Bürgerliche Presse und Vulgarökonomie am Beispiel der SZ:

Das Gift der Inflation


Die ROTE ZELLE ÖKONOMIE nahm einen Leitartikel der „Süddeutschen Zeitung“ aus der Feder Franz Thomas zum Anlaß, anhand eines Produkts des bürgerlichen Journalismus dasjenige kritisch zu durchleuchten, was als verbreitete Weisheit des gesunden, kapitalistischen Menschenverstandes dem Ökonomiestudenten fast schon im Unterbewußtsein verhaftet Ist. Damit fällt der Gegenstand zwar aus dem heraus, was die ROTZ- ÖK im Sozialistischen Studium betreibt, Kritik bürgerlicher Wissenschaft, die an der Universität betrieben wird, nicht aber ist er ihr ganz äußerlich: auch Herr Thoma rekurriert bei seinen metaphorischen Auslassungen zum Thema Inflation auf Weisheiten der Volkswirtschaftslehre, die er lediglich journalistisch aufpoliert Nicht das wirtschaftspolitische Geschehen in der BRD ist also Objekt nachfolgender Kritik, sondern die Meinung, die ein bürgerlicher Zeitungsschreiber dazu hat. Wir werden kein Statement zur Sache abgeben, nicht aktuelle Maßnahmen beurteilen, nicht das bekannte, - den besserwisserischen Kommunisten eigene - hämische Gehabe des „da sieht man’s wieder!“ an den Tag legen (obwohl es hier durchaus möglich wäre), sondern in der typischen Manier kommunistischer Intellektueller ein Produkt bürgerlicher Journaille genauer betrachten.

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Süddeutsche Zeitung vom 9.4.74: Franz Thoma leitartikelt

Es ist offenkundig, daß die fünf Konjunkturinstitute, die soeben ihr Gemeinschaftsgutachten über die Lage der Wirtschaft vorlegten, einem Arzt gleichen, der die Diagnose kennt, doch nicht (mehr) die Therapie. Ein Gift kann gefahrlos bleiben, wenn es der Körper gleich wieder abstößt. Frißt es sich weiter, zerstört es. Um das Gift der Inflation loszuwerden – zu spät bekämpft; ja am Körper unserer Volkswirtschaft zu spät entdeckt – bedürfte es entweder Roßkuren mit herkömmlichen Methoden, von denen indessen nicht sicher ist, ob sie der Patient auch überlebt.

Oder wir müßten neue Medizinen finden. Nur zu schimpfen und nur zu bedauern, daß die Bundesregierung die Dinge so lange treiben ließ, eine Regierung, die mit ihrer sogenannten Stabilitätspolitik ja immer noch besser dasteht als fast alle anderen Regierungen der westlichen Welt gleich welcher Parteischattierung, das führt zu nichts, zumal ein großer Teil des Unheils von außen kommt, von der Verteuerung der Rohstoffe und auch von der leichtfertigen Zahlungsbilanzpolitik der meisten Industriestaaten.

Da es auf der anderen Seite indiskutabel ist, auf Stabilität zu verzichten, weil wir dann wohl oder Übel auf ein anderes, weniger erfolgreiches und weniger lebenswertes Gesellschafts- und Wirtschaftssystem überzugehen hätten, müssen wir uns der Lage bewußt werden und aus dieser Analyse neue Konsequenzen ziehen. Ein oberflächlicher Tagesbefund ist da wenig hilfreich. Denn Stabilität können wir selbst mit jenen herkömmlichen Mitteln nicht zurückerzwingen, die bisher entweder gar nicht oder nur unzulänglich eingesetzt sind. Dazu zählt die antizyklische Finanzpolitik, die eine immer noch zu große. Nachfrage bremsen müßte. Dazu zählt der Wechselkurs der Mark. Ein Blick auf die horrenden Importverteuerungen, die noch höheren ausländischen Inflationsraten und die viel zu großen Exporte zeigt, daß die Mark nach wie vor zu billig ist. Das Floaten hat zwar zwei bedeutende inflationistische Krankheitsherde, nämlich die Starrheit der Kurse und die Umtauschpflicht gegenüber dem Dollar, beseitigt, doch nicht einen Exportboom verhindert, der ungesund, weil zu stark ist. Doch selbst öffentliche Ausgaben- und Wechselkurspolitik mit letzter Schärfe genau so konsequent wie die Restriktionspolitik der Notenbank eingesetzt – wir hätten keine stabile Mark.

Der Giftherd liegt tiefer; er ist schon immun gegen Laborieren mit Technischem. Das theoretisch auf Keynes zurückgehende Instrumentarium der Konjunktursteuerung hilft nicht mehr weiter. Erstens fehlt es demokratischen Regierungen an Mut, es folgerichtig anzuwenden – der Lohnpolitisch überhaupt nicht honorierte Verzicht auf den allgemeinen Konjunkturzuschlag war 1973 geradezu ein Musterbeispiel dafür. Zweitens funktioniert der Wettbewerb auf den Güter- und Arbeitsmärkten nicht mehr. Drittens geht deshalb die Handlungsfreiheit von Regierung und Parlament auf die Sozialpartner und hier besonders auf die Gewerkschaften über, die auf den Arbeitsmärkten als eine Art großes, ungehindertes Kartell auftreten, wie die letzte Lohnrunde hinlänglich bewies.

Auf diese Weise entstehen Erwartungshorizonte, die mit dem tatsächlichen Leistungsvermögen der Volkswirtschaften weder in der Bundesrepublik noch viel weniger etwa in England, Frankreich oder Italien übereinstimmen. Und im Gefolge treten die Marktgesetze außer Kraft, ohne daß wir es recht bemerken. Wird denn eine Ware, werden etwa Autos billiger,wenn die Nachfrage sinkt? So müßte es nach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage eigentlich sein. Aber es ist anders. Die Preise steigen, wie wir sehen. Und wird dann die Produktion nicht mehr verkauft, wird sie gedrosselt, erst durch Kurzarbeit und dann durch Entlassungen. Bei den Löhnen ist es ähnlich. Sie sinken nicht bei wachsender Arbeitslosigkeit, sie bleiben nicht einmal konstant Denn sie werden von anderen Faktoren als den Marktgesetzen bestimmt.

Auf diesen Mechanismen des Marktes beruht aber das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz der Bundesrepublik. Daß es praktisch nicht mehr funktionieren kann, kommt in dem resignierenden Satz des Gemeinschaftsgutachtens zum Ausdruck, wonach es eine baldige Stabilisierungserfolge versprechende Strategie derzeit nicht gibt. Es fehlt ja im Augenblick auch überall. Das Sozialprodukt stagniert, die Beschäftigung sinkt, der Preisauftrieb beschleunigt sich, der Außenbeitrag ist unangemessen hoch. Das Gift wirkt. Doch müssen wir zusehen, wie es den Wirtschaftskörper allmählich ganz zerfrißt? Nein. Denn wir kennen die Krankheitsherde. Der eine Herd ist die Rohstoffverteuerung. Ihm ist über den Außenkurs der Mark zu begegnen.

Der andere Herd sind die Löhne. Man braucht die Tarifautonomie noch nicht anzutasten, obwohl auch sie, um in einem gewissen Jargon zu sprechen, keine heilige Kuh bleiben darf. Vielmehr wäre schon viel erreicht, ließen sich Tarifautonomie und Streikrecht dort zumindest differenzieren, wo jenes Risiko fehlt, das jedes Streikrecht überhaupt erst rechtfertigt. Damit sind wir beim öffentlichen Dienst, dessen Tarifrunde ein stabiliätspolitisches Unglück für dieses Land war. Wenn hier nichts geschieht, wird der Regierung das Gesetz des Handelns immer mehr entwunden.

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Offensichtlich ist der Ablauf einer Marktwirtschaft doch, ein ziemliches Rätsel, erst recht, wenn dieser Ablauf gestört erscheint. Dann weitet sich das Rätsel zum apokalyptischen Mysterienspiel aus – und irgendwo sitzt auch der Teufel, schießt mit giftigen Pfeilen, streut giftige Samen. Eine höchst bedrohliche Krankheit beschleicht den „Wirtschaftskörper“ (der Pest vergleichbar), die alten „Medizinen“ versagen, das „Unheil“ geht düster um, „Krankheitsherde, Gift, Unglück“ – wahrhaftig, die Wortkaskade kann nicht gewaltig genug sein, um den finsteren Schrecken zu beschreiben. Ganz knapp und präzis hingegen faßt es UN-Generalsekretär Waldheim: „Die höchst gefährliche, krebsartige Krankheit der Inflation.“ (SZ, 11./12. April 74, S. 2; unsere Unterstreichung).

Nun, die Inflation ist es also, der all diese merkwürdigen Attribute zugeschrieben werden. Befreit man sich einen Moment von diesem Wortwust, dann muß dies verwunderlich erscheinen: die Inflation als Krankheit, Gift, Krebs – verzweifelte Ärzte, neue Medizinen? Verstanden wir bislang unter Inflation nicht ein ökonomisches Phänomen (kein biologisches), darstellbar in Prozentzahlen, beobachtbar im Verhältnis von Nachfrage und Zufuhr, Ergebnis des ökonomischen Handelns der Wirtschaftssubjekte? Dies scheint eine altertümliche Betrachtungsweise geworden zu sein, denn der aufgeklärte Ökonom (wie auch der Journalist) weiß mittlerweile den Wert einer übersinnlichen Welt zu schätzen, kann man sie doch für allerhand Unbill verantwortlich machen – der Aberglaube ist wieder en vogue. Jedoch ist dieser Vergleich nicht ganz zutreffend, denn wir haben es hier ja mit Biologie, also Natur zu tun; oder anders: das Phänomen ist so unerklärlich, daß es als naturhaftes angesehen werden muß. Die Mischung ist also seltsam: die Inflation ist ein meta-ökonomisches, natürliches Ereignis, zugleich jedoch ist sie eindeutig an Ökonomie gebunden und auch mit ökonomischen Mitteln (und nicht mit Pillen) zu bekämpfen. Der Thomasche Artikel schwankt somit zwischen zwei Extremen – dem animistischen Beschwörungstanz („Ach wäre doch alles besser“) und dem Vertrauen in die naturüberwindende Rationalität ökonomischen Handelns. Letzteres, nämlich daß Bekämpfung der Krankheit möglich sein soll, wird uns später beschäftigen. Zunächst interessiert noch, was sich alles aus dieser Gleichsetzung von ökonomischem Phänomen „Inflation“ mit biologischem Phänomen „Krankheit“ herauslesen läßt.


Ein System läuft Amok

Sehen wir noch einen Moment lang davon ab, warum die Inflation dieser biologischen Betrachtung unterworfen wird, so springt eines an ihr sofort ins Auge: sie scheint unerklärlich bzw. die möglichen Erklärungen werden nur als Hypothese, zögernd, als eine unter anderen vorgebracht – im demütigen Gestus des beschränkten Geistes vor der unendlichen Mannigfaltigkeit der Natur.

Auch wir wollen nicht erklären, was Inflation nun wirklich ist. Etwas anderes ist uns hier wichtiger: immer und immer wieder wird uns vorgehalten, daß dieses System auf der Rationalität individuellen Handelns beruhe, daß es dem einzelnen größtmögliche Freiheit beschere, irrationales Handeln unnachsichtig bestrafe (Preismechanismus!), schließlich in dem großartigen Resultat münde, sich als wohlgeordnetes Ganzes zur bestmöglichen Wohlfahrtsverfolgung darzustellen. Mit kleinen Fehlern natürlich, die aber durch geduldiges Reformieren schrittweise zu überwinden ...

Aber gerade dieses System bringt dann aus sich heraus eben diese unerklärliche Krankheit hervor, macht sich gegen und über die Köpfe der daran Beteiligten hinweg geltend. Zwar soll es Ergebnis individuellen, rationalen Verhaltens und des Aufeinandertreffens der Individuen sein, dann durchkreuzt es aber das Handeln der Individuen, verfällt in wüsten Amoklauf, droht sich selbst ins Chaos zu stürzen. Ein verrücktes Ergebnis, so verrückt, daß man sich nicht länger wundern muß, wenn dem professionellen Beschreiber das eh schon Rätselhafte vollends zum Mysterium gerät.


Natur versus Kapitalismus

Wir kommen auf die Ausgangsfrage zurück: Warum die biologischen Metaphern? Zwei entgegengesetzte Momente verschmelzen in ihnen:

– zum einen, eine irrationale Flucht vor dem Unerklärlichen hinein in das unerklärliche Wallen der Natur;

– zum andern aber auch ein Gefühl dafür, daß der Kapitalismus gerade eine Gesellschaftsform ist, die Naturschranken überwindet (dies ja eine wesentliche historische Bedeutung); es gibt also „Heilmittel“ und man ist keineswegs gewillt, alles mit sich geschehen zu lassen.

Aber dieses Verschmelzen des rationalen mit dem irrationalen Moment führt schließlich zu einer Melange, die zäh in den Gehirnwindungen klebt und dann Erklärungsversuche und Heilmittelvorschläge gebiert, die wieder ins Irrationale zurückfallen.


Die Erwartungen und die Marktgesetze

Wir schrieben kurz zuvor, das System bringe aus sich heraus die unerklärliche Krankheit der Inflation hervor. F. Thoma hat hier einen anderen Erklärungsansatz: er baut eine Dichotomie zwischen „Erwartungshorizonten” der Individuen und „Marktgesetzen“ auf; indem die „Erwartungen“ sich von den Marktgesetzen abgelöst, ja, sie sogar außer Kraft gesetzt haben, sind die Individuen sozusagen für ihr Unglück eigenverantwortlich.

Bei näherem Hinsehen ergeben sich einige Fragen: Was eigentlich sind die Marktgesetze? Woher kommen die Erwartungen? Besteht ein Widerspruch zwischen beiden?

Da kapitalistische Wirtschaft immer noch das Handeln der Individuen voraussetzt, ergeben sich die Marktgesetze wohl daraus. Ein Marktgesetz losgelöst vom menschlichen Handeln, ähnlich einem Naturgesetz, kann es nicht geben. Wie aber schon der Ausdruck „Gesetz“ andeutet, geraten den Individuen die von ihnen selbst geschaffenen (Un-) Regelmäßigkeiten des Marktgeschehens zur unbegriffenen ihnen entgegentretenden, äußeren Gewalt – die Marktgesetze sind sowohl Resultat individuellen Handelns, wie sie dieses auch zwanghaft bestimmen.

Darüber zu handeln, warum das im Kapitalismus so ist und wie es aufzuheben wäre, ist hier nicht der Platz. Aber als Schlußfolgerung kommt heraus: Wenn den Individuen ihr eigenes System als fremdes gegenübertritt, dann ist es unsinnig, ein plattes Auseinanderfallen von Marktgesetzen und „Erwartungen“ zu konstruieren, vielmehr wäre darzustellen, wie die Erwartungen aus dem System sich ergeben und in Widerspruch dazu treten. Thoma allerdings trägt zur Erklärung dessen nichts bei. Indem er behauptet, die Individuen würden gegen die – von ihnen selbst verursachten – Marktgesetze verstoßen und dadurch ins Unglück rennen, verlagert er das ganze Problem in die Willkür des Individuums: es kann sich an seine eigenen Gesetze halten, es kann es aber auch lassen. In dieser Sackgasse angekommen, gibt es natürlich nur noch eine Erklärung für das Mysterium „Inflation“, nämlich, daß eine schlimme Krankheit die Individuen befallen hat. Ganz im Übereinklang mit seinem Chefredakteur Heigert würde Thoma hier wohl dafür plädieren, den Individuen die vier Kardinaltugenden wieder ins Gedächtnis zu rufen – und wenn sie nicht freiwillig Vernunft annehmen, wird man sie zwingen müssen …

Aber eine noch weitreichendere Implikation ist hier enthalten. Wenn das Problem nun in der Willkür der Individuen enthalten ist, dann könnte das auch bedeuten, daß die Individuen drauf und dran sind, sich von ihren eigenen unbegriffenen Gesetzen zu lösen (sich nicht länger den Marktgesetzen zu unterwerfen), das Wirtschaftssystem nach ihrem eigenen Gusto zu gestalten – und daraus entsteht die Inflation! Der frevelhafte Verstoß gegen die anonyme Macht der Marktgesetze (wobei freilich unklar bleiben muß, wie das gehen soll) rächt sich in Gestalt dieser „höchst gefährlichen, krebsartigen Krankheit.“

Die Argumentation und insbesondere der Vorschlag, den Marktgesetzen „wieder“ zur Geltung zu verhelfen, endet also in einem Zirkel. Das System bringt bestimmte Erwartungen hervor – diese kumulieren in einer Entartung des Systems („Krankheiten“) – also zurück zum System – dieses bringt bestimmte Erwartungen hervor ...

Die Frage, welches von beiden denn nun zuerst den Anstoß gibt, kann – das sollte deutlich geworden sein – gar nicht gestellt werden, wenngleich sie besonderes Steckenpferd bürgerlicher Ökonomie ist.


Die Heilung oder notfalls gegen die Gewerkschaften

Thoma kristallisiert zum Schluß seines Artikels zwei „Krankheitsherde“ als die bestimmenden heraus: Die Rohstoffverteuerung und die Tarifautonomie (insbesondere im öffentlichen Dienst). Und damit verbunden hat er auch gleich das Heilmittel zur Hand: da man gegen die Rohstoffverteuerung kaum etwas unternehmen kann, muß man etwas gegen die Maßlosigkeit der Lohnforderungen unternehmen, also die Tarifautonomie einschränken. Ja, er geht noch weiter; er weiß, daß eine Lohnforderung wohl noch keine Inflation macht, sondern die hinterstehende Gewaltsamkeit der Arbeiter – der Streik. Also muß man auch etwas gegen das unvernünftige Streiken unternehmen.

An diesem Vorschlag fallen auch dem gutgläubigsten Leser gleich zwei störende Momente auf:

– die Arbeiter können unmöglich die einzigen sein, die die Preise bestimmen, richtet sich doch ihre Anstrengung auf den Preis ihrer Arbeitskraft und noch lange nicht auf die Preise aller Güter; die Unternehmer haben doch offensichtlich bei der Preisgestaltung auch ein Wörtchen mitzureden, müßte mithin die Bekämpfung der Inflation nicht auch bei ihnen ansetzen?

– die Koalitionsfreiheit und das Streikrecht gehören doch nach allgemeiner Meinung zu den wesentlichen Eigenschaften des demokratischen Gemeinwesens – wie soll es möglich sein, daß so etwas einfach eingeschränkt wird, ergeben sich hier nicht unliebsame Parallelen zu den sogenannten totalitären Staaten?

Um den ersten Punkt etwas näher zu beleuchten: Es fällt auf, daß neuerdings durch den bürgerlichen Blätterwald ein frischer Wind weht; Mäßigung und Neutralität haben Platz gemacht einer mehr entschiedenen Haltung, die ihre eindeutige Schlagseite nicht mehr länger verleugnet. Wenn die Wirtschaft in Gefahr ist, dann müssen zunächst einmal die Arbeiter verzichten: wenn sie nicht freiwillig zur „Vernunft“ kommen, dann muß man sie eben ein bißchen dahin drängen. Ein liberaler Mensch könnte jetzt mit gutem Recht fragen, warum denn nicht alle Wirtschaftssubjekte verzichten müssen? Nach Thoma selbst sind alle Individuen mit ihren überspannten Erwartungen für die Inflation verantwortlich zu machen. Nun – so die imaginäre Antwort – wünschenswert wäre es wohl, doch leider geht es nicht und zudem würde eine übermäßige Beanspruchung der Unternehmer letztlich die Wirtschaft als ganze gefährden. Zum Punkt „Es geht nicht“ hat das Jahresgutachten 73 des Sachverständigenrates eine Illustration geliefert; anläßlich der gegen den Preisauftrieb beschlossenen Maßnahmen und hier insbesondere der Kapitalverkehrskontrollen (Verknappung der Geldmenge etc. etc.) heißt es dort:

„Je knapper das Geld im Inland und je größer die Zinsdifferenzen zum Ausland wurden, um so mehr lohnte es, die Kapitalverkehrskontrollen zu umgehen. Dabei entdeckten die Kreditinstitute sowie die übrige Wirtschaft mehrfach neue Möglichkeiten, die Kontrollen zu unterlaufen …
Inländer erkannten die Verdienstchance, brachten Aktien über die Grenze und verkauften sie mit einem Aufpreis an den Auslandsbörsen.“ (JG 73, Ziffer 168; Unterstreichungen von uns.).

Die lapidare Schilderung – und der Sachverständigenrat enthält sich hier wohlweislich jeden wertenden Kommentars – von Vorgängen, die eindeutig darauf hinauslaufen, im „Interesse der Allgemeinheit“ beschlossene Maßnahmen zugunsten des Eigeninteresses zu durchkreuzen, ja sogar mit Hilfe rechtlich bedenklicher Tricks – denn was soll man sich darunter wohl vorstellen, wenn es heißt, Inländer hätten Aktien „über die Grenze“ gebracht –, diese Schilderung also macht gerade in ihrer Kargheit deutlich: der Maßstäbe gibt es verschiedene und das ist schon so selbstverständlich, daß kein weiteres Wort darüber zu verlieren ist. Gegen das Wahrnehmen einer „Verdienstchance“ ist nun einmal nichts einzuwenden – basiert doch unser ganzes System gerade darauf.

Leider zeigt das System hier jedoch seine Tücken. Hat man sich einerseits stillschweigend damit abgefunden, daß eine zu weitreichende Einschränkung der Unternehmer vielleicht wünschenswert, aber einfach undurchsetzbar ist, und hat man damit zugleich implizit eingestanden, daß das „Wohlergehen des Wirtschaftskörpers“ eben von diesen abhängig ist (obwohl sie doch zuerst Wirtschaftssubjekte wie alle anderen auch sein sollen), so muß man andererseits natürlich jemanden finden, an dem wirksam herum zu operieren ist, auf daß der „Wirtschaftskörper“ wieder gesunde.


Die Nutzen-Gewinnmaximierer

Die VWL hat hier eine passende Unterscheidung auf Lager, denn nach ihrer Terminologie zerfällt die Volkswirtschaft in die Nutzenmaximierer und die Gewinnmaximierer. Letztere sind eigentlich schon gar keine Subjekte von Fleisch und Blut mehr, sondern eher die Beauftragten der gesellschaftlichen Reproduktion – in ihren Handlungen spiegelt sich nur die Vernünftigkeit des wohlgeordneten kapitalistischen Systems (s. o.) wieder. Weiterhin liegt dem Begriff des Gewinnmaximierers – wie der Name schon sagt – eine unumstößliche Voraussetzung zugrunde, nämlich daß er mit einem Überschuß über die Vorperiode abschließen muß. Das wiederum ist exakt meßbar, es gibt rote und schwarze Zahlen dafür.

Ganz anders der Nutzenmaximierer. Zwar soll er seinem Komplementär, dem Gewinnler, durchaus gleichgestellt sein, doch was ist das für ein unbestimmt Ding, der Nutzen, was er da maximiert? Bei jedem einzelnen sieht das ganz anders aus und eine objektive Maßgröße, wie z. B. der Gewinn in Währungseinheiten läßt sich nicht auffinden. Ja, der „rationale Haushalt“ maximiert seinen Nutzen sogar immer – und zwar im Rahmen des gegebenen Einkommens. Zwischen Einkommen und Nutzenmaximum gibt es keinen solchen Zusammenhang, wie zwischen Gewinn und eingesetztem Kapital; oder anders: wie hoch das das Einkommen sein muß, läßt sich nicht bestimmen, ist doch die Minimalschranke des Einkommens durch etwas anderes gegeben – durch die Reproduktionsnotwendigkeiten (in Relation zur verausgabten Arbeitskraft). Dies jedoch ist wiederum nicht exakt bestimmbar und in gewissen Grenzen recht elastisch. Der Arbeiter kann nicht mit roten und schwarzen Zahlen hantieren und sagen, soviel Einkommen muß ich ganz einfach haben, sondern sein Einkommen ergibt sich in ständiger Auseinandersetzung, ist Resultat widerstreitender Machtausübung.

Wenn also das Heilmittel gegen die Inflation darin gesehen wird, daß die Wirtschaftssubjekte sich Beschränkungen zu unterwerfen, ihre Einkommens-„Erwartungen“ zurückzuschrauben haben, dann ist der Nutzenmaximierer, weil er ein Existenzminimum – in „exakten Zahlen“ dargestellt – nicht aus der Tasche ziehen und als Anspruch geltend machen kann, das geeignete Versuchsobjekt; staatliche Wirtschaftspolitik beginnt zu allererst bei ihm. Da aber eine solche Politik nicht unmittelbar in den Verhandlungsprozeß zwischen Arbeiter und Unternehmer eingreifen kann, müssen die Gewerkschaften herangezogen werden, und zwar indem man ihre Kampfmöglichkeiten, ihr „Machtpotential“, beschneidet. Die Tarifautonomie darf nicht länger eine „heilige Kuh“ bleiben!


Auf dem Weg zur Volksgemeinschaft

Weiter oben führten wir an, daß an einem Vorgehen die Verwandtschaft zu sogenannten totalitären Staaten störend auffällt. Sollte es nicht jedem Individuum in der kapitalistischen Wirtschaft offenstehen, seine „Verdienstchance“, die sich aus seiner Marktposition ergibt, wahrzunehmen? Wenn dieses Grundprinzip nun derart eklatant und einseitig verletzt wird, und zwar unter Berufung auf das „Gemeinwohl“, so werden zwei Dinge zweifelhaft: a) daß alle Wirtschaftssubjekte im Wirtschaftsablauf die gleiche Stellung haben sollen und b) daß die Wohlgeordnetheit des Systems sich gerade darüber herstellen soll, daß die Individuen ihr privates Interesse verfolgen.

Zu Punkt a) zeigten wir schon, daß die Gewinnmaximierer, als tragende Säulen der Volkswirtschaft, zwangsläufig eine andere Stellung innehaben. Punkt b) führt uns nun zu etwas anderem:

Wenn das System sich derart „irrational“ entwickelt, daß es ich selbst zu zerstören droht, macht es dem professionellen Apologeten nicht die geringsten Schwierigkeiten, in die unmittelbare Negation seines eigenen Credos zu verfallen. Er wendet sich von der heiligen Kuh der privatwirtschaftlichen Organisation ab und schwelgt in Vorstellungen von der Volksgemeinschaft; er stellt augenscheinlich unter dem Eindruck eines – in solchen kritischen Situationen wieder hervorhebenden – rudimentären Bewußtseins von Gesellschaftlichkeit, das Wohl des Ganzen über die Verfolgung des privaten Interesses – kann dies aber nur, indem er einigen Volksgenossen besondere Opfer im Dienste des Höheren abverlangt. Ja, er geht sogar soweit, die Volksgemeinschaft in Vernünftige und Unvernünftige („Gewerkschaften“) aufzuteilen, wobei der Unvernunft der letzteren ein Riegel vorzuschieben ist. Von der Unvernunft zur Krankheit ist es dann nurnoch ein kleiner Schritt, und wer sich nicht gesundbeten läßt, muß dem Sachzwang der Volksgesundheit zuliebe eben mit gewissen operativen Maßnahmen rechnen.

Gerät also das System in Schwierigkeiten, so ergibt sich ein seltsamer Widerspruch: es selbst wird in seinen Grundprinzipien geleugnet, zugleich jedoch diese Grundprinzipien wieder dadurch affirmiert, daß die „un-kapitalistische“ Vorstellung der Volksgemeinschaft sich differenziert in unterschiedene Arten von Volksgenossen. Der Begriff des „Gemeinwohls“ verliert seine vordergründige Neutralität und Überzeugungskraft dadurch, daß das „Gemeinwohl“ es mit den einen mehr, mit den anderen weniger wohl meint – es also in unmittelbaren Widerspruch zu sich selbst tritt.

Sollen tatsächlich ernsthafte Anstrengungen zur Einschränkung der Koalitionsfreiheit und des Streikrechts unternommen werden, so wäre dies als Moment eines verschärften Klassenkampfs von oben aufzufassen. Entsprechende Reaktionen der Arbeiterklasse sind zu erwarten. Sie wird dann so vernünftig sein, sich nicht mehr viel um das „Gemeinwohl“ zu scheren.

 

aus: MüSZ 6 – 1974

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