Sozialistisches Studium an der Fachhochschule Sozialwesen:

Von der Bürgerinitiative zum Häuserkampf: das Dilemma des Reformismus


Die Ausbildung zum Sozialarbeiter an der Fachhochschule beansprucht erst gar nicht, wissenschaftlich zu sein: laut bayerischer Rahmenrichtlinien soll sie lediglich „wissenschaftsbezogen“ und darüber hinaus „praxisorientiert“ sein. Dort, wo ein bestimmtes Wissen erforderlich ist, geht es zugleich um dessen Funktionalisierung für die Praxis. In der sogenannten „projektorientierten“ Ausbildung wird die Anwendung von Kenntnissen auf die verschiedenen Gebiete der Sozialarbeit explizit zum Gegenstand des Unterrichts, was im weiteren dazu führt, daß zur Wissensvermittlung nur noch Methoden und Techniken trainiert werden, welche je nach Situation Verwendung finden sollen. Der bestehende Ausbildungsbetrieb findet noch einmal seine Bestätigung in den Forderungen der übrigen linken Gruppen an der FHS (MSB, KHB, KSV), wonach lediglich eine andere, fortschrittliche Praxis als Kriterium dafür herhalten soll, was die Ausbildung zu vermitteln hat. Nicht das Wissen über die Gesellschaft soll die Praxis dieser Gruppen bestimmen, sondern umgekehrt soll die wissenschaftliche Arbeit den ungenauen Vorstellungen einer gesellschaftsverändernden Praxis dienstbar gemacht werden, ob nun eine Ausbildung zum Sozialarbeiter zum Zweck der Demokratisierung der Gesellschaft oder im Interesse der Massen bzw. des Volkes gefordert wird.

Der Aufsatz von Claus Offe (Bürgerinitiativen und Reproduktion der Arbeitskraft im Spätkapitalismus in: Fischer-Taschenbuch Nr. 1233) ist einem solchen Ausbildungsziel adäquat und kann als exemplarisches Beispiel dafür dienen, wie ein vorweggenommener praktischer Anspruch die theoretische Erarbeitung des Gegenstands verdirbt. Und da es Offe allen linken Gruppen, die im Reproduktionsbereich arbeiten, sichtbar recht machen will, ist die große Resonanz, die dieser Artikel bisher gefunden hat, nur eine zwangsläufige Folge.

Linke Sozialarbeiter haben sich gerade in den letzten Jahren immer wieder gegenüber einer radikalen Interessenpolitik im Reproduktionsbereich als anfällig erwiesen: von den Fürsorgeheimkampagnen im Anschluß an die Studentenbewegung über die Aktionen auf dem Jugendhilfetag 1970 zu Nürnberg bis hin zu den jüngsten Hausbesetzungen. Daß uns die antikapitalistischen Intentionen solcher Aktionen glaubhafter erscheinen, als etwa die letzte Würstchenaktion des MSB/Spartakus vor der FHS zugunsten einer neuen Mensa, ändert jedoch nichts daran, daß wir zu deren gemeinsamen Charakter als Bürgerinitiativen keinen objektiven Gegensatz zum Kapitalismus auffinden können. Und es soll deutlich werden, daß auch mit einer „Strategie kalkulierter Gewaltakte“ – wie sie in Offes Theorie vorgesehen und zuletzt vom Frankfurter Häuserrat realisiert worden ist – die demokratischen Rechtsverhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft noch einmal ihre Bestätigung finden.


Die relative Unerträglichkeit des Spätkapitalismus

Offe begründet die Notwendigkeit einer neuen antikapitalistischen Strategie mit den veränderten Bedingungen des heutigen (Spät) -kapitalismus Doch es bleibt völlig unklar, ob sich nun der Kapitalismus in seinen objektiven Grundlagen oder nur in seinem äußeren Erscheinungsbild verändert hat. Gegenüber dem „Massenelend der Arbeiterklasse im Frühkapitalismus“ sollen heute die „Phänomen' des Elends“ an den gesellschaftlichen Randgruppen wie auch an der Armut der Länder der dritten Welt um Vorschein treten (152 f). Und Offe ist sich unter Berufung auf André Gorz gar „nicht mehr so sicher, was das Schlimmste ist“, da die „Unerträglichkeit des Systems“ heute nicht mehr absolut, sondern „nur noch relativ“ sein soll. (153) So heißt es einmal, daß die Reproduktion der Arbeiter im Spätkapitalismus gesichert ist und sich die Unerträglichkeit ihrer Lage „nicht unmittelbar in der Unzulänglichkeit ihres Geldeinkommens“ zeigen soll, zum anderen ist aber gerade davon die Rede, daß die Reproduktion der Arbeitskraft von „neuen Formen der Verarmung“ betroffen ist, was auch nicht durch steigende Löhne wettgemacht werden kann. (153 f.) Demnach hat sich der Kapitalismus gerade nicht verändert, sondern lediglich das aus den veränderten Erscheinungsformen resultierende Bewußtsein der Arbeiter, welches durch die Erfahrung ansteigender Löhne verstellt ist: der Spätkapitalismus wird somit nur anders erfahren als der Frühkapitalismus.


Gesellschaftliche Disparitäten und kapitalistischer Grundwiderspruch

Nach Offe treten heute entscheidende Mängel in der Reproduktion des Arbeiters in den Bereichen auf, die vom Staat organisiert werden: Ausbildung, Erziehung, Gesundheit, Verkehr usw. Und weil der Staat die erhöhten gesellschaftlichen Kosten, welche nötig sind, um dieselbe Arbeitskraft für den Gebrauch des Unternehmers zu erhalten (154), „nicht aufbringen kann, sollen im Spätkapitalismus die, „Erscheinungsformen relative Armut und Verelendung“ nach Offe „außerhalb des Produktionsprozesses“ liegen. Und obwohl Offe gerade im Widerspruch von Lohnarbeit und Kapital die „Wurzel aller Erscheinungsformen“ und damit neu auf tretende Reproduktionsschwierigkeiten objektiv begründet sieht (157), heißt es an anderer Stelle, daß sich die kapitalistische Ausbeutung auf die vom Staat organisierten „disparitären Lebensbereiche“ verschoben hat (164), von denen es ein paar Zeilen weiter wiederum heißt, daß der Staatsapparat die Organisation dieser Lebensbereiche „gemäß den Bedürfnissen des Kapitals“ vornehmen muß. (Dieser Widerspruch bestimmt im übrigen die gesamte sogenannte Disparitätentheorie, wonach einerseits „neue Formen der sozialen Ungleichheit nicht mehr als Reflex ökonomischer Klassenverhältnisse zu definieren“ sind, andererseits aber wieder einschränkend gesagt wird, daß diese Ungleichheit „nicht vom Produktionsprozeß unmittelbar“, sondern über politische Entscheidungen vermittelt ist. (So bei Offe, Politische Herrschaft und Klassenstrukturen, in: Politikwissenschaft, Ffm 1971, S. 153 ff.)


Zur Funktion des Staates

Soll der Staat also einerseits für die gesellschaftlichen Disparitäten selbst verantwortlich sein, damit die Reproduktion der Arbeitskraft eigenständig regeln zu können, so sieht Offe andererseits die „primäre Funktion des Staatsapparates“ in der Erhaltung der „Mechanismen kapitalistischer Verwertung'“' (155). Und es soll gerade in den Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Produktion begründet sein, daß das „Kriterium bloßer Reproduktion der Arbeitskraft“ eine „typische Obergrenze“ setzt sowohl für das jeweilige Arbeitseinkommen wie für die Versorgungsleistungen des Staates. (157) Damit wird von Offe immer wieder zugestanden, daß die staatlichen Versorgungsschwierigkeiten auf das kapitalistische Lohnverhältnis zurückzuführen sind, demnach orientiert sich Offe im Gang seiner Argumentation lediglich an den neuen „Erscheinungsformen des Elends“ und den darauf resultierenden Ansprüchen der Arbeiter an die staatlichen Institutionen.

Das Dilemma der Bürgerinitiativen

Daß die Bürgerinitiativen nur die „politischen Rahmenbedingungen“ und nicht die betrieblichen Produktions und Herrschaftsverhältnisse selbst“ verändern wollen, ist schon Offes Eingeständnis darüber, daß Bürgerinitiativen nicht auf die Beseitigung der Ursachen konstatierter Reproduktionsmängel abzielen. Offe sieht selbst die Gefahr, daß Bürgerinitiativen nur als „politisch belanglose Formen kollektiver Selbsthilfe“ oder als „willkommener Partner der Verwaltung“ angesehen werden, doch seine eigenen Aussagen machen deutlich, daß auch sein antikapitalistischer Anspruch dieses Dilemma der Bürgerinitiativen nicht vermeiden kann:

– Bürgerinitiativen kämpfen für eine „erweiterte Reproduktion der Arbeitskraft“, wobei von Offe zugestanden werden muß, daß der Gebrauch dieser Arbeitskraft weiterhin dem Kapitalisten zugute kommt.

– Ebenso ist auch die Form der Bürgerinitiative als „Selbstorganisation der unmittelbar Betroffenen“ (159) nur Mittel zur Verbesserung der individuellen Reproduktion als Lohnarbeiter und damit auch der Reproduktion des Kapitalverhältnisses.

– Auch einer „Strategie kalkulierter Gewaltakte“ (163) geht es nur um eine Parität der Lebenschancen und damit um einen gerechten Interessensausgleich zwischen Kapitalist und Arbeiter.

Daß mit solchen Aussagen das „immanente Ziel“ der Bürgerinitiativen auf „Abschaffung der Herrschaft des Kapitals“ (164) nicht einzulösen ist, bringt Offe selbst auch in einem anderen Aufsatz über Bürgerinitiativen zum Ausdruck, wenn es heißt, daß er darauf verzichten will, „revolutionäre und rätedemokratische Strategie-Modelle einzubeziehen“, welche auf die „Legitimationskriterien des antikapitalistischen Kampfes und einer sozialistischen Gesellschaft festgelegt sind“. Derartige „theoretische Konsequenzen und praktische Schlußfolgerungen“ – so meint Offe – können nicht akademischen Kolloquien überlassen werden, sondern nur Organisationen, „die sie auch zu ziehen bereit sind“, (in: Strukturprobleme des kapitalistischen Staates, Ffm. 1972, S. 140)


Wissenschaft im Dienst der Wohlfahrt

Diese letzte Aussage beweist darüber hinaus, daß für Offe verschiedene theoretische Erklärungsversuche gleichberechtigt nebeneinander existieren können, daß es offenbar nur eine Frage des jeweiligen Standortes ist, welcher Theorie man den Vorzug gibt. Doch der Nachvollzug seiner eigenen Theorie hat diese bereits disqualifiziert: mit der Orientierung an den unmittelbar aufgefundenen Erscheinungsformen des „Spätkapitalismus“ hat Offe seinen Anspruch, eine wirkliche Erklärung für die Reproduktionsschwierigkeiten des Arbeiters zu finden, aufgegeben. Offe bezieht sich positiv auf das vorherrschende Bewußtsein der Arbeiter und deren Ansprüche an den Staat, obwohl er selbst Argumente dafür genannt hat, daß die objektive Gefährdung der Reproduktion im Lohnarbeitsverhältnis begründet liegt, dessen Abschaffung vom Staat gerade nicht erwartet werden kann. Offe unterwirft sich im Gang seiner Analyse den praktischen Ansprüchen bestehender Bürgerinitiativen: gleiche Reproduktionsbedingungen für Kapital und Arbeit und damit die Durchsetzung von „Wohlfahrt in einem Sinne, der nicht schon von den Interessen der herrschenden Klasse verfälscht ist“ (153). Und wem eine solche Forderung als „unvernünftig“ oder „übertrieben“ erscheint, der möge sich laut Offe

„vergegenwärtigen, daß er für die Seite des fixen Kapitals dauernd wie die simpelste Selbstverständlichkeit angewandt wird: Abschreibungen bis zu 200 Prozent sind heute keine Seltenheit ...“ (155) (So etwa nach dem Motto: was dem fixen Kapital recht ist, kann dem variablen nur billig sein!)

Auch dieser willkürliche Umgang mit Marx’schen Kategorien beweist nur, daß ihm auch diese nur als Mittel für einen vorausgewußten Zweck dienen. Die Aussagen von Marx werden nicht als Erkenntnisse genommen und auf ihre Richtigkeit hin überprüft, sondern lediglich unter dem Gesichtspunkt der Nützlichkeit für die eigene Auffassung herausgegriffen und auf die Praxis angewandt. Was Offe an den Vulgärmarxisten als Dogmatismus kritisiert, fällt auf ihn selbst zurück: in seinem Fall verhindert die Parteinahme für Bürgerinitiativen eine wissenschaftliche Erkenntnis der Gesellschaft. Und daß gegenüber einem unbegriffenen Kapitalismus keine begründete antikapitalistische Praxis geführt werden kann, versteht sich dann sogar von selbst. Was Offe von vielen Zeitgenossen gerade noch angerechnet wird („endlich ein Wissenschaftler, dem es um praktische Veränderungen geht“) hat sich als Ausdruck seiner eigenen Unwissenschaftlichkeit ergeben.


Bürgerinitiativen als Aktivierung der Öffentlichkeit

Wenn Offe also den „spätkapitalistischen Staat“ beschreibt, so zeigt er nur bestimmte Bezüge auf, die er dann als „kapitalistische“ etikettiert, deren Bedingtheit durch das Kapitalverhältnis er aber gerade nicht nachweist. Indem er so verfährt und solche Analyse zur Begründung einer Praxis her nimmt, erkennt er nicht die wirklichen kapitalistischen Bewegungsgesetze und formuliert Vorschläge für eine Praxis, die nicht die Beseitigung der kapitalistischen Verhältnisse zu erreichen geeignet ist. Anders gesagt, in seinen Aussagen sitzt er selbst noch einmal den Erscheinungsformen den kapitalistischen Wirklichkeit auf, die er gerade kritisieren wollte.

Den Mangel von Bürgerinitiativen formuliert Offe mehrfach selbst, ohne zu ahnen, daß auch seine Vorschläge sich von den kritisierten prinzipiell nicht unterscheiden. Er schreibt: Bürgerinitiativen basieren häufig „auf dem liberalen Vertrauen,“ daß der Staat den Wünschen der Bürger bei entsprechendem Druck schon nachgeben werde (160). An anderer Stelle heißt es, sie könnten Gefahr laufen, nur „als Frühwarnsystem“ zu fungieren (161). Als Lösung dieser Mängel fordert er Radikalität, die vor allem darin bestehen soll, eine „Kombination von Verhandlungsstrategien und kalkulierten Gewaltakten“ (163) anzuwenden. Was drückt aber die Formulierung „kalkulierte Gewaltakte“ aus? Doch zunächst nichts anderes als eine Kritik an dem Bestehenden, die zum Ausdruck bringt, daß sie eine Mißachtung ihrer Forderungen nicht hinnehmen will. Insofern der Kritik aber durch kalkulierte Gewaltakte Nachdruck verliehen werden soll, gibt sie sich als partielle zu erkennen. Man ist nicht darauf aus, den Kapitalismus überhaupt infrage zu stellen, vielmehr akzeptiert man prinzipiell das Bestehende und hält sich auch grundsätzlich an den existierenden Rahmen und die Spielregeln.

Der in dem Gewaltakt vollzogene Rechtsbruch unterstellt damit nur die Aufrechterhaltung der bestehenden Rechtsordnung. Was Offe vorschlägt, ist also doppelt bestimmt: als Identifikation mit dem Staat einerseits und als Kritik mit dem, was die Staatsagenten zur Zeit machen, andererseits. Dies ist aber genau das, was schon die Institution der Öffentlichkeit in der bürgerlichen Demokratie vorsieht. In ihr äußert der Bürger seine Meinung zum Handeln der Staatsagenten, er vergleicht das, was sie im Namen des Gemeinwesens vornehmen mit seinen partikularen Interessen, worin auch die Möglichkeit eingeschlossen ist, sein Unbehagen am Staatshandeln auszudrücken. In diesem Verhalten ist aber die prinzipielle Loyalität gegenüber dem Staat impliziert, der Bürger kritisiert lediglich die besonderen Formen, in denen der Staat ihm gegenübertritt, nicht aber die Bedingungen, die ihn notwendig machen.

Dazu gibt es jedoch allen Grund: Die Institution der Öffentlichkeit selbst weist schon den prinzipiellen Widerspruch des bürgerlichen Staates auf. Indem die Bürger die Handlungen des Staates mit ihren besonderen Interessen vergleichen, brauchen sie den Staat als Mittel für ihre Zwecke: er soll ihnen die Bedingungen sichern, unter denen sie ihre Privatinteressen verfolgen können. Doch als bloß formeller Zusammenschluß ist der bürgerliche Staat nicht wirklich identisch mit dem Willen der Bürger, er ist ein äußerer Zusammenhang und tritt den Bürgern deshalb als Zwangsgewalt entgegen. Dieser Widerspruch, der in der Existenz des Staates selbst liegt, wäre zu kritisieren.

Daraus ergibt sich, daß eine Strategie der „kalkulierten Gewalt“ am Wesentlichen vorbeigeht. Sie erkennt nicht den Staat als das zu kritisierende Gewaltverhältnis, sondern sieht den Mangel in der Durchsetzung bestimmter politischer Konzepte in diesem Staat, also in der Besonderheit der jeweiligen Ausformung des Staates.

Während in der Strategie der kalkulierten Gewalt nicht mehr Einsicht und nicht mehr politische Perspektive als in allen gewaltlosen Meinungsäußerungen liegt, die sich in der bürgerlichen Öffentlichkeit vorfinden lassen, so widerspricht sie doch in ihrer Form dem, was die Institution der Öffentlichkeit ausmacht.

Wo Bürgerinitiativen versuchen, die Gleichheit der Reproduktionsbedingungen mit Gewalt herzustellen, verstoßen sie zwar gegen das Gewaltmonopol des Staates, bestätigen aber gerade dessen Aufgabe, den prinzipiell gewaltfreien Zustand des bürgerlichen Rechtsstaates zu gewährleisten. Auch dem Staat ist Gewaltanwendung nur ein Mittel, bürgerliche Freiheiten und damit die Verfolgung der Privatinteressen von Kapitalist und Arbeiter zu garantieren. Und so sind selbst solche militante Aktionen wie die des Frankfurter Häuserrats letztlich nur ein Hinweis an den Staat, seiner Aufgabe besser nachzukommen. Und wie sehr auch hier auf der Basis der vorgefundenen Rechtsverhältnisse argumentiert wird, zeigen die veranstalteten Tribunale (Spekulantentribunal und Foltertribunal), auf denen die „Gewalttätigkeit“ der Polizei angeklagt und demonstriert werden sollte, „daß wir im Recht sind, wenn wir uns dagegen wehren“ (wir wollen alles, Nr. 15/April 74, S. 4).


Ansprüche der Bürger und staatliche Sozialpolitik

Nicht nur in der Form, in der sich die Bürger auf den Staat innerhalb der Offeschen Strategievorstellungen beziehen, liegt die Affirmation der kapitalistischen Verhältnisse, sondern schon in der Tatsache, daß sie sich mit Ansprüchen an den Staat wenden. Offe sieht die Gefahr, daß Bürgerinitiativen sich

„zum Anhängsel statt zum radikalen Opponenten einer wohlfahrtsstaatlichen Administration machen, deren Reform-Anstrengungen allerdings nach wie vor nicht über das Gebot hinausgehen, die notwendigsten infrastrukturellen Vorleistungen für den relativ störungsfreien Fortbestand kapitalistischer Herrschaftsverhältnisse bereitzustellen.“ (161)

In solchen Sätzen zeigt sich, daß Offe das Scheitern der „Sozialpolitik“ in unserem Staate festgestellt hat, daß er ahnt, daß der Staat nur kompensatorisch in den Reproduktionsprozeß der Gesellschaft eingreift, daß alle staatlichen Handlungen nur den Fortbestand der kapitalistischen Gesellschaft zum Resultat haben. Die Überwindung dieses Dilemmas sieht Offe in der Durchsetzung von Ansprüchen gegenüber dem Staat.

Er unterstellt mit der Formulierung dieser Strategie, daß das Scheitern der Sozialpolitik des Staates nur zufällig auftritt, daß es nicht notwendig mit der Existenz des bürgerlichen Staates gegeben ist. Er erwartet, daß innerhalb des Staates sich rationellere „kollektiv solidarische Organisationsformen“ als Reproduktionsbedingungen der Arbeitskraft ergeben (156). Er bringt dann aber selber Argumente dafür, daß außerhalb des Staatsapparates Bedingungen existieren, die derartige Organisationsformen verhindern: das Interesse der Industrie an der Produktion individueller Konsumgüter und „die ideologische und institutionelle Fiktion des Individualismus“ (157). Es liegt also offensichtlich nicht „nur“ in der Willkür der Staatsagenten, daß keine „rationelleren Organisationsformen“ existieren. Es findet sich schon in der Gesellschaft selbst der Grund für dieses Handeln des Staates.

Der Staat zeigt sich in den Ausführungen Offes als eine Institution, die mit den Ansprüchen seiner Bürger konfrontiert ist, auf die sie reagieren muß: Stehen auf der einen Seite die Forderungen des Kapitals, daß der Staat die Voraussetzung für eine bestmögliche Profitmaximierung schaffen möge; so stehen auf der anderen Seite die der Arbeiter: er möge für optimale Aus- und Fortbildung, Wohnungssituation, Gesundheitswesen, Versicherungssysteme usw. sorgen (156). Selbst wenn der Staat beide Ansprüche restlos befriedigen könnte, so würde der von Offe selbst genannte Grundwiderspruch bestehen bleiben, denn das Kapital könnte sich optimal als Kapital und der Lohnarbeiter optimal als Lohnarbeiter reproduzieren. Erweisen sich die Ansprüche somit als solche, die aus dem Widerspruch von Lohnarbeit und Kapital resultieren – erfordern (nach Offe) die Bedingungen des Arbeitsprozesses selbst, die veränderte Reproduktion der Arbeitskraft (156), so steckt in ihnen nicht, was dieses Verhältnis aufheben könnte. Es sind Ansprüche von Privatsubjekten, denen an der Befriedigung ihrer Bedürfnisse liegt, damit ist in diesen Ansprüchen an sich nichts enthalten, was eine kollektive Reproduktionsweise zum Ziel hat.

Nun erfahren die Bürger stets, daß eine optimale Befriedigung der Ansprüche nicht möglich ist. Der Staat muß offensichtlich ständig zwischen der Befriedung der an ihn heran getretenen Ansprüche abwägen, doch die Beschränktheit seiner Möglichkeiten liegt gerade darin, daß er zur Durchsetzung seiner Aufgaben auf Mittel angewiesen ist, die er nur von seinen Bürgern in der Form der Steuer erhalten kann. Hieraus resultiert: der Staat muß aus eigenem Interesse darauf achten, daß der Reproduktionsprozeß als ganzer funktioniert. Er muß bei der Befriedigung der Ansprüche einen Interessenausgleich finden, der der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung nützt.

Wenn Offe nun ungenügend gesellschaftliche Reproduktionsbedingungen der Arbeitskraft konstatieren kann, dann liegt das also nicht daran, daß der Staat überhaupt nicht auf die Ansprüche der Arbeiter einginge oder nur auf der Seite der Kapitalinteressen stünde. Der Mangel ist vielmehr bedingt durch die Begrenztheit der Mittel, letztlich durch die Tatsache, daß staatliches Handeln als Befriedigung von Ansprüchen bestimmt ist, d. h. eine selbständige Sphäre der Reproduktion von Privatsubjekten voraussetzt. Zu kritisieren ist hier wiederum nicht die Art, in der der Staat handelt, wie er die Ansprüche der Gesellschaft befriedigt, sondern der Zusammenschluß der Bürger in der Form des Staates selbst. Ist dieser doch Resultat der Widersprüchlichkeit der Gesellschaft: der Staat muß als äußerer Zwangszusammenhang die Freiheit der Bürger sichern. Er erhält Bedingungen, unter denen die Privatsubjekte ihre Interessen verfolgen, hält Verhältnisse aufrecht, in denen die Reproduktion des Arbeiters nur Mittel zum Zweck Kapitalanhäufung ist. Als solcher aus der Gesellschaft herausgesetzt, ist der Staat nicht in der Lage – wie es Offes Strategie impliziert – den Widerspruch der kapitalistischen Gesellschaft abzuschaffen, beruht er doch gerade auf ihm.


Bürgerinitiativen und kommunistische Politik

Bürgerinitiativen gehen also von einer falschen Vorstellung über die Ursachen der Mängel aus, sie kritisieren das Staatshandeln statt dessen Voraussetzungen, sie vertreten Privatinteressen staatlicher Sozialpolitik, anstatt ihre prinzipielle Begrenztheit herauszustellen. Ein solcher Ansatz wird auch dadurch nicht richtiger, daß man ihn – wie Offe – mit dem Verweis auf das gegenwärtige Arbeiterbewußtsein legitimiert, wenn behauptet wird, daß die Widersprüche heute primär als mangelhafte staatliche Wohlfahrtspflege erfahren werden. An anderer Stelle spricht doch Offe sogar selbst von der Notwendigkeit, über die unmittelbaren Erfahrungen der Arbeiter hinauszugehen, wenn es heißt, daß Bürgerinitiativen den Nachweis erbringen sollen, „daß das Kapital . . . den gemeinsamen Nenner aller disparitären Einschränkungen und Belastungen darstellt“ (164). Doch gerade diesen Nachweis hat Offe nicht erbracht, und auch der Frankfurter Häuserrat ist nicht in der Lage, die „Wohnungsfrage“ aus dem Kapitalverhältnis zu erklären, um aus diesem Wissen einen wirklichen antikapitalistischen Kampf zu führen. Mit der Unterwerfung unter die „Autonomie des Massen“ wird gerade ein begriffloses Handeln zum Prinzip sozialistischer Politik erklärt, letztlich sogar die Notwendigkeit einer bewußten Agitation überhaupt geleugnet: „In einem abenteuerlichen Hin und Her ist es uns gelungen, die praktische oder besser faktische Avantgarde dieser Bewegung zu werden – ohne daß wir bewußt als Avantgarde gehandelt und uns organisiert haben.“
(wir wollen alles, Nr. 5, S. 6)

 

aus: MüSZ 5 – 1974

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