Das Moribunde leben lassen – Studienreform bei den Ökonomen

Ein Fachbereich verblödet


Erscheint an dieser Stelle ein Bericht über die jüngsten Vorgänge an der Staatswirtschaftlichen Fakultät, so deswegen, weil in diesen „Vorgängen“ etwas Zukunftsweisendes sich ausdrückt. Allerdings diesmal – im Unterschied zur berühmten „Kaffeetassenschlacht“ vor etwa einem Jahr, als die Profs ihr Recht auf ungestörte Mauschelei und Herrschergewalt mit einem Polizeieinsatz massiv demonstrierten und auch vor Selbsthilfe nicht scheuten – diesmal also etwas auf den ersten Blick gänzlich Undramatisches und Harmloses. Wir sprechen vom neuen Ausbildungsgang für die Anfangssemester der Volks- und Betriebswirtschaftslehre, und hier insbesondere von den neuen VWL-Grundkursen.

Das Zukunftweisende an diesem Ausbildungsgang erscheint in mehrfacher Hinsicht:

– in der völligen Entgeistung des „wissenschaftlichen Lehrstoffs“

– in der ausgesprochen instrumentellen und bewußtlosen Art, mit der sich die Studenten der vorgegebenen Struktur überantworten

– in einer Reihe daraus sich ergebender Widersprüche, wie sie in dieser Art bislang nicht auftauchten
schließlich in der neuen Lage und auch in den neuen Schwierigkeiten, denen sich ein Sozialistisches Studium gegenübersieht.

Vom BHG angetrieben waren die Profs der Stawifak relativ schnell zur Formulierung einer Studienreform gekommen. Hitzige Auseinandersetzungen der verschiedenen Fraktionen schienen zunächst nur in einer Aufblähung des altvertrauten Stoffes zu resultieren, einschließlich des Zwanges, Vorlesungen bestimmter Ordinarien besuchen zu müssen (so im Fachbereich BWL). Daß die VWL-Ordinarien unbedingt gewillt waren, alles Vorhergehende noch zu übertrumpfen, deutete sich in der Wahl eines neuen Lehrbuches an: Lipseys „Einführung in die Positive Ökonomie“ – ein ungeheuer dickes und vor Dummheit schier platzendes Buch. Die Rote Zelle Ökonomie stellte sich auf die gewandelte Situation dadurch ein, daß sie in den anfänglichen Stunden, die sich in einem unerträglichen Wiederkäuen von Plattheiten, die einem aus Reden eines jeden Wirtschaftspolitikers entgegenspringen, ergeben, auf eine Agitation verzichtete und nur drei längere Flugblätter zur allgemeinen Problematik der Nationalökonomie herausgab . Diskussion sollte entfacht werden anhand der sogenannten Haushalts- und Produktionstheorie, welche immer noch als Kernstücke bürgerlicher Nationalökonomie anzusehen sind. Dies stellte sich als unmöglich heraus, und zwar aus verschiedenen Gründen.


I. Eine Wissenschaft zieht sich vor sich selbst zurück

Ganz befangen in der Demut des beschränkten Geistes vor der unendlichen Mannigfaltigkeit der Welt hat die Nationalökonomie mittlerweile ein Stadium erreicht, wo der radikale Skeptizismus vorherrscht. Neben dem fortschrittsbewußten Überbordwerfen aller „alten“ Theorien (Grenznutztheorie, Keynes, Neomonetaristen etc.) steht das verzweifelte Suchen nach neuen „Ansätzen“ (der Fachbewanderte spricht hier besonders gerne von „approaches“). Besonders deutlich wird die öde Leere, die sich da nun bis zum Horizont erstreckt, deswegen, weil die Nationalökonomie bis vor kurzem noch an der Grenznutzentheorie bzw. der subjektiven Wertlehre als prinzipiell richtigen Grundlage festhielt und darauf sehr kunstvolle Gebäude errichtet hatte. Zweifel gab es zwar immer schon. und insbesondere die Zahl derer, die mit aller Gewalt und ohne Achtung jeglicher Wissenschaftlichkeit auf die „Empirie“ loswollten (um „Ratschläge“ für die Wirtschaftssubjekte entwickeln zu können), ist rapide angeschwollen, doch die Mehrzahl der Wissenschaftler zeigte noch eine gewisse Souveränität im Entwickeln (wenn auch falscher) theoretischer Sätze auf Basis einiger weniger Prämissen.

Nun ist diese Absage an jeglichen verbindlichen wissenschaftlichen Zusammenhang freilich nichts Neues und erst recht nichts Zukunftweisendes. Während aber in anderen Wissenschaften, die sich mittlerweile im Loch des totalen Nichtwissens häuslich eingerichtet haben, das wilde Sammeln und Katalogisieren von Aspekten nach verschiedenen Methoden gang und gäbe ist, hat sich die Münchner Nationalökonomie völlig auf den Gebrauch des gesunden Menschenverstandes zurückgezogen, ganz nach Lipsey & Steiner:

Ökonomie betreiben heißt „Ideen explizit zu machen, die beim gesunden Menschenverstand Anklang finden – die man womöglich schon als vage Vorstellung im Kopf hat“. (Economics, NY 1966, p. X)

Der hier zitierte Lipsey ist überhaupt ein Renner in der neueren Nationalökonomie; daß die Wahl der Münchner Professoren auf sein Lehrbuch fiel, wirft ein Licht auf den jetzigen Zustand der Ausbildung – scheint ihr doch der Inhalt dieses Buches durchaus adäquat. Es ist völlig überflüssig, auf das einzugehen, was Lipsey über Ökonomie erzählt, kann man sich das doch schon alles denken, liest man seine ausschweifenden Bemerkungen über die Aufgaben der Theorie. Hierin finden sich alle Glaubensbekenntnisse aufgereiht, die zum modernen Wissenschaftsverständnis der Halbbildung gehört:

Theorie braucht es, weil man sonst der gestaltlosen Wirklichkeit hilflos gegenübersteht; die Richtigkeit einer Theorie findet man aber bestätigt – im Anglotzen der Empire; hier nimmt auch der triumphale Siegeszug der Statistik als Theorieersatz seinen Ausgang: facts and figures, je mehr, desto besser.

Leider ist es aber mit der Statistik auch nicht so weit her, es bleiben immer „Unsicherheiten“; man kommt nur zu Wahrscheinlichkeiten, Vermutungen; also: keine Hypothese läßt sich widerlegen, man kann nur zu der einen oder anderen mehr oder weniger neigen.

Wichtig sei, daß man sich in den termini technici auskenne, dann ließe sich vieles kürzer ausdrücken.

Eine Theorie ist dann überwunden, wenn sie nicht mehr nützlich ist; eine Theorie ist also immer nur so gut, wie sie gerade für einen jeweiligen Verwendungszweck taugt (seltsam dann allerdings, warum die Theorie eigentlich gebraucht wird: das „praktische Problem“ sagt gerade, daß es sich nicht selbst lösen kann, sich in sich selbst verrannt hat, aber die rettende Theorie wird immerfort in die Ebene eben dieses Problems hineingezogen, übersteigt dieses nicht, kann es deswegen nicht lösen – man betrachte nur die „wissenschaftlichen Begründungen“ der Wirtschaftspolitik, von denen sich jede Partei diejenige heraussuchen kann, die ihr ins Weltbild paßt).

Alles ist relativ, Wissenschaft besteht im Machen von „Wenn-dann-Aussagen“ und Prognosen, aber die Reihe der „Wenn-danns“ ist unendlich erweiterbar, von vorne, hinten und seitwärts lesbar ...

Schon aus diesen wenigen Auszügen erkennt man, daß dieses Lehrbuch alle gewünschten Eigenschaften der Wissensvermittlung in sich einschließt, setzt es doch der Welt ein entschiedenes „Vielleicht“ entgegen und entläßt jeden mit der tröstlichen Gewißheit, daß man frischen Mutes drauflos werkeln kann, denn genaues weiß man nicht.
Die Studienreform hat der Ausbildung die moderne, stromlinienförmige Gestalt gegeben: der neu an die Universität gekommene Student lernt das, was er immer schon gewußt hat und was ihm die Tagesblätter bei jedem Frühstück neu mit auf den Weg geben. Ihre adäquate äußere Form findet solche Ausbildung in – Aufgabenblättern. Selbst das oben erwähnte Lehrbuch wird nur noch am Rande gestreift und der privaten Lektüre der Studenten überlassen. In der Bearbeitung der Aufgabenblätter können die Studenten dann zeigen, daß sie ein bißchen mit dem Lineal umgehen und ein bißchen mitplaudern können. Ein Beispiel:

„ …Welche Unternehmensziele außer Gewinnmaximierung nennt Lipsey? Können sie die Aufzählung um weitere Ziele ergänzen? Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen Unternehmenszielen und a) Art des Unternehmens b) Unternehmensgröße?“ (Hervorh. d. Verf.)

An solchen Fragen entspinnen sich dann eifrige Diskussionen, aufqelockert durch kleine Scherze und viele hübsche Beispiele, und jeder, der sich nur den Mund aufzumachen getraut, kann sicher sein, auch etwas Richtiges gesagt zu haben – denn „herrschaftsfrei“, wie es nun einmal zugeht, darf keine Meinung ausgeschlossen werden. In einem Flugblatt („Wie eine Fakultät verblödet“) schrieb die Rote Zelle Ökonomie zusammenfassend:

„Die jetzige Ausbildung im Grundstudium vermittelt diese Art geschwätziger Halbbildung, mit der halbseidene Direktionsassistenten auf dem glatten Parkett des Wirtschaftslebens sich durchlavieren können. Wenn das freilich der Wunsch der versammelten Studenten ist – zumindest der RCDS malt das ja offen als Traumbild aus –-, dann ist ihnen nicht zu helfen. Die berühmte „Wirklichkeit“, nach der sie alle so gierig lechzen, wird sie kräftig vor den Kopf stoßen und schließlich zu dem machen, was der dogmatische Alltagsverstand als das Selbstverständliche ansieht – zu Angepaßten oder Zynikern.“


II. Über falsches Bewußtsein von Studenten

Hier ergeben sich gleich zwei Probleme: wie gehen die Studenten selbst um mit dieser Ausbildung und wie schaut es mit der angeblichen „Praxisbezogenheit“ aus?

Ein ganz trauriges Kapitel ist, daß die Studenten in diesem Sumpf sich offensichtlich wohlfühlen. Den Kopf damit angefüllt, wie sie später in der Wirtschaft viel Geld machen, wie sie das Studium möglichst reibungslos hinter sich bringen können, entwickeln die Kommilitonen ein seltsam perverses Verhalten ihrer eigenen Betätigung gegenüber. Mit ihrem Desinteresse und ihrer zynischen Abgebrühtheit geben sie zu erkennen, daß das ganze Zeug ihnen völlig äußerlich ist – zugleich halten sie jedoch daran fest und verteidigen es mit aller Macht gegen den miesmachenden Kritiker, fürchten sie doch, man könne ihnen das Mittel ihrer späteren Reproduktion kaputtmachen. Den in den Übungen auftretenden Kritikern wurden stereotyp folgende Fragen in vorwurfsvollem Tone vorgehalten: Was hättet ihr denn besseres anzubieten? Was für ein Interesse verfolgt ihr eigentlich mit eurer Kritik?

Solche Fragen werfen ein bezeichnendes Licht auf den, der so fragt. Unterstellt ist immer schon das Eingeständnis, daß man die Situation selbst für beschissen hält. Statt nun aber zu fragen, warum dem so ist, unterwirft man sich dem Vorgefundenen und kann nur nach einer Alternative verlangen – affirmiert damit nur noch einmal, wenn auch auf verdrehte Art, das Bestehende. Dem Kritiker wird expliziert vorgeworfen, daß er nur kritisiert – er soll doch gefälligst mal was Positives sagen. Man könnte sagen, die Studenten leiden unter dem Barzel-Syndrom. Auch dieser Politiker wußte als Bundeskanzler der damaligen Studentenbewegung nichts besseres vorzuhalten, als: sie sei nur destruktiv, wie sähe denn ihre neue Gesellschaft aus? etc. In dem scheinbar nur Negativen der Kritik liegt aber ein viel weitergehender Anspruch, als das blinde Verlangen nach einem Besseren; Kritik – und man könnte sich fragen, warum diese Selbstverständlichkeit in dieser Gesellschaft nicht mehr gilt – fragt nach Gründen, fragt nach dem „Warum“ des als schlecht empfundenen Zustandes. Genau an dieser Stelle hakt es aber bei den Studenten aus, haben sie doch den nicht unbegründeten Verdacht, daß die Kritiker – die man als Kommunisten weiß – zu einem Warum kommen werden, das in seiner Radikalität die selbstgefällig eingenommene Position des lässig vor sich hin Studierenden erheblich erschüttern könnte. Darum auch immer gleich die abwehrende Frage nach dem „Interesse“ des Kritikers, worin immer schon mitschwingt, daß dieser ja auch nur ein Interesse formuliere, sich also prinzipiell auf derselben Ebene wie der Kritisierte bewege. Und dieses Interesse kann dann ja nur sein, daß die Kommunisten statt Lipsey den alten Marx in den Grundkursen anpreisen wollen – und gegen das schlichte Austauschen von Meinungen hat der Student zurecht etwas, denn mit Marx kann man bekanntlich in dieser Gesellschaft seinen Beruf nicht bestreiten.


Das „Interesse“ – das sollte aus der negativ geführten Argumentation klar geworden sein – der Kommunisten in den Grundkursen ist nicht, mit Marx hausieren zu gehen; das „Interesse“ ergibt sich vielmehr aus dem, was in den Grundkursen gelehrt wird: der in der Rede von der Alternative nur noch verkümmert auftretende Wunsch nach Abschaffung der ganzen Scheiße, wird von Kommunisten nicht nur explizit formuliert, sondern auch – und das macht ihre Stärke aus – als aus dem Bestehenden sich ergebend nachgewiesen. Somit kann hier auch nicht mehr von einem Wunsch die Rede sein, sondern von einer Notwendigkeit – der gegenüber feindselig sich zu verschließen, Unzufriedenheit, Unbehagen mit sich selbst und falsches Bewußtsein der Studenten gleichermaßen ausmacht.

Zitieren wir noch einmal das schon erwähnte Flugblatt: Die Studenten fühlen sich offensichtlich wohl in der Fortführung ihrer schulischen Existenz. Man bekommt was beigebracht (meint man), der Assi da vorn ist auch nicht viel anders als ein Lehrer; er ist nur angenehmer, weil er keine Verweise erteilen kann, höchstens mit der Klausur droht. Dieses Zusammenprallen von Schule und „akademischer Freiheit“ führt dazu, daß man entweder in unerträglichem Maße untereinander schwätzt, oder sich gelangweilt an dem allgemeinen Räsonnieren über Gott und die Welt, an dem biertischhaften Ausquetschen des gesunden Menschenverstandes (und den hat ja jeder irgendwo) beteiligt. Manche führen sich auf wie alte Opas, die sich mit lebenslanger Erfahrung brüsten. Welch grotesker Gegensatz dann dazu, wenn sie auf Verlangen des Assis aufspringen und sich an der Tafel in den Künsten der Parallelverschiebung ergehen – das alles mit rotem Kopf und in Erinnerung an das 11. Schuljahr.


III. Die Widersprüchlichkeit einer solchen Ausbildung

Nun scheint eine solche Ausbildung dem Ideal mancher Bildungsreformer haarscharf dadurch zu entsprechen, daß sie sich mit hängender Zunge an die Fersen der „Wirtschaftswelt“ heftet, das eh schon Vorfindliche noch einmal wiederkäut, also gerade dem Anspruch der „Praxisbezogenheit“ bzw. der Nützlichkeit adäquat zu sein scheint.

Doch schon der erste Blick läßt einige „Ungereimtheiten“ erkennen. Zunächst fällt auf, daß man mit solchem „Wissen“ kein Examen machen kann, baut das gesamte Hauptstudium doch immer noch auf der stillschweigenden Affirmation „alter“ Theorien auf. Hier läßt sich jedoch sicherlich Abhilfe ersinnen: man wird eben auch im späteren Studiengang alle Theorien radikal ausmerzen. Was kann man aber mit Rechenbeispielen anfangen, die sich entlang der altbekannten Dreisatzrechnung bewegen und dabei Wörter wie „Kosten, Kapital, Arbeit“ einsetzen, also nur vortäuschen, etwas mit Ökonomie zu tun zu haben? Die Freude darüber, nun mit einem „praktischen“ Beispiel umgehen zu dürfen, hält nicht lange an angesichts dessen, daß dann a) die „Praxis“ doch wieder viel komplizierter ist, man das Beispiel also nicht verallgemeinern kann, und es b) für solche Aufgaben eigentlich Rechenmaschinen gibt.

Dies sind jedoch – wie gesagt – nur Probleme, die sich an der Oberfläche ergeben, und bei manchen Studenten ein gewisses Unbehagen verursachen. Was ist aber der eigentliche Grund für solche Probleme?

Der junge Mensch, der sich an die Universität begibt, hat damit etwas anerkannt, was ihm selbst gar nicht klar wurde: obwohl es ihm mit der Aneignung von Wissenschaft nur um die spätere, möglichst gewinnbringende Anwendung derselben geht, also um ihre Bestätigung in der Praxis, kann er sich der Praxis selbst nicht unmittelbar zuwenden, sondern braucht ein allgemeines Wissen, das er dann in sie einbringt. Praxis und Wissenschaft, das ist im Studium ausgedrückt, sind zwei verschiedene Sachen. Wissenschaftliche Ausbildung ist eben nicht das Erlernen dessen, was in der Welt draußen passiert, sondern der Versuch, den hinter den praktischen Dingen steckenden Zusammenhang zu erkennen. Darin ist enthalten, daß die wissenschaftliche Ausbildung sich gerade nicht unter partikulare Nützlichkeitserwägungen subsumieren läßt, obwohl sie explizit nur dafür da ist, dem Nützlichkeitsbestreben der Studenten dienlich zu sein. Dieser Widerspruch einer Wissenschaft, die dem Praktischen zugleich überlegen ist, diesem ihre eigenen Zwecke setzt, und sich von ihrem Anspruch her den praktischen Nutzenerwägungen ständig unterwirft, kann sich in verschiedener Weise „auflösen“:

– man kann, wie in der Münchner Nationalökonomie, ganz auf Wissenschaft verzichten und nur wiederholen, was jeder Mensch eh schon weiß – dann ist aber der Besuch einer Hochschule überflüssig und gerade für den Nützlichkeitsstandpunkt nur vergeudete Zeit;

– man kann als Individuum mit dem Widerspruch dadurch fertigzuwerden versuchen, daß man sich zynisch zu seiner studentischen Existenz verhält; man lernt Wissenschaft auswendig und sieht zu, daß man das immer noch verlangte Diplom in die Tasche bekommt; es ergeben sich hier jedoch Schwierigkeiten, denn selbst das Auswendiglernen verlangt geistige Hinwendung, Beschäftigung mit dem, womit man eigentlich nichts zu tun haben will, und zwangsläufig ist man doch wieder auf die Mängel und Ungereimtheiten dieser Wissenschaft hingestoßen, muß sich – gerade weil man ja alles möglichst gut auswendig lernen will – mit dem ganzen Unsinn beschäftigen und will es gleichzeitig nicht.

Manche Studenten versuchen durch eine selbstgeschneiderte Philosophie dem Dilemma zu entfliehen, indem sie sagen, die Wissenschaft habe Modelle und statistische Wahrscheinlichkeiten aus der Empirie herauszufiltern; dann sind wir aber wieder beim alten Problem: nur im verkleinerten Maßstab wiedergegebene Realität (Modell) oder statistisches Material entsprechen einer Abbildung dessen, was man auch mit eigenen Augen sehen kann, macht die Universität eigentlich wieder überflüssig – oder im Modell hat man es mit einer Abstraktion von der Realität zu tun, bewegt sich also innerhalb der wissenschaftlichen Betrachtungsweise und kann die gewonnenen Resultate eben nicht mit der Realität einfach wieder in eins setzen.

Die Forderung an Ausbildung – und das ist nicht nur die der Studenten, sondern z. B. auch der Reformierer der Ausbildung – ist also die Vermittlung von brauchbarem Wissen, d. h. im Beruf anwendbaren Kenntnissen. Indem es nicht um Kenntnisse überhaupt, sondern um anwendbare geht, ist ausgesprochen, daß die Anwendung von Wissen mit diesem selbst nicht unmittelbar zusammenfällt, sondern hergestellt werden muß. Verlangt ist also nützliches Wissen und Wissen über die Anwendung dieses Wissens. Der Gegenstand, an dem sich die Ausbildung vollziehen soll fordert für sich erst einmal sein Erkennen. Erkenntnis beinhaltet die geforderte Nützlichkeit aber nicht in der geforderten Form, was ihr dann prompt als Mangel vorgerechnet wird.

Die Formulierung einer Studienordnung, die den Ausbildungsgang beschreibt, befindet sich also in dem Dilemma, das Lernen von Erkenntnissen auf ihre praktische Bedeutung hin zu reflektieren, ein mixtum compositum aus Erkenntnissen und Theorien über deren Anwendung zu schaffen, z. B. VWL-Theorie und VWL-Politik ins angeblich richtige Verhältnis zu rücken.

Da der Gang der Erkenntnis des Gegenstandes den Gang der Ausbildung nicht bestimmt, sondern umgekehrt das praktische Problem als Volkswirt fungieren zu müssen, die Auswahl ergibt, folgt daraus: Ausbildung gerät zur Vermittlung der Fähigkeit, wissenschaftliche Erkenntnis zu negieren.

Dies läßt auch gleich einen Schluß zu auf eine „Praxis“, die eine so widersprüchliche Ausbildung verlangt: Wissen ist gefordert, darf sich aber nicht so durchsetzen, daß es selbst der Praxis ihre Zwecke setzt, wird also ständig wieder negiert; das individuelle Nützlichkeitsstreben braucht Wissen, läßt es aber nicht zu der Konsequenz geraten, daß die Kritik an der Unterwerfung des Wissens unter vorgegebene, als Naturtatsachen anerkannte Zwecke aufbricht – indem sich das Nützlichkeitsstreben des Wissens bedient, fällt es auch schon wieder in die Unwissenheit zurück.

Von daher ist es auch nicht weiter verwunderlich, daß in allen Lehrbüchern, auch dem Lipseys, die Grenznutzentheorie implizit (und damit in besonders bornierter Form) enthalten ist, drückt sich doch in dieser Theorie das innerste Credo der bürgerlichen Gesellschaft aus; selbst (oder: gerade) von allen theoretischen Schnörkeln befreit, bleibt die Grundaussage dieser Theorie die adäquate Widerspiegelung dessen, was als normales Verhalten der Individuen im Kapitalismus gilt.

Wie man es dreht und wendet: eine Ausbildung, die ihre Ausgangspunkte nur aus der angeglotzten Realität nimmt, ein bißchen darüber schwätzt, um dann wieder festzustellen, daß es in der Realität aber auch noch anderes, zum Teil widersprechendes gebe, eine solche Ausbildung verstößt gegen ihren eigenen Anspruch zwangsläufig, nämlich für den Umgang mit den Tatsachen tauglich zu machen; sie entläßt den Studenten genau so dumm aus der Universität, wie er hineinkam.

Dies ist kein Widerspruch zu der obigen Feststellung, daß diese Ausbildung „halbseidene Direktionsassistenten“ hervorbringe, die sich im Wirtschaftsleben durchschlagen können: solche Menschen reüssieren nicht aufgrund ihrer Ausbildung, sondern weil sie nichtfachliche Qualitäten aufzubieten haben: gutes Aussehen, Gewandtheit, Wohlerzogenheit, Redekunst, Fachwörter … und für die beiden letzten Eigenschaften ist die Staatswirtschaftliche Fakultät der Universität München immer noch gut.

 

aus: MüSZ 6 – 1974

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