Die demokratische Studentenschaft empört sich:

Ein Skandal in Marburg


 
 „Die Störungen von Seiten der Chaoten, die an einer Diskussion über die Hochschulkgesetzgebung nicht interessiert waren, bedeutzet einen Schlag ins Gesicht all derer, die sich für eine soziale und liberale Hochschulgesetzgebung einsetzen.“

 

Tags darauf machte sich der SLH zum Sprachrohr all derer, die gerne mit dem hessischen Kulturminister Krollmann über die Modalitäten der Durchsetzung seines Hochschulgesetzes auf einem vom RCDS initiierten „Hochschultag“ im Audimax der Universität Marburg („Demokratisch seit 450 Jahren!“) diskutiert hätten. Der Gesprächspartner war fachlich qualifiziert: ehedem Polizeipräsident hatte er bewiesen, daß er was von Durchsetzung auch bei härtestem Widerstand versteht und angesichts der Diskussionsbereitschaft derer, mit denen er es, seit er im neuen Amt ist, zu tun hat, kann er die Gummiknüppel ruhig zuhause lassen, in Marburg und auch anderswo. Daß es am 11.11. just zum Karnevalsbeginn in Marburg zum Skandal kam, verdankt sich folglich nicht dem Umstand, daß der Architekt eines Hochschulgesetzes, mit dem Ordnungsrecht, Regelstudienzeit u.ä. auch in Hessen den studentischen Alltag künftighin bestimmen sollen, dies auch noch vor den Opfern seiner Maßnahmen propagieren wollte: mitnichten, denn damit haben sich die westdeutschen Studenten ohnehin abgefunden. Skandal machte vielmehr die mangelnde Bereitschaft etlicher hundert Marburger Studenten, Herrn Krollmann noch Fragen zu stellen, wo alle seine Antworten doch längst praktisch erteilt sind. Die „Oberhessische Presse“ wußte auch die Urheber zu benennen:

„Die Störer wurden von Kennern der studentischen Szene“ (wir gehen wohl nicht fehl, daß diese Kenner in den Amtsräumen des Marburger AStA die „studentische Szene“ betrachten) „als Mitglieder der sogenannten »Marxistischen Gruppe« ... identifiziert.“

Perfiderweise tarnten sich die Störer ausgerechnet mit Exemplaren der FAZ und bestätigten damit durch die Zweckentfremdung den Werbespruch, den der Inhalt jenes Sprachrohrs der Großbourgeoisie nicht einlöst. Die Empörung der Demokraten übet diese „grobe Unhöflichkeit“ einem Minister gegenüber war denn auch allgemein. Wir zitieren wahllos:
– ,,provokatorische Störversuche“ (AStA Marburg)
– „ein schlechter Dienst an der notwendigen Kritik der Novellierung des hessischen Hochschulgesetzes“ (GEW)
– „K-Gruppen“ (Süddeutsche Zeitung)
– „Linksfaschisten“ (RCDS)


Peinlich, peinlich!

Was Demokraten aber am meisten erregen muß, war der „schlechte Eindruck“, den mangelnde studentische Kommunikationsbereitschaft bei der „Öffentlichkeit“ hervorrufen muß. Diese, die ja bekanntlich geschlossen gegen das HRG auftritt, sich für ASten mit politischem Mandat einsetzt und dem kommenden „Streik“ der VDS noch wohlwollender gegenübersteht als richtigen Streiks in der Wirtschaft, wird natürlich an den Studenten irre, wenn diese durch „ein wüstes Tohuwabohu“ (AStA-Info) „jeden Redebeitrag“ eines Ministers verhindern. Wie gut, daß sich angesichts der „Provokation“ (Merke: Wer einen Minister nicht agitieren läßt, ist „in die Schranken zu verweisen“ – AStA) die Demokraten in Marburg wie ein Mann zusammenfanden:

„Damit wurde generalstabsmäßig das geliefert, was die herrschenden Bildungsplaner als Bild der Studenten in der öffentlichkeit brauchen: eine nicht zur Diskussion bereite und gewalttätige“ (die Störer hatten „Krollmann raus!“ in Sprechchören gerufen) „Studentenschaft, für die die rigorosesten Hochschulgesetze gerade gut genug sind."

„Das Verhalten der Störtrupps ist auch deshalb zu verurteilen, weil in der öffentlichkeit der Eindruck entstehen muß, deren Einstellung sei repräsentativ für die ganze Studentenschaft. Dieser Eindruck dürfte kaum dazu beitragen, studentischen Forderungen in der Öffentlichkeit Gehör zu verschaffen.“ (Nur eines der beiden Zitate ist vom SLH, das andere vom Marburger AStA.)

Die wuchtigste Abfuhr für die „Störer“ kam jedoch von Krollmann selber. Er war es, der das Gespräch mit dem Marburger AStA suchte und auch angesichts der Schädigung studentischen Ansehens an seinem Bild vom MSB festhielt. Es schadet nicht, mit diesen Jungs zu reden, dachte er sich und suchte nach dem Mißglücken der offiziellen Hochschultagsveranstaltung das Gespräch mit den Teilnehmern eines vom AStA anberaumten Alternativ-Teach-Ins. Dort

„ließ er keinen Zweifel daran, daß die Regelstudienzeit und die von ihr bestimmte Studienreform das Kernstück des HRG darstellen; die disziplinierenden Maßnahmen wie z.B. das Ordnungsrecht sollen als »schneidige Instrumente« für ihre Durchsetzung sorgen.“

Diese brandaktuelle Neuigkeit berichtete der AStA seinen Studenten und es läßt sich daran ermessen, wie ungeheuerlich das Auftreten der „Störer“ war, die meinten, solches ihren Kommilitonen vorenthalten zu müssen.

 

Akademisches Proletariat

Die öffentliche Agitation, gemeinhin bemüht, den ungeliebten Sachverhalt einer Klassengesellschaft durch sorgfältigen Gebrauch ihres Vokabulars, das das anachronistische Proletariat durch die gefälligere „Arbeitnehmerschaft“ ersetzt hat, um seine Existenz zu bringen, gestattet sich angesichts gewisser Unstimmigkeiten im Ausbildungsbereich mit der Rede vom „akademischen Proletariat“ eine Ausnahme von der Regel. Daß die akademische Jugend neuerdings keinem gesicherten Berufsleben entgegenstudiert konfrontiert nämlich den Führungsnachwuchs mit einem „Lebensrisiko“, mit dem man in anderen Bereichen der Gesellschaft als der Selbstverständlichkeit zu leben hat, die Volkswirtschaftler als Vollbeschäftigung zu definieren pflegen. Die Regeln des Arbeitsmarkts, daß nicht gebrauchte Qualifikationen deren Besitzern nichts einbringen und als unverkäufliche sich allenfalls durch ihre preissenkende Wirkung nützlich machen können, bekommt hier jedoch ein Stand zu verspüren, dem ein solches Schicksal nicht angemessen ist, wurden doch traditionellerweise überschüssige Mitbewerber für die begehrten Spitzenplätze bereits innerhalb des Ausbildungswesens genügend dezimiert. Nun aber gerät die Elite der ausgebildeten Jugend in Kalamitäten, die bislang den unteren Rängen vorbehalten waren, und dies ist der Skandal, für den das Schlagwort vom „akademischen Proletariat“ verstaubte Parolen bemüht.

Daß Akademiker, die keine ihrer Qualifikation entsprechende Stellung finden, deswegen gleich Proletarier sind, will man damit natürlich nicht behaupten, kritisiert man doch gerade die mangelnde Effizienz der staatlichen Auslese für die Berufe, die bei der quantitativen Zuteilung gewisse Proportionen außerachtgelassen hat, Verlautbarungen wie „wenn der Staat Akademiker wie am Fließband produziert, dann müssen die Akademiker bald wie am Fließband produzieren“ (Dregger) prognostizieren nicht die Umstellung von Richtern oder Lehrern auf Akkordarbeit, sondern äußern mit der Ungeheuerlichkeit, Akademiker und Fließband zusammenzudenken, die Sorge, daß in den überschüssigen Hochschulabsolventen Ansprüche entstanden und staatlicherseits durch Examen und Titel bestätigt worden sind, die, wenn sie nicht erfüllt werden, Unfrieden stiften.


Klassenkampf aus enttäuschter Hoffnung?

Die Enttäuschung von Erwartungen, die sich zwar in den seltensten Fällen auf einen Platz an der Drehbank oder auf dem Bau einstellen, wohl aber mit Beschäftigungen unter ihrem Niveau rechnen müssen (wobei einige weniger Qualifizierte ihre Plätze zu räumen haben), gibt Anlaß zu der Befürchtung, daß bei den Enttäuschten „proletarische“ Unsitten einreißen könnten, Es ist freilich nicht die Angst vor dem fehlenden Leistungswillen einiger tausend frustrierter Akademiker, die ihnen dieselbe umstürzlerische Potenz zuerkennt wie denen, die sie haben und denen u.a. die Aberkennung ihres klassischen Namens zeigen soll, daß sie sie nicht (mehr) zu betätigen brauchen. Beunruhigend ist vielmehr, daß die dequalifizierte Elite dazu neigen könnte, sich unstandesgemäß aufzuführen. Die Enttäuschung ihrer Hoffnungen könnte die Loyalität zu unserem Staat und unserer Ordnung, auf die Hochschulen den akademischen Nachwuchs mit der Aussicht auf entsprechende Bezahlung einschwören, gefährden und die Betroffenen dazu veranlassen, freiwillig unter ihren Stand zu gehen und, um ihrer Enttäuschung Gehör zu verschaffen, sich gemein zu machen mit Leuten, deren Hoffnungen traditionellerweise unberücksichtigt bleiben. Und deshalb entdecken die Meinungsmacher ausgerechnet am Problem einiger überzähliger Staatsdiener ihre Angst vorm Klassenkampf.

Die revisionistische Konkurrenz ist nicht minder besorgt über deren Schicksal. Zwar galt ihr zu Zeiten der Studentenbewegung „Proletarisierung“ noch als ein Ehrentitel und der „Klassenverrat“ als der alleinseligmachende Weg zum wahren Volksfreund, den Intellektuelle als Intellektuelle durch volksdienlichen Einsatz der bürgerlichen Wissenschaft zu beschreiten hatten. Mit der vom Staat zwangsweise verpaßten Proletarisierung hat sich die Sachlage jedoch geändert und der Weg an die Seite des Proletariats führt nun erst einmal zur energischen Verteidigung der eigenen Stellung. Denn als vom Staat gedeckelte werden die enttäuschten Akademiker automatisch zum Parteigänger der Massen, denen Ähnliches tagaus tagein geschieht, weshalb es vor allem zu begreifen gilt, daß die eigene Betroffenheit eine himmelschreiende Ungerechtigkeit gegenüber den anderen darstellt, denen ihre Manager, Steuerberater, Gesundschreiber und Moralprediger vorenthalten werden, womit man es geschafft hätte, sich als Kommunist und Volksfreund den gedemütigten Intellektuellen als deren ureigenste Vertretung anzuempfehlen.


Durch Identifikation aus der Identitätskrise heraus!

Mit der Lüge von der großen Gemeinsamkeit der irgendwie Geschädigten, für die das Schlagwort im revisionistischen Lager herhalten muß, ebenso wie mit der Schärfung des studentischen Unrechtsbewußtseins, die die Wortschöpfung als

„Produkt bourgeoiser Bildungsfeindlichkeit“ entlarvt – „sie wollen von ihrer eigenen Verantwortung für den moralisch-ideologischen Verfall von Bildung und Kultur ablenken“ (Rote Blätter) –

erspart es die revisionistische Kritik den enttäuschten Akademikern, ihre Enttäuschung zum Anlaß zu nehmen, die Funktion ihres Standes anzuzweifeln. Ihre Betroffenheit verleiht ihnen das Gütesiegel „Volksfreund“, nicht ihr politischer Wille. Die Bestätigung der studentischen Empörung, daß man so mit ihnen doch nicht umspringen könne, nimmt dem Staat das Problem ab, sein Proletariat vor intellektuellen Verführern schützen zu müssen.

Wenn die bürgerliche Drohung an die Adresse der Studenten, ihren Standesverlust als „Identitätskrise“ (Helmut Schmidt) standesgemäß zu bewältigen und die revisionistische Anbiederung, sich an der Seite der Massen den eigenen Stand zu erhalten, mit dem Schlagwort vom „akademischen Proletariat“ den Klassenkampf an einer Nebenfront beschwören, die daraus entsteht, daß der Staat bei der Auslese seines Nachwuchses gewisse Ungereimtheiten hervorbringt, dann ist das gefürchtete „proletarische Umsturzlertum“ nicht besonders aktuell. Und die Erinnerung ans Proletariat von beiden Seiten will es erst gat nicht einreißen lassen.

 

aus: MSZ 20 – Dezember 1977

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