Militante Ursachenforschung:

Der Sumpf ist in uns allen


Die deutsche Öffentlichkeit ist schwer getroffen: über lange Jahre hat man mit der Elite an der sozialstaatlichen Brust die Viper des Bösen schlechthin hochgezogen:

„So läßt sich kaum noch die Erkenntnis unterdrücken, daß Terroristen nur allzuoft die neurotische Übersteigerung und Perversion eben jener »guter« Eigenschaften verkörpern, die in unserer Gesellschaft den Aufstieg in die anerkannten Eliten eröffnen: hohes Sprach- und Denkvermögen, moralische und soziale Sensibilität, Organisationstalent, taktische und strategische Phantasie, Führungskraft und Präzision.“ (R. Leicht in der SZ)

Besonders groß ist also das Erschrecken, weil die erheischten Fähigkeiten des Bürgertums, die ihm seine Vorrangstellung in dieser so die individuelle Leistung belohnenden Gesellschaft bescheren, nur mehr in Anführungsstrichen angeführt werden können. Die wenigen Mitglieder der Terroristenbande, die zu den unfähigen unteren Schichten gehören, sind eher schlichten Gemüts und unter gerichtlichem Druck zur reuigen Umkehr bereit, also Mitläufer und Verführte, während die Söhne und Töchter aus gutbürgerlichem Hause eine wahrhaft teuflische Mißachtung aller Wertmaßstäbe und unerbittliche Konsequenz des Handelns unter Ausnutzung ihrer Fähigkeiten und bis in den Tod – wo ja nun wirklich kein irgendwie gearteter Nutzen solchen Tuns mehr zu erkennen ist – an den Tag legen:

„... wer noch weiterkommen will, hat sich einem der fragwürdigen“ (so kommen Fragen in die Welt!) „Prinzipien der Gegenwart zu unterwerfen, dem der Leistung. Warum fraglich? Weil westliche Industriegesellschaften es dahin kommen ließen“ (von seltsamen Mächten getrieben?), „daß dieses Leistungsprinzip grob primitivisiert wurde. Es wurde allein auf die Fähigkeiten des Kopfs und auf rationelle Organisation reduziert.“ (H. Heigert in der SZ)

Und schließlich gehören zu solchen Unholden, die die Tugenden ihres Standes pervertieren, noch jene, deren eigentliche Aufgabe die Wahrung der Grundlage unseres staatlichen Daseins ist: die „Terroristenanwälte“ benutzen ihr respektables Berufsimage dazu, mit dem Recht gegen den Staat aufzutreten, gar mit den Angeklagten gemeinsame Sache zu machen.


Vergiftender Spaß

Das Mißtrauen wuchert. Wie weit mag das Gift schon in den Volkskörper gedrungen sein, wenn man nicht mehr Vertretern des Rechts, geschweige denn den eigenen Kindern trauen darf. Überall lauernde Wachsamkeit, ob nicht noch an den unverfänglichsten Stellen jemand das Volk auf illegale Art terrorisieren will.

Noch die heiterste Angelegenheit hat da ihre ernste Seite, ist es doch eine Frage, ob man in diesen schweren Zeiten einfach so Witze machen darf. Da entdeckt die „Welt“ in der Redaktion der FAZ einen als Witzbold getarnten Möchtegernterroristen, der „vermiesend“ zum „fröhlichen Weihnachtsfest“ eine Satire des Inhalts schreibt, daß es zu Weihnachten kein Fernsehprogramm geben wird. Wohlwissend, daß Weihnachten ohne Fernsehen in offenen Terror ausartet, sieht sich die „Welt“ zu einer besinnlichen und ernsten Reaktion veranlaßt: bei diesem Menschen müssen die „bürgerlichen Instinkte“ außer Funktion geraten sein, denn Scherze macht man zu Silvester oder zum 1. April, und jeder, der sich nicht daran hält, ist ein „selbsternannter Volkserzieher“, an denen man „übergenug“ und keinen Bedarf hat, gibt es doch schließlich einen volksernannten Volkserzieher.


Mißgeburten des zoon politikon

Den Übergang von einer mißlungenen (oder auch nicht) Satire zum Volksverderber macht man gewöhnlich nicht so leicht. Doch wenn die Terroristen es geschafft haben, das Leitband der sozialen Instinkte, die eigentlich zur natürlichen Grundausstattung des zoon politikon gehören, zu durchschneiden, und das Parkett der Öffentlichkeit so glitschig geworden ist – der Sumpf ! –, da muß man schon sehr diffizile Untersuchungen anstellen, wohin der besagte denn nun geschwappt sein und wo er herkommen könnte. Wer da meint, die Terroristen einfach als biologische Deformationen abtun zu können, hat zwar nicht unrecht, greift aber entschieden zu kurz. In der vehement angestellten sogenannten Ursachenforschung

„Nur wenn man den Terrorismus an der Wurzel packt, wird langfristig ein Erfolg gegen ihn möglich sein“ –

bekennt sich das Bürgertum zu seinen mißratenen Kindern: wir Normalmenschen müssen etwas falsch gemacht haben, und sei es auch nur, daß wir dem betäubenden Duft der Blumen des Bösen nicht rechtzeitig widerstanden.

Ursachenforschung beginnt selbstverständlich beim Menschen, der aufgrund eigentümlicher Schwächen Chancen, die ihm diese beste aller Welten darbietet, nicht in richtiger Manier wahrnahm – und damit wäre Ursache Nr. 1 und überhaupt schon herausgefunden –, und im weiteren hat natürlich der in theoretischen Fragen zuständige Pluralismus zu herrschen, der jedermann die ihm am günstigsten erscheinende Säuberungsvariante für die Mitglieder der offenen Gesellschaft ermöglicht –

„Paul Mikat sprach sich als Gesprächsleiter des ersten Tages gegen »monokausale Lösungsversuche« aus.“ (und zwar auf dem Fachkongreß der CDU über Ursachen des Terrorismus) –

was freilich nicht heißt, daß man nicht doch etwas Bestimmtes herauszukriegen hat: die Ursachenforschung hat der Stärkung unseres Gemeinwesens zu dienen, auf daß solche Fehlentwicklungen gewisser Menschen in Zukunft im Keime erstickt werden können – man muß sich eine Sensibilität eigener Art zulegen. Also:

„Zunächst ist da vielleicht der Gedanke, der. sich wohl jedem schon mal aufgedrängt hat: Hat dich womöglich nur ein glücklicher Zufall davor bewahrt, so zu werden wie der da?“

Der da ist ein Terrorist und der Gedanke kommt seinem Anwalt, der aufgrund des „inneren Risikos seines Berufsstandes“ zu dem üblen Fehler verleitet wurde, seine Fehler der Gesellschaft anzulasten – wobei er aber nicht alleine ist, sind wir doch alle einem „inneren Risiko“ ausgesetzt:

„Vielleicht sind wir alle schon zu sehr einer pseudo-soziologischen Denkweise verfallen“ (oho!), „bei der ganz vergessen wird, daß die Gesellschaft durch jeden einzelnen von uns konstituiert wird. (Psychologie-Professorin Elisabeth Müller-Luckmann über Motive der terroristischen Anwälte im „Spiegel“, ein Anlaß, den sie gerne dazu benutzt, zur fachüberschreitenden soziologischen Verherrlichung der Gesellschaft, so wie sie ist, anzutreten.)

Bevor wir die wahre soziologische Denkweise noch zu hauf erleben werden, noch die Versicherung eines anderen Seelendoktors, daß wir alle Verbrecher sind:

„Demgegenüber vermute ich, daß jeder einzelne von uns auf eine subtile und uneingestandene Weise mit Terrorismus zu tun hat.“

Dies verkündet ein „Professor für Sozialstrukturproduktion“ (??), und er bezieht seine Weisheit aus dem simplen Fakt, daß die Einschaltquoten bei gewalttätigen Fernsehsendungen sehr hoch sind, und aus der Frechheit, daß er jedermann in seine professorale Gänsehaut steckt:

„Wir empfinden einen süßen Schauer, wenn wir mit dem Anomalen» dem Gewalttätigen, dem Anarchischen konfrontiert werden.“ (K.O. Hondrich in der „Zeit“)

Und das Schlimmste dabei ist, daß man sich dessen nicht einmal bewußt ist:

„Niemand denkt noch lange über diesen massenhaften Hang zum Verbrechen nach, und natürlich ist niemand über sich selbst entrüstet.“ (H. Kühnert in der „Zeit“)


Verminung terrorismusverdächtigen Terrains

Nachdem so diese Liberalen, die allzugern vor einer Überschätzung des Terrorismus und einer allgemeinen Hysterisierung warnen, jedermann von seinem Innersten her für den Terrorismus verantwortlich gemacht haben – und da kommt keiner mehr aus, denn bekanntlich hat man angesichts dieser Zeiterscheinung nicht nur Abscheu, Ekel und Entsetzen zu äußern, sondern sich auch vor dem Abgrund der eigenen Gelüste zu erschrecken, wehe! –, ist die Ursachenforschung abgeschlossen und wendet sich in ihrem pluralistischen Teil nun der Abteilung zu, wo das terrorismusverdächtige Terrain links und rechts vom kitzlichten Staatsbürgerpfad vorsorglich vermint wird. Allerdings ist man da wenig einfallsreich. Die banale Variante heißt, daß man eisern an den Selbstverständlichkeiten dieser Gesellschaft festhält.

Hierzu stellt die Brauchbarkeit der Geschichte der Totalitarismusspezialist K.D. Bracher wiederum in der „Zeit“ (die natürlich! eine Reihe zu dem Problem macht) unter Beweis. Er meint beteuern zu müssen, daß der Terrorismus schon anfängt, wenn man „monolithische Theorien“ aufstellt, was wiederum damit anfängt, daß

„in der wissenschaftlichen und öffentlichen Diskussion der Totalitarismusbegriff durch den Faschismusbegriff ersetzt wurde ... Das war ein Politik um von erstrangiger psychologischer Bedeutung und es konnte einer Verschiebung der politischen Werte und einer Systemveränderung Vorschub leisten.“

Man hat also die gar nicht monolithische Meinung zu haben, daß unter den Totalitarismus Faschismus und Kommunismus fallen, welches Begriffsspiel nur darum witzig ist, weil der Totalitarismus das Gegenteil von Demokratie ist. Und darum was Schlimmes, weil man sich in ihm alles so leicht macht, nur einer bestimmten Idee vernagelt folgt – „schrecklicher Vereinfacher“ ist der Standardausdruck, wenn's in liberalen Blättern um die Terroristen geht –, während die Demokratie so unendlich komplex ist, daß

a) sie allerhand Konflikte in sich birgt und deshalb bergen muß

„ ... Trugbild einer scheinbar endgültigen Harmonie, welches den konfliktreichen pluralistischen Demokratien gegenübergestellt wird, widerspricht aber unser aller“ (schon wieder) „Einsicht in die Vielfältigkeit und Komplexität“ (Wohl eine Vielfältigkeit mit besonders undurchschaubarer Prägung) „menschlicher Existenz ...“

b) also jeder die zur Niederhaltung von Konflikten erforderliche Gewalt zu achten hat

„Mit der Überbetonung des Konflikthaften auf Kosten des Institutionellen, einem Grundproblem des Demokratieverständnisses (zur Zeit gottseidank eindeutig entschieden), werden Erwartungen geweckt, die sich schließlich gegen jede Art von Autorität und Herrschaft richten.“

Hören wir hierzu auch den Maier aus Bayern:

„Erziehung zur Anerkennung der Rechtsordnung, das heißt nicht zuletzt auch fähig machen, die Autorität jener anzuerkennen, die diese Ordnung herstellen, tragen und bewahren“ (und das alles für die terrorismusanfälligen Menschlein), „schule und wir“, 6/77

c) also jetzt und immerdar,

„Aus der Sicht des Psychologen ist damit die Skala der Antriebe (der Terroristen) nicht erschöpft. Mir scheinen zum Beispiel diese Leute ein völlig antihistorisches Lebensgefühl zu entwickeln“ (wir erleben die Geburt einer neuen psychologischen Kategorie, denn Not macht erfinderisch). „Sie scheinen nicht zu realisieren, daß wirkliche Veränderungen eines Menschen Zeit weit übersteigen.“ (Psycho-Prof. Müller-Luckmann)


Rollenverständnis gegen Sumpfanfälligkeit

Es folgt nun die Abteilung Verständnis, d.h. die kulturkritische Variante des Angriffs aufs mangelhafte staatsbürgerliche Seelenleben, die die Sumpfanfälligkeit des modernen Menschen anerkennt und gerade aus deren Anerkennung die Verpflichtung zu ihrer Beherrschung ableitet. Der Mensch hat es nämlich nicht leicht in der komplexen Welt – terroristische Gelüste können einen wohl mal ankommen. Mit der Gefühlswelt und den Trieben, die bei den Terroristen so unglaublich durcheinander, manchmal gar nicht oder auch zu sehr da sind, hat heutigentags jeder so seine Schwierigkeiten.

„Und das Verhältnis des Individuums zur Verwaltung, das notgedrungen viel intensiver geworden ist als früher, ist kalt und autoritär. Früher hat der Strommann den Zähler abgelesen und die Kosten für Elektrizität kassiert. Heute geht das über eine vom Rechenautomaten ausgedruckte Rechnung und selbstverständlich über ein Konto, möglichst mit »Einzugsermächtigung«, Die Einkapselung, die Kontakt- und Gefühlsarmut, die mit diesem Lebensstil einhergehen – sie gehören zu den Ursachen des Terrorismus.“ (Kühnert)

Dies und andere „unerträgliche Frustrationen“ können natürlich insbesondere junge Menschen, die nie Kommunikation mit einem Gasmann hatten, sehr gefährden:

„Diese suchen moralische Kriterien und Legitimationen für ihr Leben, jene (die Alten) haben sich in den bislang so erfolgreichen Effektivitätskriterien verfangen“ (Heigert)

Den Ruf des Zurück zur Menschennatur nimmt auch der Pfaffe begeistert auf:

„Wo immer Menschen sich nicht mehr geliebt und nicht mehr ethisch gefordert wissen, da überwuchert die Moral hemmungslos die Güte, jeden Humor, jede Nachsicht und jedes Verzeihen ... Wo die Eltern im »Kaviar fressenden« Wohlstand der feineren Familien sich vom moraltriefenden Terror von rechts und dessen Folgen erholen, ... da schlägt das Pendel bei den Kindern leicht nach links um.“ (G. Harbsmeier in der „Zeit“)

Was sich dem Mann Gottes als mangelnde Tauglichkeit der nicht ohne sein Zutun entwickelten moralischen Maßstäbe in der heutigen Welt darstellt, formuliert die unübertreffliche Müller-Luckmann folgendermaßen:

„Die Orientierung in einer sich ständig komplizierenden und widersprüchlichen Welt ist so schwierig geworden, erfordert so viel geistige Zügelung, soviel immerwährende Anstrengung ...“

Womit auch gleich ausgesprochen ist, daß die Unerträglichkeit der modernen Welt allerdings nicht die geringste Entschuldigung beeinhaltet, man hat eben seine Rolle zu spielen (Zügelung!), und die Dinge so zu nehmen wie sie sind:

„Nur ein gefestigtes Selbstverständnis der eigenen Rolle, mit ihren Möglichkeiten und ihren Grenzen, kann die nötige Sicherheit vermitteln, wenn die Gefahr absurder Identifikation“ (der Anwälte mit den Terroristen) „droht.“ Müller-Luckmann)

Die wahre soziologische Denkweise heißt also, daß man auf keinen Fall aus der Rolle fallen darf, und zu schauen hat, wie man mit seiner Gefühlswelt ins Reine kommt – und dabei um Gottes Willen den Staat in Ruhe läßt.


Warnung vor Idealisten

Der schwerste Fehler, den man nun nämlich machen kann, und die Ursachenforschung schlägt erbarmungslos auf ihn ein, ist es, Idealen nachzuhängen. Wenn einer meint, er könne durch praktische Parteinahme für Ideale die allgemeine Misere der gefühlsarmen Welt erträglicher gestalten, so tut man etwas äußerst Gefährliches. Glaubt man allzu sehr an diese Verklärung des Staates in der Zukunft, dann könnte es sehr leicht geschehen, daß man mit ihnen ihren Grund behelligt und ihm an seine praktische Gestalt fährt – und wohin das führt, dies der triumphierende Beweis, sieht man ja an den Terroristen.

Immer wieder die Feststellung, daß sie durchweg aus der Sozialarbeit kamen und die Enttäuschung sie zu Gewalttätern machte. Daß sie zu den Wahrern des Rechts gehörten, und darüber zu Fanatikern des Rechts, eines Rechts ohne den Staat, wurden. Darauf folgt jedoch sofort die Feststellung, nicht, daß es die Verdopplung der bürgerlichen Gesellschaft selbst in Wirklichkeit und verklärendes Ideal ist, die manche Menschen so sehr an die wohltätigen Wirkungen des Staats glauben läßt, daß sie das Freiheitsversprechen unbedingt für sich in Anspruch nehmen, gewalttätig als die wahren Moralisten sich betätigen, um endlich das Ideal zu verwirklichen –  nein, die Terroristen sind schwache Menschen, die es nicht schafften, den Widerspruch auszuhalten, schwache Menschen, die nicht begriffen haben, daß das Ideal nur dann von Staats wegen erlaubt sein kann, wenn es als ordnendes Moment in der Gefühlswelt des Staatsbürgers existiert, nämlich als Wunsch, keinesfalls als Wille. Es sei denn, es handelt sich um den Willen, alle Kraft für ein möglichst reibungsloses Funktionieren des Staatswesens einzusetzen, womit also der Staatsmann als der wahre Idealist anerkannt wäre, sorgt er doch aufopfernd dafür, daß alles richtig gemacht wird – die einzige Garantie für die Aufrechterhaltung eines Zustands, in dem Ideale überhaupt möglich sind. Damit ist das Feld des Sympathisantentums exakt umrissen und schier endlos: jeder, der irgendwie etwas von staatsbürgerlichen Idealen verlauten läßt – und sei es auch nur die berühmte Toleranz gegen Andersdenkende à la Böll – unterzieht sich dem Verdacht der Staatsfeindlichkeit.


Staatliche Tugenden im edlen Wettstreit

Jetzt, wo man mit nie erlebter Klarheit sieht, wohin das führen kann, wenn der Bürger von seinem Staat etwas erwartet oder gar verlangt, wird der Inbegriff staatsbürgerlicher Haltung in massiven und hochkonzentrierten Dosen verabreicht: Selbstbescheidung und Zufriedenheit, mit dem, was man ist, nebst einem stets wachsamen Auge auf das Befolgen dieser Tugenden beim Nachbarn, ist das oberste Gebot. Dem deutschen Bürger ist es gerade jetzt verboten, erleichterungshalber aus der Wirklichkeit fliehen zu wollen:

„Es ist eine Flucht aus dem ewigen Zwiespalt – endlich Ruhe, endlich die berühmte geistige Heimat zu finden. Das Bedürfnis danach plagt sicher nicht nur die Anwälte. Und nur wer imstande ist, gewissermaßen Utopie-Verzicht zu leisten, wird ihm nicht nachgeben.“ (Müller-Luckmann)

Was ansteht ist die angestrengte Herausbildung von Tugenden: totaler Staatsbürger soll er werden, der sich absolut nichts mehr davon anmerken läßt, daß er Grund für Ideale hat, nämlich genug Schwierigkeiten, die ihm das Leben versauern. Der vergessen geglaubte Heinrich Windelen ersteht aus seiner Grube:

„Der Bundesrepublik »fehle ein guter Schuß Jenes Preußentums, jener Staatsgesinnung« um die die Deutschen die ganze Welt einst bewundert und beneidet habe ... Die zunehmende Unzufriedenheit der Bürger mit Politikern und Parteien habe auch darin ihre Ursache ... Zum Erbe Preußens gehören nach seinen Worten »das uneigennützige, freiwillige Dienen zum Wohle des Ganzen, zum Wohl von Volk und Vaterland« genauso wie »die Unbestechlichkeit, die Pflichterfüllung, Bescheidenheit, die Sparsamkeit im privaten wie im öffentlichen Haushalt, der Respekt vor Recht und Gesetz,“ (jetzt kommen die schönsten) „die Zivilcourage, die Toleranz, die Freiheit des Geistes.«“ (SZ)

Auch die Pfaffen kommen wieder voll zu ihrem Recht, wenn es um so ganz uneigennützige Charaktereigenschaften geht: weg mit der ganz unchristlichen Rede vom ,,irdischen Jammertal“, „irreführenden, christlichen Jenseitshoffnungen“, nicht „moralistisch“ gilt es zu reagieren, sondern ganz diesseitig mit den Herausforderungen der heutigen Welt fertigzuwerden – nur so ist dem ,,raubtierhaft scharfsichtigen“ Terroristen, der das „christliche Mißverständnis eines Jenseits mit seinem Glanz und Glück total verdiesseitigt hat“ und sich als „Vollstrecker des kommenden weltgeschichtlichen Gerichts“ aufspielt, das Wasser abzugraben. (Harbsmeier)

Die Liberalen müssen eine ganz eigene Tugend propagieren. Verzweifelt hecheln diese Staatsfreunde, die bislang den Staat durch Ausmalen seines möglichen idealen Weiterkommens zu stärken suchten, dem Unbedenklichkeitsschein nach und beteuern inständig, daß sie sehr wohl diese ganzen Tugenden schon in sich hätten, ja, daß sie aufgrund ihrer gefestigten inneren Haltung nur gewagt hätten, den Staat als etwas Schöneres sich vorzustellen, und das Hauptargument dieser Schleimer heißt, der Staat sei doch so stark, daß er es gar nicht nötig habe, so hart zu reagieren er könnte dadurch sogar sich selbst schaden. Im wenig edlen Wettstreit der staatlichen Tugendbolzerei legen sie nun Wert auf die Gelassenheit. Andere entdecken die Brüderlichkeit und schließlich die Solidarität:

„Denn »Kritik und Konflikt« betont der Bundespräsident »sind die Kennzeichen einer offenen Gesellschaft und damit der Demokratie«. »Kennzeichen«, sicher – aber nicht ihr Inhalt. Walter Scheel hat nicht ausdrücklich gesagt“ (man kann es sich ja auch denken), „daß für die Demokratie Bejahung und Zusammenarbeit, wenn man will“ (man will): „Solidarität, noch wichtiger sind als Konflikt und Kritik. Sie müssen jedoch den Vorrang haben.“ (A. Böhm im Rheinischen Merkur)

Ganz ausdrücklich hingegen hat der Bundespräsident dies den Terroristen auf ihre Situation zugeschnitten gesagt:

„Stellen Sie sich den Behörden, Sie wissen, daß Sie ein fairer Prozeß erwartet. Werden Sie außerhalb der Strafanstalten wirklich jemals frei sein?“

Die Bild-Zeitung ist ausnahmsweise guten Mutes, denn die letzte Meinungsumfrage erbringt nicht nur, daß die Deutschen stolz auf sich sind, nein außerdem:

„Die Menschen besinnen sich auf jene Tugenden, mit denen wir – in allen demokratischen Lagern – bisher gut gefahren sind.“


Zwischen Ratio und Irrationalität das goldene Mittelmaß

Lassen wir das letzte Wort der genialen Psychologie-Professorin, denn schöner als sie kann man es nicht ausdrücken, daß der Terrorismus eine wunderbare Sache ist, um den Staatsbürger daran zu erinnern, daß er ein unvollkommenes Wesen ist, weil er nicht als solcher geboren wurde, daß er darum lernen muß, als Verrückter durch die Welt zu laufen (wobei ihm die Psychologie durchaus hilft), um den wahren sozialen Telos seiner gefühlsarmen Seele zu erlangen – und daß nur derjenige einen starken Willen hat, der sich selbst seiner Doppelexistenz mit freudigem Herzen und offenen Auges überantwortet, daß es von Übel ist, den Widerstreit zwischen Kopf und Verstand einseitig beenden zu wollen, denn zwar hat ihr Gesinnungsfreund Heigert recht, wenn er den Terroristen ihren überlastigen Intellekt zum Vorwurf macht, andererseits muß der rechte Staatsbürger im richtigen Moment auch wissen, wann man der Gefühlsaufwallung gegenüber klaren Kopf bewahren muß. Das goldene Mittelmaß und das Fingerspitzengefühl dafür – eine feste Größe ist es nämlich nicht – muß man sich in stetem Bemühen erarbeiten:

„Wer so disponiert ist“ (wer wohl?), „kann eine enorme Scheuklappen-Mentalität entwickeln, durch die man die Realität nicht wahrnimmt; dank der Überidentifikation mit der vermeintlichen Wahrheit geht die notwendige Distanz verloren, auch die Distanz zu sich selbst. Die Ratio fügt sich dem emotionalen Engagement, macht einfach mit. Der Vorgang hat Konsequenz: Wenn man sich einmal überantwortet hat, und solche Prozesse funktionieren nur bei totaler Überantwortung, dann handelt man ausschließlich irrational.“

Ein aktuelles Postskriptum:

Die Herausbildung der staatsbürgerlichen Tugenden, als das Band der Instinkte, das den Staatsbürger vor dem Abgleiten in überbetontes Gefühl bzw. zu strenge Ratio bewahrt, kann nicht früh genug beginnen, hat sich mit „Irrtümern“ der Vergangenheit herumzuschlagen, erfordert schließlich eine gehörige Portion Mut. Also schlossen sich einige Herren, unter ihnen Hermann Luebbe, Golo Mann, Nikolaus Lobkowicz und Wilhelm Hahn, zusammen in einem Bund namens „Mut zur Erziehung“. Nur der vollständig Erzogene (wie oben genannte Herren) kann sich die Freiheit herausnehmen, mit dem Staat in kritischen Dialog zu treten; umgekehrt: es ist absolut ein „Irrtum“ zu glauben, „die Schule könne Schüler kritikfähig machen“. Wer nicht wirklich in sittlicher Reife gefestigt ist, treibt zwangsläufig „in die Arme ideologischer Besserwisser, die absolute Ansprüche erheben“, –  was z.B. den christlichen Politphilosophen Lobkowicz immer wieder in die Pflicht als Universitätspräsident nimmt, ihnen „langsam und genüßlich die Haut abzuziehen“ (aus dem Drohbrief an die MARXISTISCHE GRUPPE München). Diesen Mut möchte er in Zukunft nicht mehr (nur)selbst aufbringen müssen, kann er es doch unter den jetzigen Umständen bequemer haben, (vgl. „Süddeutsche Zeitung“ vom 12.1.78)

 

aus: MSZ 21 – Januar 1978

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