovo-Krieg noch „Auschwitz“ als unwidersprechliches Argument für ihr Vorhaben ins Feld geführt, sind es diesmal die Ideale von Frauenbefreiung und sexueller Gleichstellung. Was in der Bundesrepublik selbst gerade einmal in den letzten Jahrzehnten (und zwar gegen den erbitterten Widerstand von Konservativen, Kirche und Bayern) herbeireformiert wurde, soll einen absolut einleuchtenden Grund dafür abgeben, das zentralasiatische Bergland mit Krieg zu überziehen?! Professioneller ist in der Tat selten geheuchelt worden. Und das Tollste: Das zieht! Und nicht bloß bei intellektuellen Moralisten! Auch wenn das breite deutsche Publikum die Kriegsbegründungen im einzelnen für ein bisschen abseitig halten mag – die Kriegseinsätze seiner Bundeswehr hält es im Kern für ebenso berechtigt wie es Deutschland als Nation in Ordnung und über jeden Zweifel erhaben findet. Dieses staatsbürgerliche Urvertrauen wird durch die schönen Kriegsideologien der rot-grünen Marketing-Strategen abgerufen und bekräftigt, auch wenn hier und da der spezielle Nutzen dieses Einsatzes „für uns“ etwas bezweifelt wird.

Von da an kursiert in der deutschen Öffentlichkeit jedenfalls als allgemein geglaubte Behauptung, die Bundeswehr sei in Kunduz als eine Art Technisches Hilfswerk tätig. Deutsche Soldaten bauen Schulen, bohren Brunnen und werden vom afghanischen Volk geliebt – so mit allem gebotenen Ernst, von entsprechendem Bildmaterial begleitet, die Heimatpresse.

Anders die lieben Verbündeten – an deren Auftreten nimmt man Anstoß. Die US-Truppen und teilweise auch die der Engländer machen in den Augen der deutschen Öffentlichkeit so ungefähr alles falsch, was man falsch machen kann. Mit ihren Rambo-Methoden richten sie das eine oder andere Massaker an der afghanischen Zivilbevölkerung an, foltern Kriegsgefangene in Guantanamo und weiteren geheimen Knästen, schrecken mit ihrem schwer bewaffneten und herrischen Auftreten die Afghanen ab. Mit diesen Feststellungen bebildert die deutsche Politik – und mit ihr getreulich der mainstream der deutschen Journalisten –, dass Deutschland sich positiv abgrenzt – sowohl von den USA als Führungsmacht wie vom Rest der Allianz. Deutschland will nicht der nach Afghanistan zitierte Vasall Amerikas sein, es hat seinen eigenen Grund für diesen Einsatz, nämlich bei den zur „Weltordnung“ befähigten und berechtigten Staaten in vorderster Front dabei zu sein. Das muss irgendwie in Szene gesetzt werden, auch wenn es der Sache nach nicht wirklich hinhaut.

Auf die Inszenierung von Distanz legt man umso mehr Wert, als sich zwischen Deutschland und den USA im Zuge des nächsten „war-on-terror“-Falls, des Irak-Kriegs, ein ernstes Zerwürfnis einstellt. Der deutsche Kanzler hat Zweifel, ob immerwährendes Zustimmen gegenüber amerikanischen Kriegsplänen die Linie der deutschen Außenpolitik sein kann, die seinem Land und dessen durch Wiedervereinigung und das Ende des Kalten Kriegs „gewachsener weltpolitischer Verantwortung“ (so heißen die neuen deutschen Ansprüche diplomatisch!) gut tut. Und dank der deutschen Mäkelei am unschönen und deswegen, so heißt es, wenig erfolgversprechenden Gebaren der anderen Einsatzkräfte (von dem Deutschland im übrigen als Trittbrettfahrer zugleich profitiert!) hat man im übrigen ein schönes Erklärungsmuster in der Tasche, als sich in den nächsten Jahren immer mehr herausstellt, dass der zunächst sicher geglaubte militärische Sieg der US-geführten Allianz in Afghanistan gar nicht das Ende dieser Geschichte ist.

Wir werden in den Krieg hineingezogen

Ab Herbst 2002 reorganisieren sich die verjagten Taliban und erobern nach und nach einige Provinzen im Süden sowie Gegenden um die Hauptstadt und sogar Vorstädte Kabuls. Kandahar ist erneut umkämpft und als Antwort auf militärische Offensiven der Nato wird irgendwann auch der Norden Afghanistans „unsicher“, wie die neue Lagebeschreibung aus Sicht der deutschen Truppe heißt. „Extremisten verwickeln Bundeswehr in Kämpfe“ (SZ) – so beschreiben die deutschen Redakteure das, was jetzt zunehmend der Fall ist. Man hält also an der Vorstellung fest, dass die deutschen Soldaten – obwohl genau dafür ausgebildet und ausgerüstet – eigentlich nicht fürs Kämpfen dort sind. Sie „werden“ (Passiv!) „verwickelt“ oder in Kämpfe „hineingezogen“. Von wem? Von „Extremisten“ oder „Aufständischen“ – auf alle Fälle sind „die Taliban“ keine „Afghanen“, sondern werden durch die Wortwahl sorgsam von diesen abgetrennt.

Dass die deutschen Soldaten ihre Stellungen immer mehr zu Hochsicherheitstrakten ausbauen, aus denen sie sich nur noch schwer gepanzert heraustrauen, und dass sie immer schneller auch mal sich „drohend“ nähernde Afghanen umnieten, soll eben nicht als Ausdruck der generellen Unbeliebtheit der ausländischen Besatzer und eben auch unserer Bundeswehr verstanden werden. Denn vor allem letztere vollführt ja nach wie vor eine „Mission“, einen „Einsatz“ oder ist für einen „Auftrag“ unterwegs, gegen den seiner humanitären Absichten wegen eigentlich niemand das Geringste haben kann. Wenn doch, dann ist das – so lautet der zielstrebige Umkehrschluss – das Werk von Leuten, die hier eigentlich nichts zu suchen haben, der Taliban. Sprengfallen, Selbstmordattentate und Hinterhalte – das sind nicht die (und zwar offenbar ziemlich bescheidenen) Mittel, mit denen hier ein Gegner seinen Krieg gegen eine in jeder Hinsicht überlegene Besatzungsarmee und ihre Teile führt und für die man keine 15 Jahre vorher, als es gegen die Sowjets ging, viel Bewunderung übrig hatte („David gegen Goliath“). Was unserer Bundeswehr gegenübersteht, sind vielmehr „Taliban-Killer“ mit ihre „brutalen Taktiken“. Jetzt kommt die Zeit der Attribute und Adjektive. „Unberechenbar. Hinterhältig. Tödlich! So kämpfen die Taliban gegen die deutschen Soldaten in Kunduz.“ Die freie deutsche Presse findet es dabei durchgängig angebracht, den Gegner der Heimtücke und Feigheit zu bezichtigen – ob er sich in weiß Gott Mut erfordernden Selbstmordattentaten opfert oder sich im oder hinter dem „Volk“ (zu dem er wieder einmal keinesfalls gehört!) „versteckt“, statt sich mit flatterndem Kaftan und offenem Visier von unseren Patrouillen aus ihren Fuchs-Panzern abknallen zu lassen.

Krieg

Mit Beginn erster Scharmützel mit dem Feind entsteht eine neue – unbequemere – Lage und die erfordert nicht nur neue Einsatzbefehle. Die deutsche Öffentlichkeit verlangt nach neuen Legitimationstiteln, die das veränderte Vorgehen abdecken. Eine neue offenere Wortwahl für den Einsatz wird von der Politik eingefordert. Die Sprachregelungen von gestern müssen über Bord geworfen werden.

Irgendwann ist die Bundeswehr dann „im Krieg“. Und zwar ziemlich genau, seit der gute Oberst Klein in einer „militärisch angemessenen Entscheidung“ (so am nächsten Tag und in den nächsten Wochen Verteidigungsminister Jung und mit ihm die gesamte bürgerliche deutsche Presse) einen Haufen afghanischer Zivilisten erledigt hat. „Wir“ müssen uns angesichts dessen dringend eingestehen, wie die „Wahrheit“ in Afghanistan aussieht. Das heißt allerdings nicht, dass irgendeine der Lügen von gestern aus dem Verkehr gezogen wird. Brunnenbohren, Mädchenschulen, humanistische Deutsche, böse nur die Taliban und ein bisschen die Amis – all das geht munter weiter. Es wird einfach nur eine kleine zusätzliche Schleife eingebaut: Man hat die Schwierigkeiten unterschätzt, die sich dem Willen zum Guten auftun.

Schaut man mit diesem neuen Drang zum „Realismus“ in das zentralasiatische Bergland, dann zeigt sich, dass von einem „Volk“, dem man immerwährende Freiheit bringen wollte, gar nicht recht die Rede sein kann. Stattdessen leben dort lauter Leute, die traditionell bockig und gewaltbereit sind, Clans, die sich untereinander bekriegen und über sich niemanden dulden, usw. usf.  Weit und breit ist auch nichts von einem Volk zu sehen, das zur Demokratie überhaupt fähig wäre – die eigene Behauptung von gestern, das brauche es unbedingt in jedem Land der Erde und dafür müsse zur Not auch ein Krieg geführt werden, lässt man diskret fallen. Nicht allerdings den damit verknüpften Anspruch auf stabile Unterordnung des Landes unter die Ansprüche, die die westliche Kriegskoalition an es stellt. Gleichzeitig fällt nun zunehmend auf, dass der afghanische Präsident eigentlich auch nur Zicken macht. Den Versuch, ihn per Wahl abzulösen, konterkariert Karsai durch kongenialen Wahlbetrug seinerseits und droht sogar, Verhandlungen mit den Taliban aufzunehmen, wenn der Westen nicht Rücksicht auf ihn und die Souveränität Afghanistans nimmt. „Haben wir ihn dafür eingesetzt?“ wird jetzt offen gefragt – nachdem man sich jahrelang empört dagegen verwahrt hat, wenn irgendjemand es wagte, diesen Mann als „Marionette des Westens“ zu bezeichnen.

Auf der Afghanistan-Konferenz in London (interessant, wo man sich jeweils trifft, um über das Schicksal Afghanistans zu bestimmen!) Anfang 2010 verständigen sich die westlichen Kriegsteilnehmer auf abgespeckte Kriegsziele: Das Land muss irgendwie in den Griff zu kriegen sein, damit man möglichst bald abziehen kann, ohne dass „Chaos und Anarchie“ ausbrechen, sprich: ein stabiler prowestlicher Kurs wieder in Frage steht. Eine Kombination aus massivem Militäreinsatz (die USA schicken 30.000 neue Soldaten für 2010) und Geldmitteln, mit denen man widerspenstige Kräfte für sich gewinnen will, wird verabschiedet, das Jahr 2010 zum „Jahr der Entscheidung“ erklärt.

Jetzt erst recht!

Kein Wunder also, dass die militärische Lage nicht „sicherer“ wird und die Bundeswehr im Frühjahr 2010 eine ganze Reihe von Toten zu beklagen hat. Die sind „im Krieg gefallen“ – darauf legt man jetzt sehr viel Wert. Zwar stellt sich die ganze Entwicklung in Afghanistan etwas misslich dar: Ein wirklicher Nutzen des ganzen Einsatzes speziell für deutsche Interessen ist immer weniger absehbar und entsprechend unbeliebt ist der Krieg inzwischen beim bundesdeutschen Volk.

Einen sofortigen Abzug aus der Kriegsregion will Deutschland aber nicht nur deswegen nicht, weil das Ärger mit den USA und der Nato nach sich zöge. Nein, eine Nation wie Deutschland, die sich inzwischen eine gehörige „Mitverantwortung“ beim Gestalten der Weltordnung, also beim Beaufsichtigen fremder Souveräne, zurechnet, ist es in einer solchen Situation einfach sich selbst schuldig, durchzuhalten und keinesfalls „geschlagen“ vom Platz zu gehen. Eine Niederlage gegen antiwestliche Kräfte in einem Drittweltland kommt für eine imperialistische Nation im Aufbruch so schnell nicht in die Tüte! (Man merkt hier auch, wie die verschärfte Lage – und nur die! – die maßgeblichen alliierten „Ordnungsmächte“ bei all ihrer Konkurrenz wieder ein wenig zusammenschweißt!)
Dafür, für den Behauptungswillen der deutschen Militärmacht, kommen die heftig beklagten Kriegstoten gerade recht. Ab sofort steht jeder neu anfallende tote deutsche Soldat nämlich nicht dafür, über den eventuell zweifelhaften nationalen Sinn des ganzen Projekts nachzudenken (einige andere Nationen haben das getan und ihre Kontingente abgezogen). Nein, jeder tote deutsche Soldat verlangt geradezu ein „Jetzt erst recht!“, andernfalls war sein Tod nämlich „sinnlos“. Zwar ist fraglich, was er davon noch haben soll –für andere aber sieht die Sache besser aus: Sich auf die bereits angefallenen Opfer berufen, um damit weitere Opfer für eine angeblich alternativlos nötige Außenpolitik einzufordern, das macht Sinn für Politik und Öffentlichkeit.

„Machen wir uns nichts vor: Der Bundeswehreinsatz in Afghanistan wird noch lange dauern. Es werden weitere Soldaten sterben. Und es wird die größte Herausforderung, diesem Einsatz einen Sinn zu verleihen. Das ist nicht nur politisch nötig, die Kanzlerin ist es den Soldaten schuldig. Wenn es überhaupt etwas Schlimmeres als den Tod gibt, dann ist es ein sinnloser Tod.“ (BILD)

Dass diese Toten nur angefallen sind, weil die deutsche Regierung die Soldaten aus ihren Erwägungen dorthin geschickt hat; dass vermutlich kein Afghane auf die Idee käme, deutsche Soldaten anzugreifen, wenn sie ihm nicht in Kunduz auf die Pelle rücken würden – darüber braucht kein Mensch nachzudenken. Denn es gilt weiterhin und (vorerst) ein für allemal: „Unsere Sicherheit wird am Hindukusch verteidigt“ (Merkel in ihrer Regierungserklärung im Bundestag, Strucks Worte von 2002 bekräftigend). Und Guttenberg legt bei der Trauerfeier noch mal nach und erklärt, dass Afghanistan kein Einzelfall bleiben wird. Die Toten können sich also freuen – ihre Opfer werden vermutlich immer sinnvoller, jedenfalls wenn die deutsche „Sicherheitspolitik“ auch noch ein paar Erfolge verbucht und nicht in ihr nächstes Trauma reinstolpert ...

Und man nutzt die Situation zu einer regelrechten kleinen Medienoffensive. Rückblickend „bekennt“ man sich „ohne beschönigende Worte“ (so heißt nämlich jetzt das Geschwätz von gestern!) dazu, dass man sich eigentlich „längst“ in einem wirklichen Krieg befindet, mit allem Hässlichen, was dazu gehört: Blut, Verstümmelung, Tod – bei den eigenen Soldaten wie bei afghanischen Kämpfern und Zivilisten. Man erklärt die eigene Darstellung des Kriegs, deren Wahrheit jeder bis gestern erbittert gegen Kritiker verteidigt hätte, zu einer Art Notlüge, zu der man in Deutschland einfach hätte greifen müssen. Die durch zwei (verlorene!) Weltkriege und sich anschließend ausbreitenden Pazifismus immer noch schwer geschädigte deutsche Seele könne einfach nicht mit allzu viel Militarismus konfrontiert werden, heißt es. Gott sei Dank scheint sich wenigstens dieser Schwachpunkt ganz rapide zu ändern. Die deutsche Seele gesundet anscheinend minütlich und verträgt inzwischen bereits serienweise Titelfotos ihrer Morgenzeitungen, auf denen ihr ein schneidiger Verteidigungsminister im coolen military-look zulächelt – oder auch schwer besorgt telefoniert, weil es die nächsten Jungs erwischt hat. Auch die Trauerfeiern werden endlich in den ihnen zukommenden Rahmen gerückt und aus der tabuisierenden Heimlichkeit mitten ins gleißende Licht der Kameras gerückt, die viel „Ernst und Stille“ abfilmen und in die deutschen Wohnzimmer transportieren. Eine niedersächsische Krankenschwester erfindet gelbe Solidaritäts-Schleifen und lässt sie sich patentieren.   

Und zum Glück steht die „Heimatfront“ (FAZ) auch in einer anderen Hinsicht verlässlich. Die 3. Gewalt, iustitia in ihrer Form als Bundesanwaltschaft, stellt das Verfahren gegen den Kunduz-Befehlsgeber Klein ein und hält fest: Deutsche Soldaten dürfen ausländische Zivilisten erschießen, ohne mit straf- oder völkerrechtlichen Konsequenzen rechnen zu müssen. Das schafft Rechtssicherheit für die Truppe, die beim Schießen bereits enorm verunsichert war. Jetzt fehlt ihr nur noch eines: ein ausdrückliches Bekenntnis des Volks, das dummerweise immer noch zu 70% am Sinn des Ganzen zweifelt. Aber keine Sorge: Det wird schon, Jungs!

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