Sterben heute: Anweisungen zum richtigen Leben


Zur Zeit befassen sich Schreiber der Bourgeoisie wieder einmal mit einem alten Thema, mit Spekulationen über ein Leben nach dem Tod. Wo sie der Mehrheit ihrer Bürger im Leben angesichts der Konjunkturlage nicht einmal mehr das übliche bieten kann, ein geregeltes Arbeitsleben nämlich, lassen die Gazetten Leute berichten, die „mit einem Fuß im Jenseits“ gestanden haben. Die Aufgeklärtheit des Zeitalters reflektiert in den Reportagen der kurzzeitig „klinisch Toten“ so, daß solche Erlebnisse die Betroffenen lebenstüchtiger gemacht haben, weil sie sich erstens freuen, ein zweites Leben „geschenkt“ bekommen zu haben und zweitens der Exitus für sie seinen Schrecken verloren hat. Nur scheinbar im Widerspruch dazu steht der Umstand, daß das Sterben selbst zum Problem geworden ist und jener Vorgang, wo der Mensch aufhört einer zu sein, als Problem der Menschenwürde diskutiert wird. Während das alltägliche Krepieren in den Konflikten der Staaten untereinander und das alltäglich-selbstverständliche Kaputtgehen im Arbeitsleben bestenfalls als Ziffer registriert wird, diskutiert die Journaille das Schicksal derer, die alles dies überlebt haben als Problem, wozu ausgerechnet der Fortschritt der Medizin beigetragen haben soll, jener Wissenschaft also, die sich mit den natürlichen Ursachen des Sterbens befaßt. Daß beide Varianten der bürgerlichen Befassung mit dem Tod und dem, was nach ihm sein soll, nichts anderes zugrundeliegt, als das Interesse an Zuständen, für die selbst er noch funktional gestaltet werden will, soll im folgenden gezeigt werden.


Sterben ist der schönste Tod

Während an Ostern der ungläubigen Christenheit die Auferstehung des Jesus von Nazareth als trickreichstes seiner unzähligen Wunder und krönender Abschluß einer vierteiligen Fernsehserie vorgeführt wird, erörtert man während des restlichen Jahres die Frage, ob es ein Leben nach dem Tod gibt, ganz im aufklärerischen Geist der Zeit, nämlich streng wissenschaftlich. Der Glauben hat sich eingebürgert, weshalb sich die Wissenschaft anstrengt, seine wohltätigen Funktionen für den Erdenwurm zeitgemäß aufzufrischen, indem sie den Inhalt des Glaubens problematisiert und mit Hilfe der Logik nachweist, daß diese Frage ihre Kompetenzen übersteigt. Ein moderner Mensch hat sich also auf beides einzustellen:

,,nicht unsterblich – nicht sterblich“ –

einerseits ist es durchaus möglich, daß er nach seinem Tod – in eine „andere Existenz“ verwandelt – weiterlebt, anderseits ist aber auch jene Möglichkeit nicht unmöglich, daß er dann wirklich tot ist – weshalb er sich von diesem seine Seele strapazierenden Zweifel von Zeit zu Zeit erholt, indem er sich eine italo-anglo-amerikanische Coproduktion zu Gemüte führt. Was nicht heißt, daß er nicht ebenso an den „Protokollen aus dem Jenseits“ sein Gefallen fände, die ihm von dem modernsten Abkömmling der Psychologie, der Thanatologie, gedeutet werden. Unbekümmert um die Tatsache, daß jene Berichterstatter einer besseren Welt ihren Bericht nur erstatten können, weil sie noch einmal davongekommen sind, nehmen die Sterbeforscher deren Aussagen zum Beleg der Möglichkeit, daß es „ein körperloses Bewußtsein“ gibt. Die Vernichtung der menschlichen Existenz durch den Tod, der mit dem Erlöschen der körperlichen Funktionen auch aller geistigen Tätigkeit ein Ende bereitet, verwandeln sie anhand der Berichte der Jenseitsgucker, die sie nicht erklären, sondern bestätigen wollen:

„Allerdings meinen die Autoren, daß diese körperliche Erklärung das ganze Phänomen nicht zu ergründen vermöge ...“

„Das soll nur festgestellt, es kann hier nicht erklärt werden.“ (Spiegel)

in eine Trennung von Körper und Geist, so daß mit dem Tod der längst fällige „Ich-Austritt“ erfolgen kann. Damit bewahrheitet sich aber nicht nur die „Vermutung“ des Paulus:

„Gibt es einen natürlichen Leib, so gibt es auch einen geistigen Leib“,

sondern auch die alten Ägypter und Tibeter, Paracelsus, Descartes, C.G. Jung und die Parapsychologie gingen nicht fehl in der Annahme, daß es einen „Astral“- oder „Fluidalleib“, eine „Urgestalt“ geben müsse.

Wenn so aller Aberglaube der letzten Jahrtausende – vom Neandertaler sind leider keine „Sterbeerlebnisse“ überliefert – als diskussionswürdiges Material, als ernstzunehmender Beitrag zu dem Problem, ob der Tod wirklich das menschliche Leben beendet, behandelt wird, weil einem Psychologen, der den Menschen nie anders als ein Bündel getrennter Funktionen betrachtet, die er auf Vordermann zu bringen hat, nichts geläufiger ist als die „Annahme“ der „Teilung des Selbst“:

„Das ist der Tod. Das ist, was wir Menschen Tod nennen, diese Teilung des Selbst.“ (Dr. Ritchie, Psychiater) –

so steht man doch heute den eigenen Wünschen kritisch gegenüber und bedenkt auch die Möglichkeit, daß einem mit dem Tod die herbste Enttäuschung des ganzen Lebens bereitet werden könnte. Schließlich muß man doch Realist bleiben und sich eingestehen, daß jene

„Berichterstatter der Sterbeerlebnisse nicht tot waren ... Sie haben allenfalls einen »Blick über den Zaun« getan, haben die Außenansicht einer anderen Existenz gewonnen.“ (Spiegel)


Das „letzte Glück“

Doch wenn auch die Hoffnung auf ein besseres Jenseits vage bleibt, so hat doch die moderne Psychologie im Sterben einen Trost parat, der die Genugtuung, die man bislang mit ihm verknüpfte:

„Der Mensch erfährt, er sei auch wer er mag.
Ein letztes Glück und einen letzten Tag.“ (Goethe)

„Vor der Himmelstür, vor der Himmelstür,
Sind alle gleich, ob arm oder reich.“ (Peter Alexander)

bei weitem in den Schatten stellt. Das „letzte Glück“ ist nämlich das Sterben selbst, das entgegen allem, was man so davon gehört haben mag, „ganz anders“ ist, nämlich „schön“.

„Ich fühlte, daß ich schwebte und gleichzeitig wunderschöne Klänge hörte. Ich sah harmonische Farben und Formen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, daß mich jemand trägt, ruft, tröstet, leitet, immer höher in die andere Welt, wo ich nun als Neuling eintreten durfte.“ (Ein Unfallopfer in der ADAC-Zeitung)


Das „Allerwichtigste im Leben“ ...

Das Sterben bietet, was einem das ganze Leben versagt bleibt:

„Gefühle der Freude, der Liebe und des Friedens“ („Spiegel)

Daß das Sterben als Krönung des Lebens verherrlicht wird, ist nicht neu. So hat etwa Rilke mit seiner Propaganda für den „eigenen Tod“ verkündet, daß sich die Besonderheit des Individuums darin verwirkliche, auf möglichst originelle Weise zu krepieren. Auch der Faschismus hat klargestellt, daß im Sterben fürs Vaterland die „eigenste Möglichkeit des Man“ liegt, Sinn in das – aufzugebende – Leben zu zwingen. Was neu an der Sterbediskussion ist, ist lediglich ihre psychologische Aufbereitung. Weil das Sterben „das Allerwichtigste im Leben“ ist, will das Sterbenkönnen gelernt sein, weshalb Sterbeschulen in landschaftlich reizvoller Umgebung aus dem Boden sprießen, die ihre Adepten in der Beschäftigung mit dem „angstbesetzten Objekt“ Tod die Angst vor dem, was nicht ist, auszuhalten lehren und ihnen die Angst vor dem Sterben als unbegründete ausreden, weil die letzten Sekunden in Wahrheit wunderschöne Jahre sind, angesichts derer der Todeskampf gegenstandslos wird, weil sie einen für ein ganzes Leben entschädigen. Wenn der Witz der Sterbe- und Todesdebatte darin besteht, daß sie heute in der Wissenschaft stattfindet, so verrät ein der Bescheidenheit aufgeschlossener Sachverständiger, warum sie auf die Irrationalität nichts kommen läßt:

„Die Menschheit sollte sich nicht anmaßen, in dieser Frage unbedingt »rational« und »sinnvoll« handeln zu wollen. Man sollte sich die menschliche Bescheidenheit bewahren, in dieser Frage ratlos und irrational zu bleiben.“ (Eugen Loderer)

Angesichts der weitverbreiteten Sicherheit, daß „wir alle einmal sterben müssen“, wird der daran ohne viel Aufhebens festhaltenden Menschheit „die Frage“ aufgedrängt, wie sie es denn mit dem Tod halte, um ihr Scheißleben besser vertragen zu können. Mit der Lüge, sie verdränge den Tod, wird ihr der Vorwurf gemacht, sie lasse die „Angst vor dem Tod nicht aufkommen“. Indem so die Wissenschaft darauf abzielt, durch eine ,,Beschäftigung“ mit dem Tod die Angst vor ihm nicht zu beheben, sondern zu erhalten, das „Unverhältnis zum Tod“, der angeblich als „Obszönität“ verdrängt wird, durch eine „Einstellung“ zu ihm zu beseitigen, in der das größenwahnsinnig gewordene Individuum sich seiner Kreatürlichkeit erinnert und damit auf die ihm gemäße Bescheidenheit zurückführt, startet sie auch hier einen Angriff auf den Materialismus der Bürger, der in dieser schnellebigen Zeit die Besinnung auf das Wesentliche, das Bewußtsein der eigenen Sterblichkeit verhindere. Anders als die christliche Kirche, die mit der Verkündung der Auferstehung den Tod für unwesentlich erklärte und mit der Verheißung eines besseren Jenseits die reichliche Entlohnung eines Erdendaseins versprach, in dem es nur Opfer zu holen gab, propagiert die moderne Moral am Tod nur das, was sie überall propagiert: der Sinn des Lebens wird ohne die rechte Einstellung zu ihm, nämlich sich ins Unvermeidliche zu schicken, verfehlt:

„Das menschliche Sterben ist zur Ausnahme geworden, wo die Verneinung des Todes, diese schon hysterisch gewordene Fluchtbewegung vor dem Unvermeidlichen, als Gesellschaftsregel gilt.“ (Fred Hepp, SZ/25.2.74)


... in „dieser Welt“

„Was nach dem Tod kommt, weiß ich nicht, aber was vor dem Tod liegt, spielt sich in der kapitalistischen Klassengesellschaft ab.“ (Max Horkheimer als Heinrich Regius, in: „Dämmerung“)

Weil ein aufgeklärter Mensch heute weiß, daß für ihn auf Erden durchaus etwas zu holen ist, aber nur, wenn er sich zu den entsprechenden Opfern bereitfindet, ist ihm einerseits die Moral zur Natur geworden – weshalb der Wink mit dem Jenseits nicht mehr zieht und die moderne Agitation es nicht mehr nötig hat, sich ausschließlich auf das Jenseits zu beschränken. Andererseits gehört zur Ungewißheit, ob man wirklich verdirbt, wenn man stirbt, der Materialismus des „Man lebt nur einmal“, der alles andere ausdrückt als die Gewißheit, daß mit dem Sterben das Leben aufhört – schließlich heißt dieser Spruch im Original „Man lebt nur einmal in der Welt“ („Der Waffenschmied“ von Lortzing). Deshalb pflegt die eine Seite diese Redeweise dann mit schlechtem Gewissen vorzubringen, wenn man, um den täglichen Verzicht zu vergessen, mal einen draufgemacht hat, während die andere Seite, die es nicht nötig hat, ihre täglichen Genüsse zu entschuldigen, mit diesem Spruch demonstriert, daß es ihr eine Selbstverständlichkeit ist, daß es ein Leben im Wohlstand und eines im Elend geben muß. Wo sich beide Seiten darin einig sind, daß es immer noch besser ist, tot zu sein als rot, legt die eine der anderen die ernsthafte Überlegung nahe, im Sterben den Sinn des Lebens sich erfüllen zu lassen, was zwar über jenes nichts Neues zu Tage fördern wird, aber doch ein bezeichnendes Licht auf das Leben wirft, in dem ein Teil der Menschheit anscheinend so gut fährt, daß sein „würdevolles Ende“ der Gipfel seines Inhalts sein soll.


Leben müssen, sterben dürfen

Die Verherrlichung des Sterbens als menschlichem hat die fortschrittlichen Amerikaner dazu geführt, ihre Opas aus den Intensivstationen zu holen (bzw. sie erst gar nicht mehr reinzulassen), damit diese im Kreise der Familie in ihrem Siechtum beweisen können, daß das Ringen mit dem Leiden einen Menschen wahrhaft groß macht, und den Kindern diese Erfahrung zu vermitteln, weil ihnen so jede Schwächlichkeit frühzeitig ausgetrieben wird:

„Sterben ist so natürlich wie Leben, und wer Angst zu sterben hat, hat auch Angst zu leben.“ (Clark Gable in ,,Misfits“)


Sozialbewußtes Sterben

Weil so alles auf das „Sterbeerlebnis“ ankommt, zieht auch der „Spiegel“ aus den Jenseitsprotokollen eine mutige Lehre:

„Und zeugen die Erlebnisse aus den Grenzbereichen des Todes nicht gerade von einer »außerordentlich gesteigerten Arbeit des Bewußtseins« in den Augenblicken vor dem biologischen (!) Tod?
Dann freilich kann, ja muß aus diesen Berichten doch gefolgert werden, daß es das Sterben nicht leichter, sondern schwerer macht, wenn sich die moderne Medizin dieser gesteigerten Arbeit des Bewußtseins ... mit allen ihren Mitteln entgegenstellt.
Dann lehren die Berichte aus dem Grenzbereich des Todes, daß man den Menschen nicht nur ums Leben, sondern auch ums Sterben bringen kann.“

Diese beherzte Attacke gegen die Intensivstationen –

die „die Bundesrepublik mittlerweile so dicht überziehen, als wären sie die Knoten im sozialen Netz“, in denen „Teuerstes und Bestes injiziert“ wird und wo trotzdem „der Kampf meist verlorengeht: Sechs, manchen Ortes auch acht von zehn Patienten werden tot aus der Intensivstation gefahren, die Füße voran“ –

fordert vom Staat im Namen der Menschlichkeit, den Sterbenden diese „Vorhölle“ und sich die unnützen Kosten zu ersparen, indem eine Diskussion über das „Recht auf den eigenen menschenwürdigen Tod“ ins Leben gerufen wird. Wo das Leben der Güter höchstes ist, weil es dem Staat gehört, liegt die wahre Würde des Individuums in der Erfüllung des staatlichen Sparprogramms beim Sterben, was ein verantwortungsbewußter Staatsbürger rechtzeitig einsehen sollte:

„Ich nehme, vermutlich ganz unnütz, anderen den Krankenhausplatz weg. Ich verursache den Krankenpflegern Arbeit und der Familie und dem Staat Kosten (das Geld kann Lebenden zugewendet werden). Für mich wäre es (wird es sein!) ein Akt bewußter sozialer Haltung auf religiöser Grundlage und ein Akt höchster Freiheit.“ (Luise Rinser)


Wann den Stecker rausziehen?

Dieser uneigennützigen, edelfaschistischen Seele wird jedoch die Freiheit verwehrt, den Stecker rausziehen zu lassen, weil das Recht auf den eigenen Tod solange nicht gewährt werden kann, als noch Leben – zwar nicht in ihr, so doch – in ihrem Körper ist. Weil die Frage, wann ein Mensch tot ist, daran geklärt wird, ob noch Leben in ihm ist, wird auf die Pflicht des Staates gepocht, den Körper eines Menschen, dessen Individualität durch die Zerstörung seiner Gehirnzellen vernichtet ist, durch den Einsatz der modernen Medizin am Leben zu erhalten. Obgleich heute dank der Fortschritte der Medizin niemand mehr unter dem Alptraum Poes leiden müßte, als Scheintoter begraben zu werden, weil sich die Gehirnströme mittels eines EEG messen lassen und bekannt ist, daß ein Gehirn, dem länger als fünf Minuten die Sauerstoffzufuhr entzogen war, nicht wieder repariert werden kann, bedient sich doch jene Partei, die Körper ohne Geist überleben lassen will, der Lüge, „die Grenze zwischen Leben und Tod“ lasse sich nicht bestimmen (weshalb auch Hartwig Steenken durch sein Pferd wieder wachgewiehert werden sollte):

„Nach meiner Auffassung läßt sich die Grenze zwischen Leben und Tod nicht exakt naturwissenschaftlich festlegen.“ (Gerichtsmediziner Spann, der in seiner Praxis seine Auffassung Lügen straft.)

„Kein Leben ist zu Ende, und wir können auch nicht in aussichtslosen Fällen über Tod und Leben entscheiden, ehe nicht der Tod wirklich eingetreten ist. Es gibt Dinge zwischen Leben, Sterben und Tod, die der Vernunft verborgen bleiben.“ (Krankenschwester nach dreißig Jahren Berufserfahrung)

Es ist also keine naturwissenschaftliche Diskussion, wenn überlegt wird, wann man den Stecker rausziehen darf. Stattdessen wird die Leistung der Medizin, den Todeszeitpunkt zu bestimmen, geleugnet, und der medizinische Fortschritt, der sich darauf beschränkt, einen Körper überlebensfähig zu erhalten, wenngleich seine Funktionen ruiniert sind, wird für die Leistung ausgegeben, das Leben zu verlängern, als ob es einer Medizin, die als Hauptwaffe im „Kampf gegen den Krebs“ Mildred Scheel einsetzt, die den Fernsehzuschauern das Rauchen madig macht, darum ginge. Ja, weil die Naturwissenschaften die Überlebensfähigkeit des Körpers eine Zeitlang bewerkstelligen können, sieht man ihren Fortschritt darin, daß sie das Sterben abschaffen können:

„Seit nämlich die Heilkundigen, kraft Wissens und technischer Macht dem Sterben wirklich Paroli bieten ...“ (Spiegel) –

was für die Linken wie Bloch allerdings erst im Sozialismus wirklich möglich sein wird, während auch die reichen Amerikaner damit rechnen, daß es noch einige Zeit dauern wird, bis es soweit ist, weshalb sie sich nicht mehr einbalsamieren, sondern einfrieren lassen (in Deutschland, dem Land des Jungborns, steht man jedoch nach wie vor auf Frischzellen). Wenn so die moderne Medizin die Macht hat, einen Körper ohne Willen am Leben zu erhalten, kann der Vorwurf nicht ausbleiben, sie sei am Dilemma schuld, das der demokratische Staat angeblich haben soll:

„Ein Dilemma der Ohnmacht, das die Medizin durch das Riesenaufgebot an Apparaten wohl verschleiern, nicht aber beseitigen kann.“ (Spiegel)


Eine Gewissensfrage

Das Dilemma kann nicht rational entschieden werden, da die streitenden Parteien beide mit dem Abstraktum Leben operieren (so entzogen die Eltern Karen Quinlans, die nach dem Abschalten der Maschinen, das ihren natürlichen, würdigen Tod bewirken sollte, weiteratmete, nicht die künstliche Nahrung, weil noch eine „geringe Lebensqualität“ und damit „etwas von Karen“ vorhanden war), weil beide die Macht des Staates anerkennen, das Recht auf Leben zu verleihen:

„Mein Gott, dachte ich, so eine private Sache und so ein Riesenzirkus.“ (Pater Thomas, der geistliche Beistand der Familie Quinlan, die dem Staat das Recht ihrer Tochter auf einen „Tod in Würde“ abtrotzte).

Deshalb muß ein ,,Kollegium, ein Konzilium von Priester, Arzt, Richter“ (Werner Höfer – „Leben müssen, sterben dürfen“) her, das darüber berät, wann und wie man die Maschine abstellen (bzw. möglichst unauffällig erst gar nicht anstellen) kann, ohne mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten. Doch da diese drei bereits von Unsicherheit angekränkelt sind, bleibt eigentlich nur das Gewissen, auf das auch in dieser Lage Verlaß ist, weil es sich stets die Frage stellt, wie wohl der lebende Leichnam entschieden hätte:

„Wenn die Unsicherheit dadurch vermehrt wird, daß Instanzen, die bisher über Jahrtausende hinweg immer ganz sicher waren in ihrem Urteil, sei es die Jurisprudenz, sei es die Religion, sei es die von Hippokrates in Pflicht genommene Heilkunst – wenn die auf einmal alle unsicher sind: Was bleibt dann? Offenbar nur diese arme letztinstanzliche Einrichtung namens Gewissen.“ (Höfer)

„Karen selbst habe nie gewollt, daß man ihren biologischen Tod gewaltsam hinauszögerte, falls ihr je ein Unglück zustoßen sollte.“ (Karens streng katholische Eltern)

Während es im Faschismus eine Selbstverständlichkeit ist, daß nur nützliche Mitglieder in ihr existenzberechtigt sind und daher „lebensunwertes Leben“ vernichtet wird, ist man in der Demokratie in der bedauerlichen Lage, einen Staat zu haben, der das Recht auf Leben verleiht, weil man die Pflicht hat, es für ihn zu lassen – so daß man die vom Faschismus gezogenen Konsequenzen nur erörtern kann. So erfreut sich einerseits die Spekulation darüber großer Beliebtheit, wer und wann eigentlich doch besser weggehört, bei der man andererseits stets darauf bedacht ist, sich mit faschistischen Sprüchen von der faschistischen Euthanasie abzugrenzen.


Rationalisierung beim Sterben

So wird an allen unnützen Personen diskutiert, wie man dem Staat Kosten ersparen kann, indem man sie in den menschenwürdigsten Zustand versetzt. Das Sterben läßt sich ungemein verbilligen, wenn man die Alten von den Intensivstationen fernhält und die Ahnderln (man braucht sie ja nicht gleich zu vernichten) aus den unmenschlichen Altersheimen in den Schoß der Familie heimholt. Auch die geisteskranken Kinder sind ein heißes Eisen, das niemand so gern anpackt wie die Pfaffen, die sich an ihm nicht die Finger verbrennen, weil ihr gefestigtes Gewissen sie vor einem „Mißbrauch des Euthanasiegedankens“ bewahrt. So plädiert ein glatzköpfiger Ethik- und Religionsphilosophie-Dozent aus Amerika namens Lachs für den „Gnadentod“ bei jenen Kindern, die „keine Person“ sind, weil sie wegen eines Wasserkopfes

„keine Chance haben (darin ist man sich im allgemeinen (!) einig), im Lebenskampf zu bestehen oder auch nur ein bescheidenes Maß von Selbständigkeit zu erreichen ... Die einzige Art, solche Wesen human zu behandeln“, besteht für ihn somit darin, „sie nicht als Menschen zu behandeln.“

Da auch bei der Verlängerung des Lebens die Kosten die ganze Diskussion in Gang bringen – schließlich ist der medizinische Fortschritt, der lediglich ein Leben erhält, das für den Staat nichts bringt, ebenso teuer wie unnütz –, wird nie die Vernichtung des Individuums als Argument vorgetragen, um die Toten sterben zu lassen. Stattdessen verwandelt man das Ganze in die Gewissensfrage, ob das Leben prinzipiell zu erhalten sei, wobei sich die Sterbensverkürzer gegen den Verdacht des Mordes am Leben verteidigen, indem sie vor ihrem Tun, das sie nicht länger mit dem häßlichen Fremdwort, sondern als „Sterbehilfe“ bezeichnen, „schaudern“, obwohl sie doch nur das tun, was nach Auffassung der Gegenpartei der Körper selbst zu tun hat:

„Es ging den Quinlans darum, Karen von der künstlichen Beatmung zu erlösen und sie damit in ihren natürlichen Zustand und die Hand Gottes zurückzuführen.“ (Pater Thomas)


Leben und Sterben für den Staat

Der demokratische Staat hört beide Parteien gern streiten, weil sie nicht nur als Lebensfanatiker voll hinter ihm stehen, sondern darüberhinaus der Öffentlichkeit das Problem des teuren medizinischen Fortschritts bewußtmachen, so daß er auch darauf verzichten kann, das Recht auf den eigenen Tod ins Grundgesetz aufzunehmen. Die Kostenfrage löst er auf seine Weise, indem er für den Erhalt des Lebens nur das Notwendige ausgibt, so daß sich die Ärzte, bevor sie jemand in die Intensivstation stecken, schon überlegen, bei wem es sich rentiert. Weil es eine Selbstverständlichkeit ist, daß das Leben dem Staat gehört (diesen Besitztitel demonstriert er drastisch in Kriegszeiten an denen, die sich durch Fingerabhacken dem Wehrdienst entziehen wollen, indem er ihr Recht auf Leben für verwirkt erklärt, weil sie der Pflicht, für den Staat zu sterben, entkommen wollten) und die erste Pflicht jedes Staatsbürgers darin besteht, sich arbeitsfähig zu erhalten, hat er auch nichts dagegen, wenn diskutiert wird, ob das Sterben nicht schöner als das Leben sei, da diese Diskussion nicht als Angriff auf die Lebensqualität, die er seinen Bürgern bietet, mißverstanden werden kann – schließlich dient sie doch nur dazu, ein Leben, das sich nicht lohnt, auszuhalten. Und endlich darf man in einer Demokratie auch ungestraft sagen, daß der Selbstmord ein Akt höchster menschlicher Freiheit ist, weil das sowieso nur ein Thema für Intellektuelle ist. Und wenn jugendliche Schüler und Arbeiter diese Gedanken, mit denen man sie verdorben hat, in die Tat umsetzen:

„Du kannst Dir gar nicht vorstellen, was man mit Freiheit alles machen kann. Ich hab mich darum gekümmert rauszubekommen, was nach dem Tod ist, und bin auf etwas gestoßen, was mich weiterbrachte. Ich weiß nicht genau, warum ich das tue. Aber jetzt weiß ich, was nach dem Tod ist, und es ist nicht mehr so leicht, ihn von mir fernzuhalten.“ (Abschiedsbrief einer 14-jährigen Volksschülerin, die ihr Geheimnis mit ins Grab nahm.)

so bemächtigt sich der Staat derer, die es nicht geschafft haben, und schickt sie in seine ,,geschlossenen Abteilungen“ – womit er klarstellt, daß er labile Typen, die sich einem pflichtbewußten Leben entziehen wollen, nicht zu dulden gewillt ist.

 

aus: MSZ 22 – April 1978

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