Sarrazin und der öffentliche Streit um „Integration“ und eine angemessene nationale Bevölkerungspolitik:

Die herrschende Elite ist unzufrieden mit Prekariat und Migranten

Sarrazins Buch ist zum öffentlichen Skandal geworden: So darf man nicht über die soziale Unterschicht im Allgemeinen und muslimische Zuwanderer im Besonderen reden! Das der mehrheitliche Tenor. Bei den Vorwürfen, Sarrazin argumentiere „rassistisch“, rede gar von einem „Judengen“, geht allerdings ziemlich unter, was der Mann eigentlich will und behauptet. Sarrazin wirft den Regierenden vor, mit Hartz IV und Sozialleistungen eine Unterschicht und in der eine wachsende Menge von Zuwanderern, muslimische insbesondere, dazu zu ermuntern, sich im Sozialstaat einzurichten und zu vermehren. Ein Bevölkerungsteil, der dies nicht verdient, weil er weder leistungsfähig noch wirklich leistungswillig sei, lebe und wachse auf Kosten Deutschlands.

356 Euro Hartz IV + ein paar Zusatzzahlungen für ein paar Millionen Menschen – das hält Sarrazin für unerträglich. Es ist für ihn „unverdienter Reichtum“, in dem sich diese Unterschichtler häuslich einrichten und zum Nichtstun und Kinderwerfen animieren lassen. Was für ein Zerrbild! Machen es sich diese Schichten außerhalb der freien Marktwirtschaft bequem? Ist ihre ‚soziale Randlage‘, die Notwendigkeit, sich ohne ordentliches Einkommen durchzuschlagen nicht eher Produkt der Konkurrenz, die ständig ein Heer von Überflüssigen und damit Einkommenslosen produziert? „Entziehen“ sich Arbeitslose und Wohngeldbezieher dem alltäglichen Überlebenskampf, ist „Obst- und Gemüsehandel“ in den Elendsvierteln der westlichen Metropolen eine Frage der Lebensart und Ausweis einer leistungsfeindlichen fremden Mentalität? Oder ist der Pauperismus, der eingeborene wie zugewanderte Bevölkerungsteile trifft und zu unserer „Leistungsgesellschaft“ gehört wie das Amen in der Kirche, nicht eher das Resultat einer Wirtschaft, die mit lohnender Arbeitsleistung kalkuliert und deswegen Millionen ausmustert oder gar nicht erst anwendet? Eine politisch geförderte Schicht von Nicht-Leistern, diese Diagnose stellt die Sache auf den Kopf, macht an den Verlierern der Konkurrenz als deren Mangel und milieubedingten Charakter fest, dass sie – zum Großteil von vornherein – verloren haben.

Diese Verkehrung greifen die Kritiker Sarrazins aber gar nicht an. Im Gegenteil: Noch alle, die ihm den politischen Anstand absprechen, weil er seine Diagnose über die unwerte Unterschicht auch noch mit falschen Genen und mileubedingtem und ererbtem Mangel an Intelligenz untermauert, geben ihm in seiner Diagnose recht: Ja, es gibt eine zunehmende Minderheit „nicht-integrierter“ Menschen im Land, auf die das Etikett „Parallelgesellschaft“ zutrifft, gewisse Teile der Unterschicht – mit und ohne „Migrationshintergrund“ lassen massenhaft die Einstellung und Leistungen vermissen, die von ihnen zu erwarten sind. So macht man sie für die soziale Lage, in der sie sich wieder finden, verantwortlich. Es ist allgemeiner Konsens, dass die, die mit Leben und Auskommen in dieser Gesellschaft ein Problem haben, weil kein Bedarf an ihrer Arbeitskraft besteht, ein einziges Problem für eben diese Gesellschaft und ihre politischen Verwalter sind, eine Belastung für das Land, mit der Politik fertig zu werden hat: Sie gehören nicht dazu, müssen also dazu gebracht werden, sich ordentlich zu „integrieren“.

Ein einigermaßen zynisches Anliegen! Was wird da eigentlich von ihnen verlangt? In was sollen sich die „Problemschichten“ denn integrieren? Soviel steht beim Ruf nach Integration fest: Die Lebensbedingungen, Gesetze und Sitten der Nation, an die die sich anpassen sollen – sind bei dieser Forderung über jeden Zweifel erhaben. Wer Integration fordert, unterstellt wie selbstverständlich „Deutschland“  also die Verhältnisse, die sie zu dem gemacht haben, was sie sind, als das Maß aller Dinge. An deren Maßstäben haben sie sich zu bewähren, und zwar so, das sie alles, was an ihnen als „abweichend“, „anders“ ausgemacht wird, ablegen.

Integration erhebt den Anspruch an die einheimischen Unterschichtler und an die, die als Einwanderer der ersten, zweiten dritten Generation zählen, an sich alles zu tilgen, was ihnen als fehlendes Leistungsvermögen und Verweigerung eines ordentlichen, zu dieser Republik und ihren Sitten passenden Verhalten vorgeworfen wird. Nicht ihre Lage wird angegangen. Diese Sozialfälle sollen selber ihre Lage dadurch beseitigen, dass sie alle Umgangsweisen, mit denen sie sich mehr schlecht als recht in ihrer Lage durchschlagen, sich selber anlasten und an sich abstellen. Die Ausgegrenzten sollen sich nicht mehr „ausgrenzen“ und „abgrenzen“ von dem Vorbild eines deutschen Leistungsträgers, das ihnen als Maßstab gelungener Integration abverlangt wird. Sie sollen die Konkurrenz mit ihren Anforderungen, in der sie scheitern, als Chance und Angebot begreifen und sich die Bewährung darin als Lebenssitte zu eigen machen; sie sollen mitmachen wollen, auch wenn sie nicht gebraucht werden. Soweit Einwanderer sollen sie auch noch Beweise ihrer staatsbürgerlichen Treue zu diesem Staat erbringen. Sie sollen also all das an sich beseitigen, was die Verwalter des Ladens an ihrem Status stört, um dadurch - so das Versprechen und die Forderung – ein leistungsfähiges und als solches anerkanntes Mitglied der deutschen Gemeinschaft zu werden. Ein Ding der Unmöglichkeit – oder besser: ein Anspruch, der sich durch deren Einrichtung in ihrem sozialstaatlich geregelten Status als Bodensatz in dieser Gesellschaft laufend enttäuscht und in seinem negativen Urteil über diese „Problemfälle“ bestätigt sieht.

Da, und erst da, liegt dann auch die Differenz zwischen Sarrazin und seinen Kritikern. Die werfen ihm vor, dass er diesen Schichten „pauschal“ Fähigkeit und Willen zur Integration abspricht, wo sie ein zwar gewaltiges, aber politisch anzugehendes Problem mit „verbreiteten Integrationsschwierigkeiten“ und „Integrationsverweigerern“ sehen. Auch sie verweisen auf die Lage - „Kriminalitätsrate hoch, demographische Entwicklung besorgniserregend, muslimische Sitten mit Vorsicht zu genießen“! Aber nicht, um wie Sarrazin das Programm Integration generell in Zweifel zu ziehen, sondern sie als Anspruch zu bekräftigen, an dem sich die Problemfälle zu bewähren hätten, gerade weil ihnen die für Deutschland Verantwortlichen immerzu misstrauen.

Daran wollen die politisch Verantwortlichen keinen Zweifel aufkommen lassen und das entzweit sie mit Sarrazin, der ihnen vorwirft, „Deutschland abzuschaffen“, weil sie diese Schichten mit ihrer Sozialstaats- und Integrationspolitik vermehren, statt sie auszutrocknen. Der Mann mobilisiert die Sorge um Deutschlands Zukunft gegen die Integrationspolitik der Amtierenden. Das können die nicht leiden. Deswegen grenzen sie Sarrazin moralisch aus und geben ihm den Vorwurf zurück, den sie bei ihm gegen sich heraushören: Der Mann ist „wenig hilfreich“ (Merkel) - für Deutschland und dessen Umgang mit seinem Prekariat mit und ohne Migrationshintergrund; sogar „eine Gefahr für Deutschland“ (Gabriel), ein Nestbeschmutzer – kurz: Er schädigt und diffamiert mit seinen Angriffen gegen die Unterschicht die politischen Macher. Damit findet er massenhaft Zustimmung oben wie unten und sät Zweifel in seine Regierenden beim deutschen Volk. Das wird von der Bildzeitung noch darin bestärkt, dass man ‚so etwas‘ nicht nur denken, sondern auch sagen dürfen muss. Dagegen beharren die Verantwortlichen auf ihrer Integrationspolitik als gelungener Mischung aus Einspannen und Einreihen williger Dienstleister und Härte gegen die, die sich verweigern. Dieses Programm versprechen Regierung wie Opposition jetzt noch entschiedener und fordernder anzugehen. Sortierung und Beaufsichtigung der nationalen Manövriermasse aus aller Herren Länder sind bei ihnen gut aufgehoben.

So hat Sarrazin die nationale Debatte also schon ein Stück weit bewegt!

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Spaniens Aufruhr der „Empörten“

Vom Sozialprotest zur Parteinahme für volksfreundliche und echt demokratische Herrschaft

Aus Spanien wird eine Sorte ungewöhnlicher Aufruhr vermeldet, was in anderen europäischen Ländern in entsprechenden Kreisen Bewunderung und den Wunsch zur Nachahmung hervorruft: „Jugendproteste, denen sich allmählich Ältere aus allen Berufssparten oder den Reihen der Arbeitslosen anschlossen“ (FAZ, 23.5.), münden in spontane Dauerversammlungen nicht nur in Madrid, sondern in nahezu allen großen Provinzstädten.

Statt wie demokratisch vorgesehen auf einer genehmigten Demonstration ihre Forderungen nach

„Recht auf Behausung, Arbeit, Kultur, Gesundheit, Bildung, politische Teilhabe, freie persönliche Entwicklung und Verbraucherrechte im Sinne einer gesunden und glücklichen Existenz“ (Manifest von „Democracia Real Ya“ )

der Obrigkeit zur geflissentlichen Beachtung ans Herz zu legen, besetzen Protestierer einen Monat lang zentrale Plätze, stören die öffentliche Ordnung und halten sich – trotz nachdrücklicher Aufforderung seitens der Regierung – einfach nicht an das gesetzliche Verbot innerstädtischen Dauercampens; das alles in der Phase der Wahlen, wo gefälligst nicht protestiert, sondern gewählt zu werden hat. Das standardmäßig auf unzufriedene Bürger gemünzte Angebot, in demokratischer Abstimmung den eigenen Wunsch nach besseren Lebensbedingungen der alten oder neuen Regierungsmannschaft vertrauensvoll zu überantworten, schlagen sie gleich aus. „Was die Mehrzahl der `Indignados´ nicht gemacht hat, ist wählen zu gehen“ (Le Monde, 14.6.). Die wählenden Wutbürger von Stuttgart 21 sind nicht ihr Ding, lieber werfen sie Regierung und Opposition umstandslos in einen Topf und beiden vor, sich

„nur um die Herrschaft der Wirtschaftsgroßmächte zu kümmern und diese durch ein Zweiparteiensystem zu erhalten, welches vom unerschütterlichen Akronym PP & PSOE angeführt wird.“ (Manifest DRY).

Ganz im Gegensatz dazu legen dieselben Verächter demokratischer Sitten freilich auch viel Respekt vor selbigen an den Tag und

„riefen zu peinlicher Einhaltung der demokratischen Regeln auf. Kein einziger der 34 Millionen zur Stimmabgabe aufgerufenen Spanier sollte auf dem Weg zu den Urnen gestört werden. Keinem einzigen sollten parteiische Empfehlungen mit in das Wahllokal gegeben werden.“ (FAZ, 23.5.)

Als hätten sie sich nicht gerade dagegen verwahrt, vor den politischen Karren anderer gespannt zu werden –

„nicht einmal die Vereinigte Linke hat einen Fuß in der Tür, von Gewerkschaften ganz zu schweigen“ (SZ, 19.5.) –,

und lautstark auf den Straßen „Qué se vayan todos“ („Sie sollen alle abhauen“) skandiert, beantragen sie eine Aufstockung der Politikergilde um weitere Möchtegernanführer – Zulassung offener Listen für parteiunabhängige Kandidaten bei Wahlen (SZ, 24.5.) – und würden dem Wahlkarren gern ein paar Extraräder spendieren – eine

„Wahlrechtsreform, die kleinsten Parteien erlaubt, ihre Stimme vernehmen zu lassen.“ (Le Monde, 14.6.)

Und je länger schließlich ihr Protest dauert, desto mehr verschiebt sich die Perspektive ihres Kampfes. Neben ihrem Protest und ihren Anliegen beschäftigen sie sich mit sich selbst, debattieren ihren Zusammenhalt, also ihre drohende Selbstauflösung, sprechen sich tapfer Mut und Durchhaltewillen zu und mit der euphemistischen Aussicht „Wir gehen nicht weg, wir verbreitern uns“ beschließen sie schließlich ihr Ende.

Wie passt das alles zusammen?


Spanien verelendet sein Volk, die Jugend steht auf

Die „bestausgebildete Jugend der Geschichte, die schlechter leben wird als ihre Väter“ (El Pais, 17.5.), hat haufenweise Gründe für ihren Protest: „Sin casa, sin curro (= ohne Arbeit), sin pension“ (Demonstrationsplakat)

Die Marktwirtschaft, Inbegriff ökonomischer Vernunft, bringt nämlich im 21. Jahrhundert einen Ausschluss von ihren Segnungen zustande, der inzwischen auch Kreise ergreift, die bis neulich noch hoffen konnten, von den Fährnissen eines gewöhnlichen Lohnarbeiterdaseins verschont zu bleiben. Im

„Spanien der tiefen Wirtschaftskrise mit mehr als zwanzig Prozent Arbeitslosigkeit – 45 Prozent gar bei Jugendlichen“ (FAZ, 23. 5)

steht die lese- und schreibfähige „verlorene Generation“ auf dem Schlauch mit ihren Qualifikationen, die mangels Bedarf für einen Berufseinstieg nichts taugen und auch nicht als Schutz gegen Arbeitslosigkeit. Ihr kapitalistisches Gemeinwesen produziert Abschlüsse aller Güteklassen und schmeißt sie als „Über“qualifikationen mitsamt ihren Inhabern zugleich weg. Masters, Bachelors und andere Besserqualifizierte versauern in „beruflichen Warteschleifen namens Praktika“, zollen der vergrößerten Erpressungsmacht des Kapitals mit Taschengeldentlohnung Tribut. Mehrsprachig parlierende Produkte des Bologna-Prozesses teilen neuerdings das Klassenschicksal der lohnarbeitenden Mannschaft, schlagen sich mit – im schönen Spanien immer schon üblichen oder üblich gewordenen – Beschäftigungsverhältnissen der Tagelöhnerei durch, fristen ein Dasein in prekären Zeitarbeitsverträgen - nach oben flexible Arbeitzeiten, nach unten offene Löhne – oder fretten sich als „Mileuristas“ mit weniger als 1000 Euro Brutto-Einkommen durch. Staatsangestellte – „auf eine freie Stelle kommen durchschnittlich hundert BewerberInnen“ – (Die Wochenzeitung WOZ, 3.6.) erfahren, soweit sie überhaupt noch eingestellt werden – „Die Regierung hat die Zahl der Neueinstellungen um rund zwei Drittel gekürzt“ (ebda.) –, das Recht ihres Arbeitgebers, ein immer mieseres Lohnniveau frei bestimmen zu können.

„Die Löhne und Gehälter im öffentlichen Dienst wurden gekürzt, Renten eingefroren, das Kindergeld wurde gestrichen.“ (taz, 18.5.)

Wo solch prekäre Einkommenslagen dann auf den verbrieften Ertragsanspruch von Grundeigentümern treffen, ergibt sich die „Schwierigkeit (um nicht zu sagen die Unmöglichkeit) eines Zugangs zu einer Wohnung“ (El Pais, 17.5.) ganz von selbst, so dass die Aussichten der eigentumslosen Jugendlichen auf Familie und Hausstand dürftig sind. Sie leben

ohne finanzielle Autonomie bei den Eltern, bis sie über dreißig Jahre alt sind.“ (Le Monde, 14.6.)

Und wenn das Bankkapital seinen gerechten Hypothekar-Anteil einklagt, addiert sich das schnell auf eine fünfstellige Zahl an jährlichen Zwangsräumungen zu Lasten von kreditüberschuldeten Wohnungseigentümern und Mietern. Da prosperiert die Schicht der Obdachlosen und Sozialnotfälle entsprechend.

Zu diesen Härten, im bürgerlichen Alltag kaum oder gar nicht über die Runden kommen zu können, stellen sich die jungen Spanier einen Monat lang nicht mit der normalerweise fälligen verstärkten persönlichen Anstrengung und noch mehr persönlichem Einsatz, also einer verschärften Konkurrenz untereinander. Sie wollen sich auch nicht weiter einfach Hoffnungen machen, ihre Misere könnte vorübergehender Natur sein, auf die Krise könnte ein Aufschwung folgen, der sie vielleicht wieder besser stellt. Sie gehen auf die Straße und nerven die Öffentlichkeit und ihre Politiker mit dem Vorwurf, als „Jugend ohne Zukunft“ ein Leben mit Niedrigeinkommen, Arbeitslosigkeit und spärlicher Staatsstütze führen zu müssen, das absehbarerweise auch fürs Alter – „sin pension“ – die entsprechende Perspektive bereithält.


Vom Fehler der „Empörung“ ...

Es ist allerdings gar nicht einfach dieser flächendeckende Ausschluss von Benutzung, abgesichert durch eine spanische hoheitliche Gewalt, der die spanische Jugend in Rage versetzt. Und sie will es auch nicht beim Dagegen-Sein belassen. Kaum besetzen die „Empörten“ Plätze, führen Klage über ihre unerträgliche Lage und pfeifen Politiker aus, verfassen sie ein „Manifest“, in dem sie besonders betonen, dass sie eigentlich gar nicht aufsässig, sondern ganz brave Zeitgenossen sind, die all das ziemlich selbstverständlich finden, wogegen sie gerade antreten.

„Wir sind normale Menschen. Wir sind wie du: Menschen, die jeden Morgen aufstehen, um studieren zu gehen oder einen Job zu finden, Menschen mit Familien und Freunden. Menschen, die jeden Tag hart arbeiten.“ (Manifest)

Eine arbeitsscheue und Unruhe stiftende Minderheit zu sein, das will sich Spaniens Jugend nicht nachsagen lassen! Sie findet es nicht abwegig, sich als schwer leistungswillig und studierfreudig zu präsentieren, um damit ihr Recht auf Renitenz zu untermauern. Was wäre denn, wenn sie egoistische Nichtsnutze und nicht so anständige Menschen wären? Ginge dann der Misthaufen, auf den ihr Spanien sie geworfen hat, in Ordnung? Für sie ist ihre ungemütliche soziale Lage anscheinend kein ausreichender Grund, sich darüber aufzuregen und frech zu werden. Stattdessen weisen sie die Berechtigung ihres Protestes ausgerechnet damit nach, dass sie den Inhalt des Protestes dahinter zurückstellen. Sie regen sich über trostlose Lohn- und Arbeitsbedingungen auf und geben gleichzeitig damit an, dass sie fleißig morgens aufstehen und auch „hart“ arbeiten. Wir würden uns ja gerne vieles (vielleicht nicht alles, aber doch vieles!) gefallen lassen, wenn man uns nur mal ließe – das ist der Haupttenor ihrer Beschwerde. Kurz:

„Wir sind keine Systemfeinde – das System ist uns gegenüber feindlich“ (Plakat)

Ihre tiefe Empörung rührt also daher, dass sie sich eigentlich nur positiv aufs System der kapitalistischen Sachzwänge beziehen möchten, dabei aber feststellen müssen, dass dieses System auf sie scheißt. Die Empörung speist sich aus ihrem Beleidigtsein: Bei so viel Mitgift und Bereitschaft zum Mitmachen habe man es doch wohl nicht verdient, nicht mitmachen zu dürfen! Der enttäuschte Idealismus, dass die eigene Leistungsfähigkeit und Arbeitsbereitschaft von der Gesellschaft so schnöde links liegen gelassen wird, wird von den „Empörten“ zu einer reichlich inkonsequenten Gesellschaftskritik ausgebaut. Wenn sie allen gesellschaftlichen Erfordernissen entsprechen, also nicht an ihrem Ausschluss schuld sind, dann muss es ja wohl am „System“ liegen, wenn es seine braven Bürger so schäbig behandelt. Eine Notwendigkeit in diesem System, dessen Feinde sie nicht sein mögen, so feindlich es sich zu ihnen verhält, wollen sie andererseits nicht erkennen, nur lauter Fehler und Unzulänglichkeiten der Systemverantwortlichen.

Eine solch abgrundtiefe Enttäuschung verrät vor allem erst einmal eines: Wie fest die „Indignados“ im ersten Schritt daran glauben, ihr Spanien dürfe „seiner Jugend“ nicht „Perspektivlosigkeit“ und „tägliches Leid ohne jegliche Hoffnung“ offerieren, müsste stattdessen jede Menge Arbeit und Lebenschancen für sie im Angebot haben.
Praktisch erfahren sie zwar den ökonomischen Gegensatz, dass in einer Marktwirtschaft auch besser Qualifizierte wie sie, die wie andere nicht-vermögende Leute mit ihrer Arbeit ein Einkommen für die Bestreitung des Lebens erzielen müssen und wollen, folgerichtig davon abhängig sind, dass irgendein Arbeitgeber wegen seines Vorteils an ihrer Arbeitskraft Interesse hat und dafür Geld auszugeben bereit ist – dass sie also extra dumm dastehen, wenn diese Arbeitsplatzangebote einmal nicht zustandekommen, damit ihre Lebensperpektive futsch ist. Aber sie nehmen diesen systemeigenen Gegensatz nicht wirklich zur Kenntnis. Stattdessen deuten sie ihn als Pflichtvergessenheit der Gegenseite. Wenn sie schon drauf angewiesen sind, dann schulde es Spanien ihnen auch, sie in seine Dienste zu nehmen! Insofern glauben sie auch sehr fest daran, ihr Staat könne unmöglich das wirklich wollen, was mit ihnen läuft. Dass sie ihm das vorwerfen müssen, macht sie zu „Empörten“ und ist der ganze Inhalt ihrer Empörung: Eigentlich müsste ihr kapitalistisches Land doch eine Lebensheimat für seine Einwohner sein, in der man zurechtkommen kann – das ist der ganze idealistische Zirkel, in dem sich ihr Denken bewegt.


... über das Bekenntnis zur „friedlichen Bewegung“ ...

Mit ihrem Bekenntnis „Wir sind keine Systemfeinde“ grenzen sich die „Empörten“ gleich vorsorglich von allen politischen Vereinnahmungen radikaler Vereine ab, ob links oder rechts. Als hätte ein Verfassungsschutz ihnen die Gretchenfrage der demokratischen Herrschaft gestellt – „Wie oppositionell, wie radikal seid ihr? Seid ihr am Schluss gar staatsfeindlich gesinnt?“ –, bekennen sie sich aus freien Stücken zur Demokratie und ihren Verfahren. Dass jeder oppositionelle Widerstand in der Demokratie auf bürgerlichen Gehorsam und verlässliche Staatstreue und damit darauf verpflichtet wird, auch nichts anderes wollen zu dürfen, als das, was ihm erlaubt ist, das berücksichtigen sie gleich von vornherein in ihrem Anliegen. Das bekommt ihren Forderungen – immerhin geht es ihnen ja um nicht weniger als ihre eigene Existenzfrage – freilich nicht gut. Zum einen, weil sie damit erklärtermaßen Abstand davon nehmen, etwas durchzusetzen, sondern bereits vorab klargestellen, dass sich das im Rahmen des Genehmigten halten wird. Zum anderen, weil sie auch gar keinen Feind kennen wollen, gegen den sie etwas durchzusetzen hätten. Wenn von ihnen aus sich an dem „System“ nichts ändern muss, außer dem, dass es sie endlich auch in ihm zum Zug kommen lässt, dann kommt ihr Anstinken gegen ihren Ausschluss zwar kämpferisch daher, aber ohne eine Richtung anzugeben, wogegen es gehen soll.

Entscheidend für diese „Ziellosigkeit“ ihres Protestes ist ihr Irrtum, dass die Forderung nach casa, curro und pension nicht gegen das „System“ ginge, sondern mit ihm verträglich wäre. Zwar gibt es auf der einen Seite nichts Konstruktiveres als die Forderung, doch bitte endlich in ihm mitmachen zu dürfen. Andererseits passt dieses sehr untertänige Anliegen, das mit der eigenen Dienstbereitschaft daherkommt, überhaupt nicht „ins System“. Denn genau das, dass diejenigen, die von Lohn und Arbeit leben müssen, dieses ihr Lebensmittel auch verlässlich kriegen – das gibt es nun wirklich nicht im Kapitalismus. Ein Lohn, ein Zuhause und eine Rente, die nicht abhängige Variable davon sind, ob Unternehmer nach ihren Geschäftsmaßstäben Arbeit verwenden und Lohn bezahlen oder der Staat gemäß seinen Bedürfnissen Posten zur Verfügung stellt, so etwas ist in und mit dem System schlicht nicht zu haben.

Mit dem lautstarken Bekenntnis, als Opfer niemandem und auf nichts böse sein zu wollen, und der von der Bewegung intern nachdrücklich durchgesetzten Friedfertigkeit verbindet sich auf Seiten der empörten Jugend natürlich die Berechnung, dass ihnen genau diese ihre „Systemtreue“ honoriert und anerkannt wird. Und sie haben damit auch Erfolg – allerdings was für einen! Die spanische Regierung kommt den Protestierern in den meisten Fällen nicht grob und räumt sie nicht ab – Straßenschlachten zwischen aufgebrachten Jugendlichen und Polizisten erscheinen Zapatero & Co. unangemessen und angesichts der Wahlen schon gleich nicht opportun. In der Sache freilich ist die Regierung überhaupt nicht beeindruckt. Etwas anderes, als den Protest auf den besetzten Plätzen eine Zeitlang zu tolerieren, ist für sie nicht drin. Die Unverträglichkeit ihrer Lebenswünsche mit dem „System“, die die Protestierer nicht wahrhaben wollen, bekommen sie von diesem „System“ insofern sehr nachdrücklich vorbuchstabiert. Unbeeindruckt von den Massenprotesten verweist die Regierung auf die Notwendigkeit ihrer Sparmaßnahmen, stellt klar, dass keine einzige abgemildert, geschweige denn zurückgenommen wird. Sie erklärt damit die ökonomische Lage ihres nationalen Nachwuchses für hart, aber in der Sache schlicht unumgänglich, den wochenlangen Aufruhr also für sinn- und zwecklos. Und ebenso unbeeindruckt kontert der Ex-Ministerpräsident Gonzáles den Wahlboykott damit, dass er ihn genau aufs Wählen als die einzige kritische Aktivität, die die Demokratie ihren Bürgern zugesteht und von ihnen auch haben will, festnagelt:

„In der arabischen Welt wollen sie wählen; hier sagen sie, dass Wahlen nichts bringen.“ (SZ, 19.5.)


...zur Bettelei um eine untertänige Herrschaft

Von diesen Klarstellungen lassen sich die Jungs und Mädels auf der Plaça Catalunya und der Puerta del Sol nicht belehren. Aus welchen politökonomischen Gründen ihre Herrschaft so darauf beharrt, dass das Volk fürs herzustellende Wohlergehen Spaniens Opfer zu bringen und seinen Protest an der Wahlurne auszutoben hat, darauf verschwenden sie keinen Gedanken. Wenn ihnen ihr Staat so unmissverständlich seinen Gegensatz zu ihnen und sein Wahlangebot vorführt, dann erfinden sie einen Staat ohne Gegensätze und wollen den, den es gibt, mit ihrer Charta nachhaltigen Regierens beeindrucken. Sie imaginieren sich ein positives Prinzip der Demokratie, wo sie – unter Missbrauch von Etymologie und Vernunft – die wahren Herren derer sind, als deren entbehrliches Menschenmaterial sie sich gerade erleben:

„Demokratie (demos = Mensch, krátos = Regierung), die den Menschen gehört, wobei die Regierung aus jedem Einzelnen von uns besteht.“

Als Bürger schlechthin treten sie auf, vergessen, dass sie sich nicht wegen solcher politologischen Kalauer über die Demokratie, sondern wegen eines sozialen Anliegens zusammengefunden haben. Nicht mehr als Klasse von Ausgegrenzten, als Anhängsel eines Geschäftsinteresses, das ihnen (k)eine Arbeit gewährt, führen sie sich auf, sondern kritisieren als Staatsbürger, die sich für einen besseren Bauplan ihres Gemeinwesens zuständig erklären. Der besteht zwar in nichts anderem als in der billigen Vorstellung, dass wenn alles anders wäre, eben alles auch nicht so hässlich wäre. So arbeiten sie sich dazu vor, sich eine virtuelle Welt auszudenken, ein wahres, gutes und schönes spanisches Gemeinwesen, in dem die handfesten Interessensgegensätze zwischen ihnen und ihrer Obrigkeit ebenso wenig vorkommen wie die zwischen ihnen und all den unternehmerischen, grundeigentümerischen, finanzkapitalistischen Instanzen, die ihnen das Leben im schnöden Alltag schwer machen.

„Politiker sollten unsere Stimmen in die Institutionen bringen, die politische Teilhabe von Bürgern mit Hilfe direkter Kommunikationskanäle erleichtern, um der gesamten Gesellschaft den größten Nutzen zu erbringen.“ (Manifest)

So gleichgültig sie mit solchen Ansinnen gegenüber dem Ausgangspunkt ihres Protests, ihrer tatsächlichen Lage, werden, so zutraulich und verhimmelnd sind sie jetzt gegenüber den Politikern, wenn sie die zu Dienern eines Gemeinsinns umdichten, der der „gesamten Gesellschaft“ nützt. Da ist die wirkliche demokratische Marktwirtschaft aus dem Schneider, wenn eine ideale marktwirtschaftliche Demokratie eingefordert wird.

Dabei ist es nicht weit her mit dem, was die „politische Teilhabe von Bürgern“ ändern will. Im Prinzip muss sich nämlich gar nichts ändern, und jede Rolle im Staatsschauspiel bleibt erhalten – so „empört“ man nämlich ist, so realistisch ist man doch auch:

• Arbeitslose sind in dieser Vorstellung durchaus auch künftig arbeitslos, aber dann nur so arm, wie sie es neulich schon waren – „Wiederherstellung der Unterstützung von 426 Euro für alle Langzeitarbeitslosen“ („Vorschläge“ der DRY);

• Unternehmen unternehmen weiterhin alles für ihren Gewinn, aber einige bekommen das vom Staat sogar extra gesponsert – „Vergünstigung für jene Firmen mit weniger als 10 Prozent Zeitverträgen“ (ebda.);

• das Grundeigentum muss nicht unter mangelnder Zahlungsfähigkeit seiner jugendlichen Armutsklientel leiden – „Mietbeihilfen für junge und alle Personen mit niedrigem Einkommen“ (ebda.);

• und schließlich bleibt auch der Staat so, wie er ist, wird sogar etwas schlagkräftiger - „Beseitigung von unnötigen Ausgaben der Öffentlichen Verwaltung“ – und sogar preiswerter -„Reduktion der Militärausgaben“ .

Summa summarum spielen alle Figuren dieselben Rollen in dem neuen Stück, das die alte kapitalistische und staatliche Scheiße zum Inhalt hat, und dieselben Gegensätze leben munter weiter. Mit solchen Verbesserungsvorschlägen würde ihr Leben zwar nicht geruhsamer werden, es erspart ihnen auch keine einzige Opposition zu ihrer politischen Herrschaft – mit ihrem widersprüchlichen Ideal einer gegenüber den Bürgern dienenden, untertänigen politischen Herrschaft, die damit auch vom Staatsstandpunkt aus eine gute und effektive Herrschaft wäre, verschaffen sie sich aber den moralischen Hochgenuss, die wirkliche Politik und die von ihr eingerichteten Verhältnisse ganz schön schäbig finden zu können. Aber nicht die Prinzipien dieser Wirklichkeit sind in ihren Augen das Problem, sondern nur die Figuren, die das Sagen haben. Die Macher der Verhältnisse werden als miese Charaktere ins moralische Abseits gestellt, die Prinzipien von Demokratie und Marktwirtschaft, die sie in ihrer Korruptheit zugunsten ihrer persönlichen Interessen verraten, werden so gedanklich weißgewaschen. Wir sind

„besorgt und wütend angesichts der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Perspektive, die sich um uns herum präsentiert: die Korruption unter Politikern, Geschäftsleuten und Bankern macht uns hilf- als auch sprachlos. Und diese Situation ist mittlerweile zur Normalität geworden – tägliches Leid ohne jegliche Hoffnung.“ (ebda.)

Also darüber ist man jetzt in der Platzbesetzerszene „besorgt und wütend“! Von nicht gewährten Lebenschancen, die ihnen gemeinerweise vorenthalten werden, arbeiten sich die „Empörten“ dazu vor, ihr soziales Anliegen in ein demokratiemethodisches Wolkenkuckucksheim zu verwandeln – „eine Utopie zu formulieren und sie in die Öffentlichkeit tragen“ (FAZ, 24.5.). Und sie landen dabei, den eigenen Protest ganz auf den Kopf zu stellen, wenn sie in machtgeilen Herrscherfiguren, die nur ins eigene Portemonnaie scheffeln, und Finanzhaien, die nicht die Santander Bank, sondern nur sich selbst dick und reich machen, das negative Abziehbild von gemeinwohldienlichen Reichen und Mächtigen zeichnen. Ob sie die illegal abgezweigten Milliarden für ihre Armut und perspektivlose Ausbildung im Pyrenäenstaat verantwortlich machen oder die allgemeine Korruption anprangern – die aufmüpfige Jugend führt sich damit als Saubermann für ein ordentliches und schönes Gemeinwesen auf.


...und zur Selbstauflösung

Das Plädoyer für saubere Politiker und Banker ist allerdings nicht das letzte Wort der Bewegung. Mit ihren „Vorschlägen, von welchen sich die Bürger eine Regeneration unseres politischen Systems erwarten“ („Vorschläge“ DRY), will die „Echte Demokratie jetzt!“ gar nicht Subjekt der Verschönerung ihres Gemeinwesens sein, die sie sich so dringend wünscht. Weder kennt sie Feinde, gegen die es gehen soll, noch weiß sie einen Adressaten, der es machen soll. Wie auch, bei so einem ziellosen Engagement für eine wahre Gemeinschaft und eine gute Herrschaft, das niemanden ausschließen und niemandem böse sein will!?

„Es leben die Protestler bei der öffentlichen Veranstaltung die `echte Demokratie jetzt´ konsequent vor. Die basisdemokratische Abstimmung geschieht mit Handzeichen. Zu jedem Zeitpunkt hat jeder Bürger die Gelegenheit, selbst ans Mikrofon zu treten.“

Da inszenieren sich die Protestler selber als die besseren Demokraten, spielen diese Herrschaftsform, als wäre sie eigentlich eine herrschaftsfreie Bürgerveranstaltung, klopfen sich damit wechselseitig auf die Schultern dafür, wie recht sie doch mit ihrer Empörung haben. Ein solches Kindergartengetue gefällt dann auch der demokratischen Öffentlichkeit, die die „sozial und ideologisch amorphe Protestbewegung“ mit dem „Charme der Desorganisation“ (SZ, 19.5.) echt gut leiden kann – gerade weil sie keine politische Gegnerschaft gegen etwas werden will.

So gelangt ein zielloser Protest an sein Ende. Nachdem er – wen auch immer - nachdrücklich und im Netz und vier Wochen lang auf die nicht gewährten Lebenschancen hingewiesen, kämpferisch darum gebeten hat, dass man sich seiner Sorgen annehme, und – wem auch immer – ganz viele gut gemeinte Vorschläge unterbreitet hat, wie die demokratische Herrschaft idealer und der Kapitalismus menschenfreundlicher werden könne, hat er sich dazu vorgearbeitet, sich selbst überflüssig zu machen. Da kann das mit dem „Auseinandergehen“, um „sich zu verbreitern“, gar nicht mehr schief gehen …

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Stichwort: Liquidität 

Das akute Problem der Banken

Liquide (auf deutsch: flüssig) sein heißt, jederzeit über genügend Geld zu verfügen, um seine laufenden Zahlungspflichten erfüllen zu können. Jetzt hört man des öfteren, dass Banken zwar über jede Menge Geld verfügen und trotzdem akute Liquiditätsprobleme haben. Wie das?

Im Prinzip verfügen die Banken zwar über Geld, weil ihnen derzeit von den Zentralbanken praktisch in jeder gewünschten Größenordnung Geld = Liquidität zur Verfügung gestellt wird. Aber sie leihen sich dieses Zentralbankgeld wechselseitig nicht mehr aus. Der normale Geldmarkt, an dem Banken sich untereinander Geldkredite geben und so kurzfristige Liquiditätsengpässe überbrücken, ist derzeit zusammengebrochen. Alle Banken hegen ein abgrundetiefes Misstrauen gegeneinander – sie kennen ja ihre eigene Lage, können also leicht auf die der anderen schließen –, so dass keine ihr Geld aus der Hand gibt, jede ihr Geld festhält, also hortet.
Diese Praxis verschärft eine Notlage aller Banken, die ohnehin seit Ausbruch der Finanzkrise besteht. Die Geschäfte der Banken, mit denen sie ihr Geld vermehren, sind ins Stocken geraten. Geld im Besitz einer Bank - und das ist zum größten Teil nicht ihr eigenes, sondern von Kunden geliehenes - ist nicht dazu da, aufbewahrtzu werden, bis die Einleger es wieder für sich verwenden wollen. Mit dem Geld ihrer Kunden "arbeitet" eine Bank: Sie verleiht es an Kreditnehmer oder investiert es in Wertpapiere von Unternehmen oder anderen Banken, um damit Zinsen zu verdienen oder andere Wertzuwächse zu erzielen. Wenn diese Geschäfte laufen, ist im Prinzip auch das Liquiditätsproblem einer Bank gelöst. Gelder, die die Bank weggeben muss (an Einleger oder Kreditnehmer oder Wertpapierverkäufer), werden durch die ihr zufließenden Zahlungen (von Einlegern, oder tilgenden/zinszahlenden Kunden/Geschäftspartnern) "finanziert". Wenn aber alle Geschäfte stocken, der sog. Cash-Flow zum Erliegen kommt sieht die Sache anders aus: Die Bank muss ihr Geld festhalten oder (teils schon entwertete) Vermögenstitel zu Geld machen, um zahlungsfähig zu bleiben. Dann hat sie zwar Geld - vom Umfang her sogar viel mehr als in normalen Zeiten -, aber nicht als Resultat gelingender Geschäfte, sondern nur, weil sie es festhält bzw. von der Zentralbank damit ausgestattet wird.

So kommt es zu dem Paradoxon, dass die Banken in dem Maße ein gesteigertes Liquiditätsproblem haben, indem sie über ganz viel Liquidität verfügen. An der Bank lässt sich also sehr schön der Marx-Satz studieren, wonach Geld nur etwas taugt, wenn es als Kapital fungiert, Mittel und Resultat eines Prozesses ist, der aus Geld mehr Geld macht.

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Der Streit um „Stuttgart 21“

Ein Lehrstück in Sachen Demokratie

Demokratie ist, wenn Bürger ihre Interessen artikulieren, sich in die Politik einmischen dürfen, ja sollen. Je mehr das passiert, desto lebendiger und reifer ist die Demokratie, desto sicherer ist dafür gesorgt, dass Allgemeinwohl und unser aller Wohl auch wirklich zusammenfallen.
So oder so ähnlich lauten die Lobeshymnen von Anhängern der Demokratie, dem angeblich krassen Gegenteil von Herrschaft über das Volk. Wie die Protestierer gegen S 21, die solche Urteile wahr zu machen versuchen, behandelt werden, ist aufschlussreich. Man erfährt einiges über den wahren Zweck dieser Form der Herrschaft, bei der das Volk gefragt ist – allerdings anders, als sich das einige oder viele so denken.


Der Stein des Anstoßes

Stadt, Land, Bund und die Deutsche Bahn AG wollen in Stuttgart eine Veränderung der Trassenführung und einen Umbau des Bahnhofs. Das Projekt wird über Jahre geplant und nicht nur im Schwabenland als Jahrhundertprojekt gefeiert, denn es macht gleich in mehrfacher Weise guten kapitalistischen Sinn. Mit einer großen "Zukunftsoffensive" wollen Land und Stadt dafür sorgen, Stuttgart als Wirtschaftsmetropole zukunftsfähig zu machen und an das europäische Schnellbahnnetz anzuschließen. Für eine aufstrebende Stadt ist es schließlich wichtig, dass Menschen und Güter schnell in sie rein und aus ihr raus kommen, denn Zeit ist Geld. Zudem gewinnt Stuttgart durch den neu geplanten unterirdischen Bahnhof jede Menge schöner Innenstadtflächen, die sich wunderbar vermarkten lassen. Die Deutsche Bahn will ihre Konkurrenzfähigkeit gegenüber anderen Anbietern von Verkehrsmitteln erhöhen, d. h. Personen und Güter möglichst schnell transportieren und dabei den Kostenvergleich mit Autos oder Airlines bestehen. Die Auswirkungen der praktischen Umsetzung eines solchen Jahrhundertprojekts waren dabei keinem ein Geheimnis: 10 Jahre Baustellen in der Stadt mit Dreck, Lärm und Verkehrsstaus; Kosten in Milliardenhöhe, wobei die Planer gleich davon ausgingen, dass die am Ende höher als geplant ausfallen würden. All das sollte in den Augen seiner Befürworter allerdings nicht gegen, sondern für die Einzigartigkeit dieses Projektes sprechen.

Diese Pläne finden die Zustimmung aller ausschlaggebenden Gremien und Parteien mit Ausnahme der Grünen und der Linkspartei. Sie passieren die vorgeschriebenen Planfeststellungsverfahren. Zahlreiche Einsprüche werden in den entsprechenden Gerichtsverfahren zur Kenntnis genommen und abschlägig beschieden: Angesichts der Vorteile, die das Projekt für das Allgemeinwohl (s. o.) verspricht, gelten die beklagten Nachteile als zumutbar und sind deshalb hinzunehmen. So will es das demokratische Procedere.

Zusammengefasst im Titel des Zukunftsprojekt heißt das: „Stuttgart 21“. Stuttgart reif zu machen für das 21. Jahrhundert – das steht für ein ganz und gar unwidersprechliches Vorhaben, das im Namen des Volkes beschlossen und damit rechtsgültig ist.


Der Protest

Mit Baubeginn melden sich mehr und mehr Bürger und protestieren gegen den Umbau. Im Namen der Stadt und ihrer Parks, ihres historischen Bahnhofs und von vielem anderen mehr legen sie Einspruch ein gegen „Stuttgart 21“ und die Verschandelung ihrer Stadt durch den Umbau.

Dabei ist es nicht so, dass sie gegen die Gründe, die die Befürworter des Projekts ins Feld führen, etwas einzuwenden hätten. Ganz im Gegenteil. Auch sie sind dafür, dass ihre Stadt als marktwirtschaftlicher Standort Zukunft hat; auch sie teilen das Anliegen, dass die Fahrtzeiten der Bahn verkürzt werden sollen. Allerdings sind sie der Ansicht, dass man diese Ziele auch ganz anders erreichen kann – nämlich, ohne den alten Kopfbahnhof unter die Erde zu verlegen. Auch ohne diese Verlegung, so rechnen sie ihren Volksvertretern in komplett ausgearbeiteten Alternativplanungen vor, könne im Grunde derselbe Effekt erreicht werden und gleichzeitig würde man sich die Nachteile des „S-21-Projekts“ ersparen: Dass ganz Stuttgart jahrelang Lärm und Dreck zu ertragen hat, dass ein Teil des alten Bahnhofs zerstört wird, dass viele alte Bäume gefällt werden, eventuell Stuttgarts Mineralquellen betroffen sind, also das gesamte Stuttgarter Idyll, an dem sie hängen, kaputt geht. Und – das ist der dickste Trumpf in ihrer Argumentation – man könnte den öffentlichen Haushalten viel Geld einsparen im Vergleich zur jetzigen, auf ca. 4 Mrd. lautenden Planung wie erst recht zur wahrscheinlich um einiges höher ausfallenden Endabrechnung.
Die Protestler haben also aus den Worten der Politik vor allem herausgehört, dass es um sie, „die Bürger“, gehe, wenn die Stadt umgekrempelt werden soll, und halten höflich dagegen, dass für sie all diese Umstände gar nicht notwendig wären – womit sie allerdings eine gewisse Ignoranz gegenüber dem Zweck der ganzen Chose zum Ausdruck bringen. Sie verkennen nämlich, dass sich Land und Stadt mit dem Projekt als kapitalistischer Wirtschaftsstandort in Konkurrenz zu den Plänen und Visionen anderer ebenso gearteter durchsetzen wollen, und es deshalb bei diesem Zweck in der Tat nicht ohne Spekulation und auch nicht ohne eine gewisse Gigantomanie geht – nur so werden eben aus miefigen Städten die "pulsierende Metropolen", die die Nation von heute "braucht". Und was die Einwände gegen den Bau selbst angeht: Vielleicht wissen sie als routinierte Staatsbürger, dass hierzulande Unmut über Lärm und Dreck oder andere partikulare Anliegen sowieso keine Chance auf Berücksichtigung haben und dass man eher Gehör findet, wenn man höhere Werte ins Feld führt; vielleicht  stehen sie aber auch wirklich von Anfang an mehr auf deren Seite. Sie halten jedenfalls eine Vereinbarkeit aller möglichen „guten“ Zwecke, vom Denkmal- bis zum Naturschutz mit den Erfordernissen einer modernen Infrastruktur, für möglich und verkennen damit die gelaufene staatliche Prioritätensetzung. In der hat der Schutz von alter Architektur, Käfern und Bäumen, die privatwirtschaftlichen oder staatlichen Vorhaben im Weg stehen, einerseits einen anerkannten Stellenwert, der sich in Einschränkungen beim Planen und Bauen auch geltend macht. Andererseits werden diese Gesichtspunkte aber auf den übergeordneten höchsten Zweck der Standortförderung bezogen und daran relativiert (das ist der Inhalt der gerichtlichen Überprüfung der Einsprüche).

Statt also diese tatsächliche Zielsetzung, das staatliche Interesse in der aktuellen Definition des „Allgemeinwohls“ und die deshalb dazu gehörenden Rücksichtslosigkeiten bei der Umsetzung zur Kenntnis zu nehmen und sich einmal Gedanken zu machen über den Inhalt des hier gültigen höchsten Zwecks „Wachstum“ oder „Standort“, rechnen die Gegner ihren politischen Vertretern vor, man könne das viele Geld, das die in den Aufschwung des Geschäftsstandortes Stuttgart investieren wollen, woanders ebenso sinnvoll und vielleicht viel effektiver verwenden – bei der viel beschworenen Bildung beispielsweise oder dringend nötigen Sanierungs- und Sozialmaßnahmen. Und wieder nehmen sie politische Sprüche falsch beim Wort: Ein solch gigantomanisches Projekt passe überhaupt nicht mehr in die heutige Landschaft, wo der Staat doch überall strikt „sparen“ müsse...

Mit ihren gut gemeinten Gegenvorschlägen beißen sie bei Stadt, Land und Bahn allerdings auf Granit – die Befürworter lassen sich nicht beeindrucken und verweisen darauf, dass sie nach allen Kriterien demokratischen und rechtsstaatlichen Entscheidens voll im Recht sind. Das halten die Gegner, gerade weil sie ihrer Ansicht nach nichts als konstruktiv mitdenken, für eine der Sache nach unerklärliche Sturheit. Sie wähnen sich mit ihren Volksvertretern im Prinzip eigentlich so einig und sie halten die von ihnen ins Feld geführten Gegenargumente für so anerkannt und berechtigt, dass sie sich für das „Nein!“ der Regierenden keine rationalen Gründe vorstellen können. Und so machen sie sich auf die Suche nach Motiven, die ihre Politiker daran hindern, den Aufgaben so nachzukommen, wie sie, die Bürger, es gerne hätten. Fündig werden sie in der engen Beziehung der Politik zu einzelnen Wirtschaftsunternehmen – „Korruption“, „Ausverkauf von öffentlichen Interessen an das große Geld“ heißen die Vorwürfe. Aus den zweifellos vorhandenen überaus engen Beziehungen zwischen Politik und Wirtschaft schließen sie nicht darauf, dass die Politik ihrem ganzen Zweck nach darauf ausgerichtet ist, das Wachstum der Wirtschaft voranzubringen und dafür einiges in Kauf zu nehmen; stattdessen richten sie ihr Augenmerk auf den vergleichsweise matten Tatbestand, dass dabei natürlich auch noch entsprechend geschmiert und bestochen wird, und halten das für das Einfallstor privater Willkür bei der Findung und Verwirklichung des „allgemeinen Wohls“.

Beim Protest gegen S 21 verteidigen die Bürger also nicht nur ihr ansonsten offenbar ungemein heimeliges Stuttgart gegen den harten Anschlag eines neuen Bahnhofs, mit dem vom Ehrgeiz zerfressene Politiker bzw. die „börsengeile“ Deutsche Bahn ihre Stadt attackieren. Sie verlangen auch, dass die Politiker der zutiefst guten Meinung, die sie als demokratische Staatsbürger eigentlich gerne von ihnen hätten, endlich wieder gerecht werden sollen – und werden gerade im Namen dieser Illusion in zunehmendem Maße und in zunehmender Anzahl renitent.


Die Demonstrationen

All die betont konstruktiv und friedvoll ausgerichteten Kundgebungen und Proklamationen ändern natürlich nichts am Willen zur Fortführung der Planung und Umsetzung des Bauprojektes. Die Bagger fahren auf und die Demonstrationen nehmen noch mehr zu. Die Teilnehmer bekommen jetzt ganz praktisch vorgeführt, wozu Demonstrationen in einer Demokratie vorgesehen sind. Sie sind erlaubt, mit ihnen darf jedermann seine Unzufriedenheit zum Ausdruck bringen. Mehr aber auch nicht. Denn vor allem muss eine jede Demonstration beachten, und ihre Teilnehmer haben sich entsprechend zu benehmen, dass vorher wie nachher die Politik bestimmt, was gemacht wird. Sie haben hinzunehmen, dass die entsprechenden Maßnahmen dann auch durchgesetzt werden – ganz egal, mit welch interessanten und überzeugungskräftigen Argumenten sie aufzuwarten haben oder in welcher Masse sie angetreten sind.


Der Polizeieinsatz

Als der Protest zum praktischen Hindernis für die Fortführung der Baumaßnahmen wird, weil die Demonstranten den Schlossgarten besetzt halten, sich in Bäume, die gefällt werden sollen, oder auf Polizei-LKWs setzen, die dafür da sind, Absperrgitter gegen Demonstranten aufzustellen, lässt die Polizei den Schlossgarten mit Wasserwerfern und Reizgas räumen. Sie stellt klar, wie lange ein Protest friedlich und damit im Sinne der Politik akzeptabel ist: So lange er die Politik nicht praktisch stört und Begleiterscheinung zur ihrer Durchsetzung bleibt. Andernfalls gilt dieser Protest als gewalttätig und wird mit überlegener Gewalt niedergemacht.

Die Aufregung in der Öffentlichkeit ist groß, trifft die Polizeigewalt im Stuttgarter Schlosspark doch brave Bürger und nicht irgendwelche „Berufsdemonstranten“ oder Alternative. Dass mit denen entsprechend umgegangen wird, gilt als normal – darauf weisen alle Presseberichte vorsorglich noch einmal hin. Dass aber mit braven Bürgern so umgesprungen wird, gilt zumindest als erklärungsbedürftig. Was die Politik auch gleich besorgt: Sie stellt klar, dass jeder Bürger, der sich der Politik in dieser Art in den Weg stellt, kein vom Recht geschützter Demonstrant, sondern ein „Störer“ und (zumindest potentieller) Gewalttäter ist. So erhalten die braven Bürger gleich die nächste Lektion Nachhilfe in Sachen Demokratie: Mehrheit in der Demokratie ist nämlich nicht gleich Mehrheit. Der naiven Vorstellung der Demonstranten, dass sie durch ihre enorme Masse – inzwischen liegen die Demonstrationen im Bereich von über 100.000 – ein berechtigtes Interesse vertreten, begegnen Mappus und Co mit dem Verweis darauf, dass sie gewählt sind.

Mit der Wahl haben die Bürger schließlich ihre Repräsentanten ermächtigt, das zu tun, was für Stadt und Land das Beste ist, und das ist eben durchaus etwas anderes als das, was sich die vielen einzelnen Wähler darunter vorstellen. Einmal gewählt beanspruchen die Politiker also nach allen demokratischen Prinzipien Handlungsfreiheit. Auch gegen aktuell andere Mehrheiten im Land können und sollen sie ihre Entscheidungen durchsetzen – auf diese Pflicht zum Regieren berufen sie sich.

Alles andere wäre nämlich Populismus und hieße, sich dem Druck der Straße zu beugen.


Die Parteien

In der Öffentlichkeit gilt die ständig zunehmende Auseinandersetzung um den Stuttgarter Bahnhof als „Versagen“ der Parteien und allgemein der demokratischen Entscheidungsfindung. Die Politik leide darunter, dass sie es nicht schaffe, ihre Anliegen deutlich zu machen, sie habe ein generelles „Kommunikationsproblem“ – ganz so, als hätten die herrschenden Parteien im Staatsfernsehen und der Restpresse nicht genügend Platz, ihre Zwecke und Erfolgsmaßstäbe breitzutreten. Auch wenn diese Urteile bloß von einem ziemlich anspruchsvollen Erfolgsideal künden, dem die Regierungskunst nahezukommen habe, wird das Volk immerhin darauf aufmerksam gemacht, was der herrschaftliche Witz an der Demokratie ist: Sie soll sicherstellen, dass die Vorhaben der Politik mit Zustimmung oder Duldung durch die Bürger durchgezogen werden können. Weil das hier nicht in der sonst landesüblichen Reibungslosigkeit klappt, werden nicht nur die notorischen Nörgler in der Presse kritisch, sondern auch die Parteien kommen ins Grübeln.

Bei aller Entschlossenheit, das Projekt auch gegen den Protest durchzuziehen, entdecken vor allem die Regierungsparteien in Baden-Württemberg in den Protestanten auch ihre Wähler, die sich angesichts der Behandlung durch die Polizei von ihnen ab- und der Konkurrenz bei den Wahlen zuwenden könnten. Also sind Angebote an die Protestler angesagt: Kaum hat Mappus den von ihm angeordneten Polizeieinsatz öffentlich verteidigt, bietet er den Demonstranten Gespräche an – ohne allerdings Zweifel daran aufkommen zu lassen, dass das Gesprächsangebot nichts von seinem Willen zurücknimmt, das Projekt Stuttgart 21 durchzuziehen. Damit überhaupt der Anschein eines Verhandlungswillens aufkommt, bietet er an, all die Baumaßnahmen nicht durchzuführen, die zur Zeit sowieso nicht anstehen, und nur die weiter zu betreiben, die für die Fortführung notwendig sind. Außerdem benennt er den gewieften Polit- und Talkprofi Geißler als Schlichter, der beide Seiten an den Gesprächstisch bringen soll, um so dem Protest den Wind aus den Segeln zu nehmen. Der Zweck des Manövers ist klar: Man will eine Form finden, mit der die aufgebrachten Demonstranten und ihre Bedenken den Schein von Berücksichtigung erfahren: „Alle können mitreden, alle Argumente sollen gehört werden, alles ist offen“. Diese Einseiferei soll sie bekehren, sie sollen sich letztlich doch mit dem nicht zur Debatte stehenden Staatsprojekt arrangieren. Herrschaftsfreier Dialog, alle setzen sich zusammen und tauschen Argumente aus – dieses im Sozialkundeunterricht gepflegte Bild von Demokratie wird hier also tatsächlich mal ein Stückchen weit wahr gemacht, als Ergebnis eines staatsbürgerlichen Ausnahmezustands, zu dem die Stuttgarter Demonstranten ihre um stabile Macht- und Herrschaftsverhältnisse besorgten Politiker genötigt haben.

Die Schlichtung geht inzwischen unter besorgter Anteilnahme der deutschen Öffentlichkeit vor sich. „Kann sie klappen?“ heißt die interessierte Fragestellung – wobei der Interessengegensatz, der den Ausgangspunkt der ganzen Angelegenheit darstellt (die einen wollen den Bahnhof unter der Erde, die anderen darüber), jetzt als besondere Schwierigkeit für eine mögliche Einigung eingestuft wird.

Entsprechend hart tut sich der Schlichter gleich zu Beginn, eine Formulierung dafür zu finden, dass ein „Baustopp“ nicht heißt, dass nicht mehr gebaut wird. Er bietet den Demonstranten an, dass in einem offenen Gespräch alle Zahlen und Fakten auf den Tisch kommen müssten, ganz so, als ob der Streit mit fehlenden oder unterschiedlichen Informationen zu tun hätte. Eher ist es der nochmalige Versuch, die Protestler auf die „Sachzwänge“ der Verkehrspolitik, auf eine „realistische“ Sicht der Dinge festzulegen und so von ihren „selbstverständlich berechtigten, aber doch etwas idealistischen“ Gesichtspunkten wegbringen. In diesem Sinn gilt es schon als erster Erfolg, wenn sich der größere Teil der Protestler dazu bereit findet, sich mit denen an einen Tisch zu setzen, die gar keinen Zweifel an ihrem Willen lassen, das Projekt bis auf Nuancen unverändert fortzuführen. Ein zweiter Erfolg besteht dann darin, mit diesem Vermittlungsangebot die Front der Protestierer ein wenig aufgespalten zu haben.

Politische Profiteure des Protestes gibt es natürlich auch. Das sind zur Zeit vor allem die Grünen, die den Plänen des Bahnhofsumbaus nicht zugestimmt haben (sie haben sie aber auch nicht gestoppt, als Rot-Grün in Berlin an der Macht war!). Seither haben sie sich als politische Profis in Szene gesetzt, die das Anliegen einer besseren Infrastruktur für die Wirtschaftsmetropole Stuttgart, als sei das automatisch auch das Interesse jeden Bürgers, anders und besser verfolgen wollen. Wie ihre Politik im Falle eines Wahlsieges aussehen wird – darüber halten sie sich derzeit entsprechend bedeckt. Vielleicht setzen sie darauf, dass die regierenden Politiker Fakten schaffen, so dass sie sich bei einem eventuellen Wahlsieg außer Stande sehen, dieses Projekt zu stoppen. (eine „kritische Prüfung“ stellen sie in Aussicht, schaffen es damit aber momentan bestens, den Unmut der Bürger in tolle Umfrageergebnisse umzumünzen); vielleicht beschließen sie aber auch tatsächlich, mit oder ohne Volksabstimmung, eine alternative Verkehrspolitik (schon um als Partei "glaubwürdig" zu bleiben). In jedem Falls wird – Bahnhof hin oder her, oben oder unten – vor allem eines bewiesen sein:

Wie gut es die Demokratie drauf hat, jede Unzufriedenheit in eine Wählerstimme zu verwandeln, aufkommenden Unmut damit zu entschärfen und für die Konkurrenz um die Posten der Macht nützlich zu machen. Von neuer Unzufriedenheit profitieren dann demnächst wieder andere ...

Demokratie heißt ja nicht umsonst Volksherrschaft, Herrschaft übers Volk im Namen und mit Hilfe des Volks.

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SZ-Kommentar zur neu gewählten Regierung in Dublin

Armes Irland!

In Irland sind neue Leute an die Macht gewählt, nachdem die bisherige Regierungspartei in der Finanzkrise unter die Räder gekommen ist. Die Süddeutsche Zeitung sorgt sich um die Glaubwürdigkeit dieser neuen Regierung – und zwar lustigerweise gerade deshalb, weil deren neuer Chef sich dazu bekennt, all die Forderungen erfüllen zu wollen, die die Retter aus den kreditgebenden europäischen Hauptstädten zur Auflage gemacht haben, bevor sie Hilfe gewährten:

„Zynisch konstatieren viele Iren, dass die Namen der eigentlichen Wahlgewinner gar nicht auf den Wahlzetteln zwischen Cork und Donegal gestanden hätten: Angela Merkel und Jean-Claude Trichet. Die deutsche Kanzlerin und der Präsident der Europäischen Zentralbank, sagen sie, werden künftig die Richtlinien irischer Wirtschafts-, Finanz- und Steuerpolitik bestimmen. Wer in Dublin Taoiseach, also Ministerpräsident, sei, spiele letztlich keine Rolle.“ (SZ 28.2.11, Wolfgang Koydl, Kommentar „Gefesselter Wahlsieger“)

Für diesen Journalisten ist vieles gar nicht erst der Rede und noch viel weniger erklärenswert. Dass Irlands Politik nichts anderes zum Inhalt hat und haben sollte als die Erfüllung von Auflagen im Sinne der Stabilität des Euro und dessen Garantiestaat Deutschland, steht für ihn fest. Dass viele irische Bürger unter der Sanierungspolitik Dublins zu leiden haben werden, mit Kürzungen aller Art und auch mit Arbeitslosigkeit, ist für ihn – wie heißt es? – alternativlos. Dass „viele Iren“ angesichts dessen und ihrer Rolle ausgerechnet ihren Nationalismus entdecken, ihre Lebensinteressen mit denen ihrer Obrigkeit gleichsetzen und infolgedessen primär darunter leiden, dass ihre Regierung keine eigenständige „irische“ Politik machen kann, weil sie auf Diktate aus anderen europäischen Hauptstädten zu reagieren hat, hält er ebenfalls für das Normalste auf der Welt. Aber er ist unzufrieden mit der Unzufriedenheit der irischen Nationalisten, weil die dem nötigen freiwilligen Zusammenhalt in Europa unter deutscher Führung nicht unbedingt zupass kommt. Deshalb findet er die Einschätzung der Iren, was die irische Regierung angeht, einerseits durchaus realistisch, nennt sie aber „zynisch“ – auch wenn er einräumt, dass es für Iren derzeit schwer ist, an eine eigenständige verantwortliche Politik der eigenen Regierung zu glauben, zumal der neue Chef Kenny seine Botmäßigkeit gegenüber den europäischen Paten immer wieder selbst herauskehrt.

Europa hat deshalb, so die aparte Schlussfolgerung des SZ-Kommentators, im eigenen Interesse die Pflicht, Irland wenigstens symbolisch ein wenig entgegen zu kommen:

„Umso wichtiger wäre es, dass die EU dem neuen Taoiseach in einem Punkt entgegen kommt, wo Zugeständnisse realistisch möglich sind: beim Zinssatz von derzeit stattlichen 5,8 Prozent auf die EU-Kredite.“ (ibid.)

Während Irland ansonsten kein Pardon verdient, könnte man beim Zinssatz doch den Eindruck der Knebelung vermeiden. Wenn Merkel, Trichet und die anderen Obereuropäer durch einen kleinen Zinsnachlass den Schein erwecken könnten, dass auch die Regierung in Irland ihre Interessen ein wenig zur Geltung bringen kann, so dass die sich ihren Bürgern als Wahrerin von deren Interessen verkaufen kann, dann ist die unter Nationalisten doch schnell vergiftete Atmosphäre in Europa gerettet und die Sanierungspolitik in Irland kann ihren Gang gehen – zum Wohle des Euro und der starken Euroländer.

So geht Völkerfreundschaft.

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