Die Lehrmittel der Nation (MSZ-Schulbuchreport 1)

Wissenschaft im Dienste des Jungvolks

„Manches allzu kritische Lesebuch aus den von der Reformeuphorie bewegten Jahren, das heute mit Recht Mißtrauen und Unbehagen auslöst, bedarf der kritischen Überprüfung, ob es mit den heutigen Lehrplänen noch übereinstimmt ... Insgesamt ist die Zeit reif für eine neue Generation von Schulbüchern.“ (Hans Maier, Kultusminister)

Der Minister, der die kürzlich dekretierte Streichung von Lesebuchartikeln mit „Mangel an Übereinstimmung mit dem neuen curricularen Lehrplan“ – also mit seinen schon gelaufenen Entscheidungen in Sachen „Mut zur Erziehung“ – begründet, spricht zynisch seine Gewißheit aus, daß im Schulbuch „mit Recht“ die Staatsgewalt das Sagen hat. Die „Zeit“ ist im „Modell Deutschland“ eben „reif“ dafür, „pünktlich, aufmerksam, verträglich, friedfertig und ruhig zu sein“ (Schule & Wir, Zeitung des Bayer. Kultusministeriums) – weshalb staatliche Oberpädagogen im Lehrmittelgenehmigungsverfahren die entsprechenden Signale setzen und hier erst gar keine Illusionen aufkommen lassen, worin die demokratische Freiheit des Geistes besteht:

„Die anstehenden Einschränkungen ... verlangen humane Kompetenzen, Moral und intellektuelle Fähigkeiten, die die gegenwärtige Schule zu wenig vermittelt.“ (a.a.O.)

Das gleiche plastischer vom Vorsitzenden:

„In Schulbüchern wurden brutale Methoden des Frühkapitalismus auf unsere Zeit übertragen. Dabei werden nach Ansicht von Strauß die Arbeitnehmer am stärksten aber in kommunistischen Ländern ausgebeutet.“ („Süddeutsche Zeitung“)

Ebensowenig Anlaß zu Illusionen über Zweck und Inhalt von Schulbüchern gibt die heuchlerische Empörung über den „Maulkorberlaß für kritische Autoren“ („Abendzeitung“), mit dem der kritische Teil der Öffentlichkeit die staatlichen Verbote kommentiert. Das Geschrei über eine ganz und gar „unübliche Nachzensur“ („Stern“), die schönen Komplimente an die verbotenen Gedichte, daß sie doch eigentlich ganz „harmlos“ und daher ungefährlich seien, ebenso die unverblümten Tips dafür, wie eine „pädagogisch fundierte Begründung“ von Schulbuchsäuberung auszusehen hätte, laufen allesamt auf einen Vorwurf hinaus: Der Ignorant auf dem bayerischen Ministersessel versäume es, das staatstreue Rumgemosere kritischer Intellektueller für sein Anliegen, der Jugend ein gesundes Vertrauen in den Staat einzutrichtern, auszunützen, was – so der „Stern“ – „politische Klimavergiftung“ sei.


Lesebücher nördlich und südlich des Mains

Der Witz der Debatte liegt also gerade darin, worüber nicht gestritten wird: daß Schulbücher ein Mittel des Staates sind, das Urteilsvermögen der jungen Bürger auf dem Verordnungsweg unmittelbar für sich in die Pflicht zu nehmen. Für jedes Demokratenhirn ist es eine Selbstverständlichkeit, daß der Streit um Schulbücher von vorneherein politisch bestimmt ist und der Pluralismus auf dem Gebiet des Schulbuchs daher – anders als in der Wissenschaft – nichts als die getreue Widerspiegelung der Anstrengungen der Parteien darstellt, den Bürger auf ihre Weise auf Staatsnotwendigkeiten einzuschwören: „hessische“ und „bayerische“ Bücher. Zwar gibt es seit der Studentenbewegung, die das „jeder Wirklichkeit spottende Weltbild“ der Schule samt dem (ausgerechnet!) daraus resultierenden „Untertanenbewußtsein“ kritisierte, auch südlich des Mains nur noch selten den gottesfürchtigen Lesebuchbauern, der in beschaulicher Abendstimmung arm aber glücklich über die Äcker schreitet (und kein Bundespräsident fordert heute noch die Kinder auf, aus ihren Büchern Seiten rauszureißen). Aber nach wie vor erklärt ein bayerisches Lesebuch Kindern, die darüber aufgebracht sind, daß ihr Spielplatz zugemacht und ein Hochhaus draufgebaut wird, durch ihren Vater „lebensnah“:

„einer muß immer den Kürzeren ziehen; das ist nun einmal nicht anders im Leben. Nehmt's von der besten Seite“,

während an dieser Stelle an einem hessischen Lesebuch das genauso unverblümte Lob von „Konflikttoleranz“ und verantwortungsvollem Gebrauch von Bürgerinitiativen steht.


Verquast und fußnotenselig

Daß von dem Treiben des freien Geistes, wie es höchst abwechslungsreich in den Höhen der Wissenschaft gepflegt wird, in seiner Anwendung für die Menschwerdung des Jungvolks nur dieser eigentümliche Pluralismus – ein politisch gefärbter Moralkanon – übrigbleibt, zeigt, wie sich das komplizierte Geschäft an der Uni unmißverständlich zusammenfassen läßt. Und wenn auf der anderen Seite unser Helmut wie kürzlich auf dem Historikertag den versammelten Professoren eine „Zunftschelte“ (SZ) erteilt – sie „vernachlässigen ihre pädagogischen Aufgabenmüssen mehr für „populärwissenschaftliche historische Literatur“ sorgen, um „extremen ideologischen Beutemachern“ entgegenzutreten (selber in der Geschichte Beute machen!) –, dann will er nicht der pluralistischen freien Wissenschaft an den Kragen, sondern fordert von ihr, daß sie sich gefälligst für ihre staatsbürgerliche Quintessenz, wie sie für Schulbücher gebraucht wird, nicht zu fein sein soll. Prompt entdeckt die kulturbeflissene „Süddeutsche“ an der Geschichtswissenschaft

„die Verquastheit der Wissenschaftssprache (für offene Worte!) die Fußnotenseligkeit (was soll der Quatsch, »jeden Aussagesatz abzusichern«!), die ihre Schwäche zum selbstlosen Dienst an der Wissenschaft (!) stilisiert.“


Durch Denkfragen zu Einsichten

All dies kann man einem Schulbuch für Geschichte nicht vorwerfen, und „selbstlose Dienste“ vollbringen höchstens die Schüler, hier aber gezwungenermaßen, wenn ihnen angesichts der Finsternis des Mittelalters die „Denkfrage“ gestellt wird, ob sie in diesen früheren Zeiten gelebt haben möchten.

„Bedenkt, daß die Menschen damals nicht unzufriedener waren als wir. Sie kannten es nicht anders....“ (Menschen in ihrer Zeit, Klett-Verlag)

Unser Staat ist gut, weil es früher schlechter zuging, und wer heute daran herummäkelt, der kann das nur, weil er unseren guten Staat schon „kennt“ – so lautet hier das einfache Credo, dessen Verkündigung sich erst gar nicht damit aufhält, in vielerlei „wissenschaftlichen Ansätzen“ und „Erklärungsmodellen“ die Vergangenheit zur mangelhaften Vorform der Gegenwart zurechtzubiegen, um ihr mit ihrer „Gewordenheit“ zugleich ihre Notwendigkeit zu attestieren. Über Bismarck, den „größten Staatsmann aller Zeiten“, weil er „Deutschland die Einheit gegeben und eine Idee des 19. Jahrhunderts verwirklicht“ habe, erfährt man in der Schule daher vor allem, was von ihm als Lehre „bestehen bleibt“:

„Wenn auch Bismarcks Weg in mancher Hinsicht, vor allem in der Innenpolitik angreifbar ist“(da hat er nämlich ungeschickterweise Methoden der Außenpolitik angewandt!), „so bleibt doch bestehen, daß er ein Meister der Politik war, der schwer an seiner Verantwortung trug. Er wußte um die Unzulänglichkeit allen menschlichen Tuns.“ (Diesterweg 3)

„Aus dem festen Grund seines persönlichen und religiösen Lebens gewann er die Kraft, die Antinomien des politischen Berufs zu überwinden.“ (Klett, Grundriß der Geschichte II)

Der Mensch muß in seinem Streben bescheiden bleiben und darf den unter ihrer Verantwortung gebeugten Politikern keine Steine in den Weg legen (dann brauchen sie auch nach innen keine Außenpolitik treiben!). Während ein Geschichtsprofessor zu seiner „verquast wissenschaftlichen“ Agitation in der Zeitbetrachtung verbleibt, beharrt das Schulbuch mit seinen „Denkfragen“ und zu merkenden „Einsichten“ also gleich darauf, daß der Schüler am Material der Geschichte bewußt die Beziehung auf sich als Staatsmoralisten herzustellen hat.

Genauso umstandslos ergibt sich die Quintessenz aller soziologischen Abstraktionen – daß der Mensch eine Ordnung braucht – im Biologieunterricht aus dem „ Wunder des Bienenkorbs“ (wie da alles klappt!); wie nützlich alles eingerichtet ist, erfährt der Erstklässler am „Wunder der Zwiebel“. Und daß die Möglichkeiten des Wachstums und damit die Erfüllung eigener Ansprüche natürlich begrenzt sind, wird in den höheren Klassen als Problem des „ökologischen Gleichgewichts“ präsentiert (wobei der Unterschied zu den sonstigen Beispielen nur darin besteht, daß hier wie in Physik und Mathematik richtige naturwissenschaftliche Ergebnisse hergenommen werden, um über ihre Interpretation die Ideologie der Geisteswissenschaften zu verbraten).

Oder der Schulbuchautor erfindet zum selben Zweck fürs Deutschlesebuch die „Räubers“:

„Wenn es bei Räubers was zu essen gibt, setzen sich die Räuberkinder nicht etwa schön ordentlich an den gedeckten Tisch, nein, als erstes reißen sie das Tischtuch mit allem Geschirr herunter. Und wenn dann noch ein Teller heil ist, werfen sie ihn die Treppe hinunter ... Stell dir vor, der Räubervater würde dich als neues Kind klauen ...“ (Lesebuch 2, Oldenbourg Verlag)


Höhere Werte gegen verkürzten Pragmatismus

Höchstens ein spinnerter Junglehrer denkt in der Schule daran, etwa in der Art eines Germanistikprofessors Müller-Seidel die Welt zum „Nichts“ zu erklären, das geradezu danach schreit, über die „Sinnstiftung“ eines Dichters samt gehöriger Nachhilfe eines erhaben daher schwafelnden Interpreten einen „Ort jenseits“ seiner selbst zu erreichen (Gelächter im Klassenzimmer). Aber was ist diese Legitimation des Verfahrens, aus jedem Stück Literatur ein tragisches Lehrstück über höhere Menschlichkeits- und Versöhnungsideale zurechtzuzimmern für ein Umstand, verglichen mit der stereotypen Lehrerfrage: „Was wollte uns der Dichter sagen?“, die in erfrischender Weise klarstellt, daß die nachfolgende Moral von der Geschicht’ genau das ist, was uns der Dichter sagen will! Im Schulbuch werden erst gar nicht groß Literaturtheorien ausgebreitet, um aus der Dichtung blanke Moral zu machen. Hier steht der Zwang, angesichts eines Gedichts sich mit der rechten Einstellung vorzuführen, gleich in Gestalt angehängter „Denkfragen“ im Lesebuch, und wenn nicht, schlägt der Lehrer dazu in seinem Beiheft nach. So ist im Lesebuch für die dritte Klasse des Gymnasiums zur (in Bayern inzwischen gestrichenen) Biermann-Ballade –

„DIE BALLADE VON DEM BRIEFTRÄGER
WILLIAM L. MOORE AUS BALTIMORE,
der im Jahre 63 allein in die Südstaaten wanderte.
Er protestierte gegen die Verfolgung der Neger.
Er wurde erschossen nach einer Woche.
Drei Kugeln trafen ihn in die Stirn.
BLACK AND WHITE, UNITE! UNITE!
steht auf seinem Schild / White and black – die Schranken weg!
Und er starb ganz allein. / Und bleibt nicht allein.“ –

das folgende lehrreiche Problem angeschnitten, an dem jeder Vollblutgermanist garantiert nur die Besonderheit eines Professoralaspekts vermissen wird:

„Was geht es uns an, was einem Briefträger in Baltimore passiert? Diskutiert diese Frage.“ (Lesen, Darstellen, Begreifen).

Unmißverständlich wird signalisiert, daß der angesprochene Schüler sich jetzt weder über die Negerunterdrückung in den USA, noch darüber, wie hier ein Revi-Poet den Tod eines Bürgerrechtlers zynisch als solidaritätstiftenden Akt feiert, Gedanken machen soll: er selbst steht zur Diskussion. Er muß merken, daß als Gedichtinterpretation ein Bekenntnis zu den Idealen der Solidarität und Chancengleichheit verlangt ist (die Biermann als Gegensatz zu ihrem Hüter vorbringt, was der bayerische Kumi zwecks gesteigerter interpretatorischer Klarheit durch die besagte Streichung behoben hat). Keinesfalls darf der Schüler auf die Idee kommen, daß er andere Probleme hat, weil ihm die ungemütliche Praxis dieser Ideale mindestens aus der Selektion im Klassenzimmer bekannt ist. Die Antwort im Lehrerheft, an der er überprüft wird, lautet,

„daß die Verletzung von Toleranz und Humanität auch in der Ferne alle Menschen angeht, nicht zuerst (!) weil die Welt klein geworden ist, sondern weil (!) Humanität prinzipiell unteilbar ist (unite! unite!).“

„Zuerst“ darf der Hinweis auf die paar Flugstunden nach Amerika schon deshalb nicht kommen – also gar nicht –, weil hier nicht nach irgendwelchen Pseudoerklärungen gesucht werden, sondern ein zeitloser Wert vermittelt werden soll. Im Lehrerbeiheft steht deshalb der Hinweis, daß Antworten vom Typus „man weiß nie, wie das auch bei uns übergreift“ als „verkürzter Pragmatismus“ abzuschmettern sind. Das selbstlose Hochhalten der immergleichen staatlichen Werte – samt der Heuchelei, die es braucht, um beim Aufsatzschreiben demonstrativ vom eigenen Interesse Abstand zu nehmen und mit dem entsprechenden Seelenexhibitionismus so zu tun, als ob die Probleme der Welt darin bestünden, daß sie zu wenig auf eben diese Werte schaut – ist für den Schüler die praktische Bedingung fürs Vorwärtskommen, weil der Lehrer gegen „verkürzten Pragmatismus“ mit Fünfern argumentiert.


Ein Moralkanon fürs Leben

Das souveräne Emporschweben aus der Welt der Interessen in die höheren Sphären der „condition humaine“ mag der Germanistik ein inneres Anliegen sein, das moderne Lesebuch jedoch „knüpft an Schülerinteressen“ an – es verwendet seit der Studentenbewegung neben den „großen Gegenständen“ auch „lebensnahe Texte“ – und ist bemüht, die Kluft zwischen praktischer Schülereinstellung und gefordertem Wertidealismus zu verringern, und bemüht sich, die Humanitätsideale zu praktischen Verhaltensregeln zu „konkretisieren“. Oder der Lehrer ist umgekehrt dazu angehalten, gerade diese Kluft herzunehmen, um den widerspenstigen Unliteraten, die etwa an Schillers „Bürgschaft“ die „Unwahrscheinlichkeit“ der Geschichte monieren, offensiv auf Lehrerart rechtzugeben. Ausgerechnet die Tatsache, daß die Handlung jeglicher Erfahrung spottet, soll zeigen, wie sehr die Tugenden der Freundschaft und Treue alle äußeren Zwänge besiegen (gut für den Lehrer, daß es darauf Noten gibt!), wie (un)recht die Schüler also mit ihrem Alltagsverstand haben:

„Gerade solche Kritik kann zum Ausgangspunkt genommen werden, Schillers Ballade in ihrer Eigenart zu verstehen; Daß darin die physisch-konkreten Lebensbedingungen relativiert werden gegenüber dem Ideal, das Schiller in der Ballade vertritt.“ (Lehrer-Handreichung)

Der Schüler stellt sich notgedrungen darauf ein, erzählt nach der Schulaufgabe im Freundeskreis, daß er sich wieder einmal einen runtergeschwafelt habe und lernt dabei einzig, in der Form des Argumentierens praktisch anzuerkennen, daß seine Interessen am Höheren Schranken haben – oder, wie er es ausdrücken würde, wenn er schon ein Germanistikprofessor wäre: „daß schließlich jede Sache ihre zwei Seiten hat.“ Daß er im Deutschunterricht heucheln lernt, heißt eben nicht, daß dabei nichts für ihn rauskommt: daß Ideale dazu da sind, nicht um die Welt nach ihnen, sondern um sich auf die Welt einzurichten, wird ihm allemal klar, damit auch, daß es nur nützen kann, sie an der richtigen Stelle als inneres Anliegen aus der Tasche zu ziehen – man ist eben in der bürgerlichen Welt nicht den ganzen Tag Staatsidealist! Die Art und Weise, wie der Volksschüler im krönenden Abschlußjahr seines Deutschunterrichtes dasselbe lernt, nämlich vom Ölbaum –

„ … Denn nun muß ein Zweites von unserer Olive erwähnt werden. Sie ist nicht nur ein geduldig leidendes, sondern auch ein äußerst bescheidenes Wesen, das eigentlich so gut wie keiner Pflege und Wartung bedarf.“ (Sach(!)lesebuch für das 7.-9. Schuljahr)

– offenbart, was es mit den Sprüchen von wegen „Altersstufenadäquanz des Unterrichts“ auf sich hat: An seinem späteren Platz in der Gesellschaft kommt es eben schlicht darauf an, die Zähne zusammenzubeißen und die Tugenden der Toleranz und Bescheidenheit intus zu haben – während sich der Gymnasiast darauf hinarbeitet, diese Werte mit dem Schein der subjektiven Freiheit versehen propagieren zu können. In jedem Fall läuft die schulische Einstellungsmangel auf einen unmißverständlichen Moralkanon hinaus, der sich erst gar nicht groß in interessiert ausgedachte wissenschaftliche Theorien kleidet, und zu dessen Vermittlung daher auch ganz besondere Argumente gehören.


Schlagende Einsichten durch unumstößliche Tatsachen

Der fortschrittliche Deutschlehrer, der den Widerspruch der an der Literatur abgefragten moralischen Urteile zum Alltagsverstand dadurch zu tilgen sucht, daß er den Lesebuchartikeln analoge, dem Erfahrungsbereich der Schüler angenäherte Rollenspiele in Szene setzen läßt, verschafft sich damit ein starkes Argument gegen den besserwisserischen Rationalismus seiner Zöglinge: „Unwahrscheinlich“ kann eine Handlung dann schon deshalb nicht mehr sein, weil sie sich positiv vor ihren Augen und mit ihnen selbst abspielt, womit also das selbstgeschaffene Faktum zum schlagenden Mittel der moralischen Überzeugungsarbeit wird. Besonders beliebt hier das in praktischer Durchführung nicht ganz ungefährliche Rollenexperiment, sich einmal den Straßenverkehr ohne Verkehrsschilder und Ampeln vorzustellen. Woraus noch jeder zu der Einsicht gelangen muß, daß es ohne Vorschriften ebensowenig geht, wie der Schutzmann sein muß, der für ihre Einhaltung sorgt. Dasselbe Mittel zum organisierten Abgewöhnen des Denkens wendet der Geschichtslehrer an, wenn er ebenfalls die Zustimmung zur Staatsgewalt, die halt manchmal zum Zuschlagen „gezwungen“ ist, dadurch zur unumstößlichen Tatsache macht, daß er sie als positive Beschreibung etwa des schlesischen Weberaufstands vorbringt –

„Der Staat war hilflos gegenüber der Not dieser Menschen: Eine verzweifelte Hungerrevolte der schlesischen Weber wurde 1844 durch preußisches Militär niedergeworfen.“ (Klett Bd. 5)

oder den Imperialismus des 19. Jh. „Einsichten und Begriffe“ verbreiten läßt:

„Nackte Gewalt und Ausbeutung sind primitive (!), aber häufig angewandte Mittel.
Einzelnen Staaten gelang es, durch politische Fähigkeiten oder kulturelle Stärke fremde Völker, deren Gebiete an das eigene Territorium grenzten, so bruchlos einzugliedern, daß die anfangs meist angewendete Zwangsgewalt vergessen wurde und sich (!) in ein gemeinsames Staatsbewußtsein entwickelte.“

Das ist Mut zur Erziehung!

Sieht sich die Staatsgewalt also zum Zuschlagen gezwungen, so ist dies immer ein sehr wundertätiger Zwang, der sie dazu bringt, fügt sich doch letztlich alles zum Guten – woraus die rückhaltlose Einsicht zu folgen hat, daß der Staat es immer recht macht. Dies gilt gerade in den heutigen Zeiten, wo dieser Zwang wieder so mächtig spürbar ist, bei manchem Staatsbürger aber womöglich noch nicht die geforderte Einsicht antrifft – was unser Kanzler als durch den Geschichtsunterricht auszuräumendes Problem hinausthest:

„Siebte und vorletzte These. Die Deutschen neigen zur provinziellen Egozentrizität. Wir haben Glück gehabt, uns sind die Kolonien spätestens 1915 abgenommen worden (weswegen wir heute so blendende Geschäfte zum gegenseitigen Vorteil mit ihnen machen können), aber das hat eben auch dazu geführt (= Pech), daß der Blick nicht sehr weit über die deutschen Landesgrenzen hinausgeht. Die Deutschen müssen sich der Abhängigkeit der eigenen Handlungsmöglichkeiten, der eigenen Handlungsfreiheiten stärker bewußt werden, als sie es gegenwärtig sind.“

Woraus nicht folgt, man sollte doch jetzt mal die Kolonien ins Auge fassen; nicht nur sind sie wenig lohnend, sondern die noch bestehenden Abhängigkeiten erlauben da auch noch nicht genügend Handlungsfreiheiten ...


Immunisierung gegen Demokratiefeinde

Die Einsicht in die geschichtliche Gewordenheit und damit Unantastbarkeit unseres Staatswesens erfordert natürlich auch die aktive Parteinahme gegen die Feinde eben jenes Staates, die sich dadurch schon entlarven, daß sie die Wucht der vielen verflossenen Jahre einfach an sich abprallen lassen und „ein ganzes System innerhalb einer Zeitspanne von wenigen Jahren verändern“ wollen (Sozialkunde-Buch, Hofer/Schade, Spannungsfeld der Politik, S. 185). Dies jedoch ein sehr hochgeistiges „Argument“, wenn doch klar ist, daß sich hier nur eindeutige Verdammung gehört. Während ein Sontheimer den Übergang zu den eigentlichen Feinden des Staates noch mit einer trickreichen wissenschaftlichen Veranstaltung herstellt, die Terroristen nur als Aufhänger benutzt, um zum Marxismus als dem wirklichen Feind zu kommen, und zwar indem er ein sehr wirkungsvolles „nicht ohne“, benutzt, um zu verknüpfen, was er verknüpfen will:

„Ich habe die Überzeugung gewonnen, daß der politische Terrorismus, den wir seit der Studentenrevolte in Deutschland kennengelernt haben, ohne die radikale Politisierung der Studentenbewegung, ohne den von linken Theorien ausstaffierten geistigen Hintergrund der Akteure, ohne das durch ein neues kritisches Bewußtsein bis zum Überdruß geschürte Unbehagen an unseren politischen Verhältnissen nicht ausreichend erklärt werden kann.“ (SZ, 27.11.77)

– da sagt das Sozialkundebuch klipp und klar, denn „kein Zweifel besteht“, daß es so ist, basta:

„Kein Zweifel besteht, daß die Terroristen Ableger jener kleinen, aber äußerst radikalen Gruppierung des Linksextremismus sind. Die Nahtstelle zwischen diesen und den Anarchisten ist äußerst dünn.“ (Hofer/ Schade: Spannungsfeld der Politik, S. 184-87)

Noch das Selbstverständlichste macht sich aber besser, wenn man es ein weiteres Mal „begründet“. Diese Begründung kann freilich nur noch als reine Versinnlichung ablaufen: was man im Rollenspiel handelnd erlernt hat, wiederholt sich nun im Anstieren von Fakten, seien sie auch noch so erlogen. Die Abkömmlinge des weltumspannenden Feindes sind „frustrierte Bürgersöhnchen“, was man ihren „verkniffenen Gesichtern“, ja dem „manchmal fanatischen Ausdruck“ unschwer entnimmt.

Und beim wirklichen Feind ist die Faktenfülle ja schon erdrückend, so daß das fällige politische Urteil einfach nicht ausbleiben kann:

– schau, wie gut es um jetzt geht

– schau, wie schlecht es denen drüben geht

– schau, was für miese Charaktertypen die Begründer dieses Weltübels waren, so mies, daß ihr Körper nicht umhin konnte, es leibhaftig darzustellen:

Marx: „eine dichte schwarze Mähne auf dem Kopf, die Hände mit Haaren bedeckt“ (Klett, 52)

Lenin: „In seinem Gesicht von mongolischem Schnitt ... scharfen Augen eines Jägers ... brannten bald blinzelnd, ... bald ironisch lächelnd, bald zornig glitzernd ... der Glanz ... unheimlich klar.“ (Diesterweg, 65)


Moralische Indoktrination mit oder ohne Wissenselemente?

Anhand dieser Marxismus-Widerlegung ist sehr leicht ersichtlich, daß es bei dem nun wieder entbrannten Streit um die Schulbücher sich nicht um einen Streit über die Wissenschaftlichkeit der Bücher handelt, sondern darum, wie die immergleiche Moral am wirkungsvollsten an den Jungmann zu bringen ist, wobei die Wissenschaft nur soweit interessiert, in welcher Form die von ihr schon längst fabrizierten falschen Urteile über die Welt eingehen sollen. Soll man, wie am Beispiel der Nationalökonomie anschaulich studierbar, die sachverständigen Wenn-Dann-Ketten, die letztlich auf die Weisheiten des Alltagsverstandes sich flüchten, dem Schüler nahebringen, damit er innerlich gefestigt den Marxismus für sich widerlegt hat – oder soll man ihm schlicht und einfach vorschreiben, die vorgefundenen Werte der besten aller schlechten Gesellschaftsformen zu begrüssen und zu verteidigen, was jenseits aller Gedankenblässe ja auch eine schöne Festigung abgeben mag? So machen sie denn weiter und puzzeln ihre Wissenselemente hin und her, ständig fragend, ob es nicht mal mehr davon sein könnte, ob es nicht jetzt zuviel davon ist. Die Schüler schlucken es so oder so.

 

aus: MSZ 25 – Oktober 1978

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