Nachträge zum Artikel „Die Krise“

 

1. Götter, Gräber und Gelehrte


Daß Gott die Welt erschaffen hat, weiß ein jeder. Daß Adenauer Europa geschaffen hat, konnte man in den Gedenksendungen zu seinem 100. Geburtstag erfahren. Und daß bei diesem Geschöpf nicht der Kontinent gemeint sein kann, ergibt sich schon daraus, daß dieser Kontinent längst vor dem Wirken Adenauers Gegenstand des Geographieunterrichts war. Bloß: was hat er denn nun geschaffen? Deutsche sind keine Italiener und die französischen Bauern schütten den Spaghettis ihren Wein aus, das Inselvolk der Briten will sich — zumal sich mit dem Erdöl etwas tut — von den Europäern nicht schlucken lassen, — und Radio Luxemburg ist auf Grund seiner Reichweite die einzige europäische Institution, die ihren Zweck erfüllt: es bezieht seine Werbeaufträge aus allen europäischen Ländern, außer Luxemburg, versteht sich. Was hat Adenauer geschaffen? Nichts, aber er hat eine Idee gehabt, und auf nichts ist es ihm so sehr angekommen wie auf die Aussöhnung der Deutschen mit den Franzmännern. Von der Wiedergutmachung mit Israel einmal abgesehen. Als listiger Prediger des Ideals der Konkurrenz zwischen den Nationalstaaten, ihrer Einigung, verdient er allerdings eine kleine Beförderung: er wird Gott (Schon wegen seines konsequenten Antifaschismus, der ihn auch in schwerer Zeit sich so verhalten ließ, daß er sich für das Amt des Bundeskanzlers bereithalten konnte).

Leider lebt er nicht mehr, und immer dann, wenn einer schon im Grab liegt, und gelobt, wird, liegt der Grund für dieses Lob nicht im Grab, sondern in dem, was die Lebenden gerade so bewegt. Und die Lebenden bewegt nicht nur, sondern erschüttert geradezu eine Krise. Deswegen haben sie auch eine KSZE gemacht, in Helsinki, wo sie sich wechselseitig versichert haben, daß zur Zeit die friedliche Nutzung des jeweils anderen mehr bietet als die nicht-friedliche, und die Russen haben dem Helmut Schmidt mitgeteilt, daß sie im Kaukasus ein Manöver abhalten. Der tote Konrad wird also deswegen zum Gott, weil er, solange er noch lebendig war, dieselben Anliegen einer Nation gegenüber ihren Konkurrenten vertrat wie unsere Staatsmänner heute und dabei die Widerspenstigkeit seiner Gegner mit denselben Idealen für nichtig erklärte, die heute zählen. Man kann also das moralische Geschwafel von Helmut Schmid und Willy Brandt über Völkerverständigung, das den Nutzen der Bundesrepublik auf Kosten anderer Nationen mit dem Hinweis auf Höheres propagiert, als Alternative zu Adenauer, aber auch als sein eigentliches Erbe feiern. Fällt einem die Konkurrenztüchtigkeit des CDU-Staates ein, dann ist der Willy eine Friedenstaube. Bemerkt man, daß die Konkurrenztüchtigkeit heute andere Wege gehen muß, um den Nutzen der Nation zu sichern, erinnert man sich gern der Ideale, die Konrad auch schon kannte – so daß nicht einmal mehr Ex-Meckerer Augstein am großen Conni etwas auszusetzen hat.

Nun wird sich jeder fragen, wo denn die Gelehrten bleiben. Die Antwort ist leicht: sie bleiben eben nicht an der Uni, wo sie hingehören, sondern beteiligen sich agitatorisch an der Bewältigung der Krise, die unter anderem zur Feier eben jenes Gottes Konrad Anlaß gibt. Ein gewisser Sontheimer, Politikwissenschaftler, empfindet das Geschäft des wissenschaftlichen Erklärens von Politik als recht öde. Es drängt ihn zur Tat, weshalb er von der Süddeutschen Zeitung einen Tausender kassiert für einen Beitrag unter der Überschrift „Der Einbruch der Theorie ins politische Denken“. Und daß er bei Einbruch nicht das meint, was passiert, wenn Menschen aufs Eis gehen und selbiges noch zu dünn ist, sondern jenen strafrechtlichen Tatbestand, etwas Verbotenes, erhellt schon der Titel seines gar nicht witzigen Feuilletonbeitrags. Wenn die Theorie das Denken stört, in es einbricht, dann ist das Anliegen dieses Denkens ein anderes als das aller Theorie, nämlich etwas zu erklären. Besagter Artikel steht auch nicht an, die Gefahr der Theorie zu kennzeichnen: eine Erklärung der Politik kann den Willen hervorrufen, etwas zu verändern. Und weil „politisches Denken“ sich dazu nicht hergeben will, identifiziert der Feuilletonpolitologe Theorie mit Utopie, bezweifelt kurzerhand, ob Veränderungen auch gehen, um schließlich auf Marxisten zu schimpfen, die solche Zweifel nicht teilen.

Derselbe Gelehrte, der es in einer Fernsehansprache zum Reformationstag fertig gebracht hatte, die Kurve vom Protestantismus zur Reformpolitik zu kratzen und in einer anderen Fernsehansprache Sorgen um den politischen Stil äußert, weil er Angst hat, die Fehden zwischen den politischen Lagern könnten das Vertrauen der Bürger in ihren Staat erschüttern, läßt sich an einem anderen Wochenende weitere 2000 DM von der Süddeutschen Zeitung überweisen für einen Artikel mit dem Titel „Allenthalben das Gerede von der Krise“. Darin beschimpft er Leute, die sich um eine Erklärung der Krise bemühen, allerdings nicht mit Argumenten, die deren durchaus vorhandene Fehler aufzeigen, sondern mit der Behauptung, die eigentliche Krise liege im Gerede über sie. Vor diesem Gerede warnt er und appelliert an seine Leser, sie möchten doch über der Krise nicht die Gefahren aus den Augen verlieren, die der Ordnung drohen, welche Krisen verursacht und von ihren Opfern Tapferkeit verlangt.
Der Zusammenhang zwischen Göttern, Gräbern und Gelehrten ist, wie man sieht, kein archäologischer. Die praktischen Schwierigkeiten der Krise lassen bürgerliche Staatsmänner und ihre Propagandisten in den Medien Zuflucht nehmen bei ihren Idealen, verhelfen ihnen zur Entdeckung, daß diese Ideale auch die von Männern waren, die in den Tagen, in denen es uns besser ging, das Sorgen hatten. Und wenn es um die Überredung der von der Krise Betroffenen geht, begeben sich nicht nur Politiker in die Betriebe oder in die Uni (wie neulich Biedenkopf) sondern auch Wissenschaftler in die Gefilde der politischen Agitation. Es gibt also professionelle Parteigänger des Staates, die dessen gar nicht soziales Wirken gerade in der Krise für notwendig halten und eigens dafür die Lücken zwischen den Sportsendungen im Fernsehen bei guter Bezahlung schamlos ausnutzen.

 

2. Wissenschaftstheoretische Umweltverschmutzung

Der gängige Vorwurf linker Wissenschaftler, die bürgerliche Wissenschaft sei praxisfern, wird selbst noch durch jene Exemplare bourgeoisen Denkens widerlegt, die mit den alltäglichen Problemen der Massen nichts zu schaffen haben. Kein geringerer als Münchens Oberwissenschaftstheoretiker Stegmüller macht sich in der Einleitung seines neuesten wissenschaftsfeindlichen Werkes Gedanken darüber, was er als Philosoph

„heute bei der Bewältigung der Aufgabe, eine Chance für das Überleben der Menschheit auf diesem Planeten zu bewahren,“

tun kann. Getreu diesem weltergreifenden Katastrophengedanken findet er für die Störung des „Systems der Wechselwirkung und Rückkoppelung“ zwischen Mensch und Natur einen viel einleuchtenderen Grund als die gängigen Entschuldigungen des Kapitalismus (z, B. durch das Gejammer über Umweltverschmutzung). Er sieht den Grund alles weltlichen Übels in der

„semantischen Verschmutzung der geistigen Umwelt des Menschen, des einzigen redenden und systematisch Symbole benutzenden Wesens.“

Beredt weiß er die Gefahren zu beschwören, die in der

„semantischen Atmosphäre, bestehend aus einem Meer von Wörtern, Überzeugungen und Ideologien“

lauern. Natürlich stört ihn nicht die Tatsache, daß der Mensch redet, sondern daß er im Sprechen seinen Willen kundtut. Und da sieht es schlecht aus:

„In der semantischen Umgebung mit der ideellen Nahrung als 'Eingabe’ (input) und verbalen Äußerungen als 'Ausgaben’ (output) haben vor allem auch die an die Einzelmenschen gerichteten, einander widersprechenden Imperative oder Ansinnen ihren Ursprung.“

Und weils ihm um die Ausräumung gefährlicher Imperative oder Ansinnen zu tun ist, verwandelt er selbst so handfeste Dinge wie Staaten und Nationen in Ergebnisse der Tatsache, daß die Menschen schon immer gern geredet haben. Dieser soziologische Exkurs a la München hört sich so an:

„Die außerordentliche Komplikation dieser Problematik entsteht dadurch, daß die semantische Verschmutzung schon längst zu einem bestimmenden Faktor der Vorgänge in menschlichen Sozietäten geworden ist. Denn Staaten und Nationen sind keine natürlichen Kollektive, wie tierische Herden und Schwärme, sondern selbst der Effekt endlos langen Symbolgebrauchs. Und das, was sie wirklich sind, ist wesentlich dadurch bestimmt, wie darüber gedacht wird, was sie sind.“

Solch offenkundiger Blödsinn dient zu nichts anderem, als den Leuten einzureden, sie kämen mit dem Staat zurecht, wenn sie nur eine andere Einstellung zu ihm hätten. Diese Lüge gesteht er selbst ein, wenn er gleich im nächsten Satz verlangt, sich mit der durchaus realen und gar nicht lustigen Macht des Staates abzufinden:

„Macht hat nun nicht nur die längst beobachtete Tendenz zu korrumpieren, sondern die nicht weniger verhängnisvolle Neigung, sich nur durch Konflikte zu bewahren und zu vergrößern.“

Nach diesem Ausflug in die Welt des Faktischen schaltet sich erneut die verschmutzte semantische Atmosphäre des wissenschaftstheoretischen Kopfes ein und entlädt sich in einem gewitterschwülen Geistesblitz:

„So schaltet sich die verschmutzte semantische Atmosphäre mit ihren unsichtbaren Polypenarmen nicht nur in die bestehenden Regelkreise ein, sondern entwickelt und entfaltet selbst ein unendlich verzahntes kybernetisches System zur eigenen Erhaltung und Entwicklung.“

Immer dann, wenn Philosophen dokumentiert haben, daß es ihnen um das Ausräumen praktischer Probleme nicht geht, steht die Diskussion des Theorie-Praxis-Problems an. Auch Stegmüller macht darin keine Ausnahme, auch wenn es hier nur um die Säuberung dreckigen Denkens geht:

„Damit erhält das uralte Problem, richtige Erkenntnisse in Handlungen Umzusetzen, gegenüber der semantischen Verschmutzung ein Riesengewicht.“

Die Lösung diese Problems gestaltet sich recht einfach: Erstens wirft er Berufskollegen, wie z. B. den Friedensforschern vor, daß sie zuwenig praktisch sind und nichts bewirken.
Zweitens macht er klar, daß es ums Bewirken gar nicht geht. Da Verschmutzung nicht gleich Verschmutzung ist, warnt er davor,

„sich durch Analogieschlüsse zum 'natürlichen’ Fall verleiten zu lassen und zu meinen, man könne dieser Schwierigkeiten ähnlich Herr werden, wie man mit den Problemen der Luft und Wasserverschmutzung fertig werden kann.“

Dagegen sprechen nämlich

„Gehirnwäsche und Maßnahmen zur ‘Reinhaltung der Weltanschauung’, wie sie von totalitären Staaten her bekannt sind.“

und nicht zuletzt,

„daß wir über die zu verfolgenden Ziele selbst weitgehend im Unklaren sind“,

was zuguterletzt auf das Bekenntnis des Wissenschaftstheoretikers zum Nichtwissen hinausläuft;

„daß wir hier, wie auch überall sonst, nicht auf festes Wissen sondern auf bloß hypothetisches Raten angewiesen bleiben“,

weil alles so kompliziert ist,

„daß wir die Konsequenzen dessen, was geschehen könnte, nur vage und unvollständig zu überblicken vermögen.“

Mit dem Beweis, daß es praktisch nichts zu tun gibt, kann die wissenschaftstheoretische Umweltverschmutzung zum Abschluß gebracht werden:

„Was kann der Philosoph in einer solchen Situation überhaupt tun?“

Die Antwort auf die Frage ist die Wiederholung dessen, was er getan hat. Er hat die Probleme der Menschheit zum Anlaß genommen, um die Rechtmäßigkeit seines Irrationalismus zu legitimieren. Sein Rückzug von den irdischen Problemen wird dabei von Stegmüller nur deshalb vorgeführt, weil er es auf einen irdischen Zweck abgesehen hat; den Leuten einzutrichtern, daß sie Einigkeit darin beweisen müssen, sich keine Besserung ihrer Lage zu versprechen:

„Kritik würde hier, sofern sie nicht umfassend ist, nur die weitere Gefahr heraufbeschwören, in einem buchstäblichen Sinn einseitig zu sein, da die Eindämmung der semantischen Verschmutzung auf einem Gebiet eben dieser semantischen Verschmutzung auf einem anderen neuen Auftrieb gibt. Statt durch Kritik und Polemik tritt man als Philosoph dieser Gefahr vielleicht besser durch den Versuch entgegen, dazu beizutragen, daß sich in den Mitmenschen ein kosmisches Bewußtsein entwickelt, verbunden mit einer Fähigkeit, sich bei der Bewältigung der irdischen Aufgaben statt von traditionsgegebenen Imperaten und Heilsversprechen von wissenschaftlichen Einsichten und pragmatischen Überlegungen leiten zu lassen.“

(Alle Zitate aus: Wolfgang Stegmüller: Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie II, Stuttgart 1975; Unterstreichungen vom Autor)

 

Daß dieser Entdecker der „semantischen Verschmutzung“ nicht von ungefähr gerade an Münchens Universität über einen angesehenen und mit vierzehn Assistenten hochdotierten Lehrstuhl im Fachbereich „Wissenschaftstheorie und Statistik“ verfügt, werden wir in der nächsten Ausgabe der MSZ im „Portal einer konservativen Universität – Bürgerliche Wissenschaft in München“ zeigen.

aus: MSZ 9 – Januar 1976

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