Marcuses Deutschlandtournee:


Ein Schwanzreiber der Bourgeoise

Nach dem Ableben der Studentenbewegung präsentiert sich Herbert Marcuse, einer ihrer philosophischen Väter, erstmals wieder dem deutschen Publikum. Gastgeber war in München ein bekannter Agitator gegen »linken Aktionismus«, Jürgen Habermas, der den „lieben Herbert“ gern vor Mißverständnissen seiner Theorie als Legitimation von Gewalt in Schutz nimmt. In Düsseldorf wurde der „Mentor der Neuen Linken“ gar von einem „»Bildungsforum« kirchlichen und christlich-demokratischen Hintergrundes“(SZ) eingeladen. Der Entdecker der „repressiven Toleranz“ sprach vor 2500 Studenten an der Münchner Uni, wo Kommunisten Raumverbot haben, und verwahrte sich unter großem Beifall gegen Leute, die in seiner Anwesenheit einen Beleg dafür sehen, daß „die Repression“ doch nicht so stark sei. In Düsseldorf, wo er unter Polizeischutz mit CDU-General Biedenkopf und dem Psychoanalytiker Mitscherlich diskutierte, war der „Publikumsmagnet“ noch wirksamer. „Neben jener Minderheit, die den großen alten Mann der Studentenbewegung nach sechs oder acht Jahren wieder erleben wollte, war viel Publikum aus den besseren Kreisen gekommen, um »den Kommunisten« endlich einmal leibhaftig zu sehen.“(FR) Wie sich die Publikumswirksamkeit dieses Mannes erklärt und warum es nicht verwunderlich ist, daß die Staatsgewalt ihn nicht nur nicht behelligt, sondern auch noch schützt, ist Gegenstand des folgenden Artikels.

Alle Zitate, soweit nicht anders vermerkt, aus:

Herbert Marcuse, Konterrevolution und Revolte, Frankfurt/Main 1973 (I)
Herbert Marcuse, Aggressivität in der gegenwärtigen Industriegesellschaft, in: Marcuse u.a., Aggression und Anpassung in der Industriegesellschaft,  Frankfurt/Main 1968, S.7-29 (II)
Herbert Marcuse, Repressive Toleranz, in: Robert Paul Wolff u.a., Kritik der reinen Toleranz, Frankfurt/Main 1965, S.91–128 (III)

Agitation gegen die Revolution

Marcuse gilt nicht umsonst als „Mentor der Neuen Linken“. Daß in den westlichen Industrienationen noch keine Revolution stattgefunden hat, ist ihm willkommener Anlaß „Zur Frage der Revolution in entwickelten kapitalistischen Ländern“ – dies der Titel seines Münchener Vortrags. Angesichts des Versagens der alten Linken macht Marcuse aus der Revolution die Frage nach der Möglichkeit der Revolution. Daß die Revolution „in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern nicht auf der Tagesordnung steht und nicht stehen kann“ (1,55), lautet sein Credo. Deshalb warnt er nachdrücklich vor der „Ritualisierung des Begriffs Revolution“, d.h. es ist altmodisch, heute noch eine Revolution machen zu wollen. (Daher der Name der „Neuen Linken“.) Das Beispiel, mit dem Marcuse diese seine These untermauerte, ist des ehemaligen CIA-Mitarbeiters würdig:

„Stellen Sie sich vor, die amerikanische Arbeiterklasse marschiert auf Washington.(Pause) Selbst wenn dieser Fall einträte, dann würde der Marsch auf Washington vom Pentagon frühzeitig gestoppt. (Pause)“

In den Pausen konnte der Agitator gegen die Revolution feststellen, daß der sein Beispiel kennzeichnende Realismus für sein Publikum selbstverständlich ist. Weil keine „revolutionäre Situation“ besteht, muß man sich mit diesem Zustand abfinden, und selbst wenn es eine gäbe, würde das auch nichts nützen, weil der Staat so ungeheuer mächtig ist. Den blödsinnigen Angriff der Revisionisten auf den Kapitalismus, er könne nicht funktionieren, auf den sie ihre Politik gründen, wendet Marcuse in den Zweifel an Politik überhaupt mit dem gegenteiligen Argument:

„Marx sagt, der Kapitalismus enthalte in sich selbst als zwingende Notwendigkeit den Übergang zum Sozialismus. Aber der Kapitalismus kommt auch heute noch ganz gut über die Runden.“(SZ)

Sein Antirevisionismus ist die Propaganda des Realismus, auf den die Bürger sich so viel zugute halten. Nach dieser Agitation gegen die Revolution verwundert es nicht, daß Marcuse betont, seine Revolution werde sich in

„Basis, Strategie und Ziel ... von allen bisherigen Revolutionen, besonders von der russischen, fundamental unterscheiden.“ (1,15)

(Rudi Dutschke, der nichts Besseres zu tun hat, als Lenin auf den Kopf zu stellen, läßt sich inzwischen schon von Klaus Mehnert im Fernsehen bescheinigen, daß er sich wohltuend von einem Revolutionär unterscheidet.)


Segen und Fluch der Konsumgesellschaft

Wer sich gegen die Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse ausspricht, die Dezentralisierung der Revolution fordert (Marcuses Kritik an der russischen: sie war zentralistisch !?), der will nicht die Welt verändern, sondern die Menschen ummodeln, ihre Einstellung zur Welt revolutionieren (in entsprechendem Jargon: mit dem Es gegen das Über-Ich zur Befreiung des Ich oder so ...). Bei der Propaganda für eine „neue Haltung dem Leben gegenüber“ (FR) erklärt Marcuse den Kapitalismus zu einer „Gesellschaft im Überfluß“. Ein typisches Merkmal dieser „Konsumgesellschaft“ ist

„ein steigender Lebensstandard, an dem auch die bisher unterprivilegierten Schichten teilhaben.“ (II, 7)

So sind die Bürger durch die

„beispiellose Leistungsfähigkeit des Kapitalismus des 20. Jahrhunderts“ (1,15)

aller materiellen Sorgen ledig.

„Das Elend unbefriedigter Lebensbedürfnisse ist für die Mehrheit der Bevölkerung abgeschafft.“ (1,27)

Die „Konsumgesellschaft“ ist aber nicht nur ein Segen, sondern auch ein Fluch. Sie schafft durch die „Kontrolle und Manipulation des Verhaltens von Individuen und Gruppen bei Arbeit und Freizeit“ (11,7) „das bereicherungssüchtige Individuum“ (1,24). Die Konsumgesellschaft“ ist also deshalb ein Fluch, weil die Individuen nicht die richtige Einstellung zu ihr haben. Die „ungeheure Warensammlung“ ist ihnen zu Kopf gestiegen. Sie haben es verlernt, zwischen Lebens- und Luxusbedürfnissen zu unterscheiden, was sich an amerikanischen Straßenkreuzern hervorragend demonstrieren läßt:

„die technische Qualität wird überlagert von den Qualitäten, die der Verkaufspolitik dienen (hohe PS-Zahl, minderwertiger Komfort, mickriges, aber gutes Material etc.).“ (I,23)

(Der Siegeszug des VW in den USA muß so als Erfolg marcusianischer Agitation gewertet werden: niedrige PS-Zahl, hochwertiger Komfort, mickriges, aber gutes Material etc.)

Die Lüge von der „Gesellschaft im Überfluß“, wonach

„eine hochentwickelte industrielle und technische Kapazität ... zum großen Teil für die Produktion von Luxusgütern“ (II,7)

verwandt wird, ist also nur der Auftakt zu Marcuses Angriff auf die Bedürfnisse der „bürgerlichen Individuen“. Der fällige Glückwunsch an die Arbeitslosen zu ihrem Verzicht läßt jedoch nicht von ungefähr auf sich warten. Und auch für die sinnige Frage: „Kann man sich nicht ohne diese stupide, erschöpfende, endlose Arbeit ernähren  ..., aber mit mehr Zeit und mehr Freiheit?“ (1,32) werden sie wenig Verständnis haben. Den „Verlust menschlicher Würde bei vorfabrizierter Wahlfreiheit“ (1,22) zu beklagen, ist das Privileg von Leuten, die – der unmittelbaren Existenzsorgen enthoben – auf Luxus verzichten können, weil sie ihn haben.


Zurück zur Natur

Weil Marcuse „Konsumverzicht“, diese „radikale Transformation der Bedürfnisse und Bestrebungen auf materieller Ebene“ (1,23) inmitten der „Konsumgesellschaft“ predigt, bietet er wie jeder Reaktionär die selbstgenügsame Beschränkung des Menschen auf ein Leben in der entzivilisierten Natur. Der Gründervater zahlloser Körnchen-beißender Hippie-Kommunen stimmt also das Loblied an auf die Natur

„als Raum der Freiheit von der gesellschaftlichen Funktion, als Raum des gewünschten Alleinseins.“ (11,28)

und bejammert die

„Vergewaltigung und Beseitigung der Natur durch die Scheußlichkeiten der kommerziellen Expansion und der ihr hörigen Massen.“(II,28)

So wird der reaktionäre Kulturkritiker zum Feind der Technik. Marcuse zeigt, was er bei seinem Lehrer Heidegger gelernt hat, wenn er gegen die Beherrschung der Natur durch den Menschen Partei ergreift, indem er sie als „verlängerten Arm der Gesellschaft“ (1,73) verdammt.

„Natur ... als Material, Rohmaterial ... Entspricht dieses Bild der Natur dem einer freien Gesellschaft ? Ist Natur nur eine Produktivkraft (als wäre sie ohne den Menschen je eine gewesen) – oder besteht sie auch ,,um ihrer selbst willen“ und in dieser Daseinsweise – für den Menschen?“ (1,75)

Weil Marcuse statt gegen die kapitalistische Anwendung der Technik gegen die Technik selbst zu Felde zieht – und dies sogar im Fernsehen! – ergibt sich als Ziel seiner „Kulturrevolution“ die Wiederherstellung der „unberührten Natur“, sprich Verzicht auf Industrie, Düsenjäger und Motorräder:

„Der Kampf ist dann gewonnen, wenn die obszöne Symbiose der Gegensätze beseitigt ist – die Symbiose zwischen dem Spiel des Meeres und den Todesindustrien an seinen Küsten; zwischen dem Flug der Vögel und dem der Air-Force-Düsenjäger; zwischen der Stille der Nacht und dem Geknatter der Motorräder. Erst dann werden die Menschen frei sein, den Konflikt zwischen den Fifth Avenues und den Gettos, zwischen Zeugung und Völkermord zu lösen.“ (I,150)

Dieser Wahnsinns-Logik zufolge gibt es einen „Konflikt zwischen Zeugung und Völkermord“, weil die dem Konsum „hörigen Massen“ den Natur-Aposteln die Flucht vor der Gesellschaft in die Natur versperren. Der Philosoph Marcuse, der sich in Santa Barbara gern an der „suggestiven Weite des ruhenden Ozeans“ erfreut, ist also ein Parteigänger der Natur gegen die zivilisatorischen Errungenschaften des Kapitalismus, weshalb ihm auch die Kultur lästig ist:

„ ... diese »innere Wahrheit«, diese sublime Schönheit der ästhetischen Bilderwelt erscheint heute als geistig und physisch(!) nicht mehr zulässig, als falsch, als Teil der Warenkultur, als ein Hindernis der Befreiung.“ (1,105)


Das ewig Weibliche

Für sein Modell des neuen Menschen findet der lüsterne Greis aus Southern California auch ein Modell: die Frau, seit jeher rundum „rezeptiv“, „passiv“, voll von „erotischer Energie“, also mit den „Vorbedingungen der Freiheit“ und des „Schöpferischen“ ausgestattet. In den Stigmata weiblicher Unterwerfung unter die gesellschaftliche Funktion der Frau entdeckt Marcuse „das Versprechen des Friedens und des Endes der Gewalt“ (1,93). Neuerdings korrespondiert der Männerfeind mit feministischen Gruppen und läßt Sprüche folgender Art los:

„Das Vermögen, »rezeptiv«, »passiv« zu sein, ist eine Vorbedingung von Freiheit: es bezeichnet die Fähigkeit, die Dinge in ihrem eigenen Recht zu sehen, die ihnen einbeschriebene Freude zu erfahren, die erotische Energie der Natur – eine Energie, die befreit werden will: auch die Natur wartet auf die Revolution. Diese Rezeptivität ist selbst der Boden des Schöpferischen – sie bildet den Gegensatz nicht zur Produktivität, sondern zur zerstörerischen Produktivität. Letztere ist das immer deutlicher hervorgetretene Charakteristikum männlicher Vorherrschaft; weil das „männliche Prinzip“ die herrschende geistige und körperliche Kraft gewesen ist, wäre eine freie Gesellschaft die »bestimmte Negation« dieses Prinzips – sie wäre eine weibliche Gesellschaft.“ (I,90)

So schafft es Marcuse, alle Schranken, die das Individuum in der bürgerlichen Gesellschaft erfährt, der „Herrschaft des männlichen Prinzips“ anzudichten und die „Hingabe“ an die Natur und das andere Geschlecht als idealen Lebenszweck zu preisen. Wenn die Männer ihre „grobschlächtige »Virilität« „ ablegen und „verweiblicht“ sind, dann haben sie es auch nicht mehr nötig, ihre „Aggressivität“ „auf technische Instrumente“ (1,73), insbesondere schnelle Autos zu „verlagern“ oder sich ihre „Sexualität“ durch die „künstliche Schönheit“ der „playmates of the month“ „kontrolliert entsublimieren“ zu lassen.

Hier betätigt sich also ein bourgeoiser Philosoph, der seine reaktionäre Kritik an der Entfaltung der Produktivkräfte und der Vervielfältigung der Bedürfnisse als Utopie vorträgt. Seine Utopien erweisen sich gerade wegen ihrer Wirklichkeitsferne als nützliche „Sozialpoesie“, deren Notwendigkeit die Bürger anerkennen, weil sie sich selbst, wenn auch auf kleinerem Maßstab, gern Ideale ausdenken:

„Sozialpoesie ...; in ihrer Art ist sie lebensnotwendig, denn wenn solche allgemeinen, wertbesetzten Zielüberlegungen ... als bloße störende Spinnereien abgetan werden, gibt sich die Menschheit selber auf.“ (ZEIT)

Sie halten es jedoch für lächerlich, daß Marcuse seinen Utopien den Charakter von Utopien abspricht.


Für eine emanzipatorische Konkurrenz

Marcuses These, daß „eine Welt ohne Angst möglich ist“ (SPIEGEL), veranlaßte deshalb den Düsseldorfer Diskussionsleiter Kurt Sontheimer sofort zu der Frage: „Ist Angst nicht eine Grundkomponente der menschlichen Existenz?“, mit der er sich sogleich vertrauensvoll an den Fachmann für Angst, Mitscherlich, wandte. Der Psychoanalytiker war in seinem Element, er sprach aus Erfahrung und sang eine Lobeshymne auf die moralischen Wirkungen von Angst:

„Wenn ich die Frage höre, dann wird's mir schwach, nicht wahr. Denn mit der Angst haben wir es natürlich überall und immer wieder zu tun ...  Es gibt sehr viele angstmachende Situationen, und Sie werden mir – horribile dictu – glauben oder erlauben, daß ich etwas ganz Ketzerisches sage: Ich habe das Gefühl, daß Menschen sich durch Angst-Situationen sehr näherrücken, und daß (dabei dann) oft Hindernisse, die zwischen ihnen sind, fallen, und daß tatsächlich, wie man vielleicht mit aller Vorsicht sagen kann, der Mensch ohne Angst ärmer wäre.“ (SPIEGEL)

Marcuse bereitete dieser Spruch des Angst-Theoretikers Mitscherlich „einen körperlichen Schmerz“, weil er als Eros-Theoretiker gerade die Überwindung dessen herbeiwünscht, mit dem der Psychoanalytiker sein Geld verdient. Einig sind sie sich jedoch in der Gleichgültigkeit dem gegenüber, wovor die Leute Angst haben müssen. Das interessiert keinen Freudianer, was Marcuse auch offen zugibt, indem er alle möglichen Beschränkungen des Individuums unter den von ihm erfundenen Begriff der „Repression“ subsumiert. Das „Geknatter der Motorräder in der Stille der Nacht“, die Entlassungsdrohung des Kapitalisten, der Schlagstock des Polizisten und die Napalmbombe in Vietnam bis hin zur Toleranz – alles ist gleichermaßen „repressiv“. Und da Marcuse mit den Bürgern von der Existenz einer Menschennatur überzeugt ist, war er sich mit Biedenkopf schnell darüber einig, daß zu deren „Grundgefühlen“ selbstverständlich auch die „Konkurrenz“ zählt als „ein wahrscheinlich unaufhebbarer Ausdruck primärer Aggressivität“ (ZEIT). Seinem kleinen Einwand

„es mache aber einen gewaltigen Unterschied, ob sie sich destruktiv oder emanzipatorisch auslebe, zum Beispiel im Wettbewerb um die Entschmutzung der Umwelt.“

konnte der CDU-General nur zustimmen, ist er doch ein überzeugter Gegner von Verfilzungen und gegen destruktive Konkurrenz hat einer von jeher was, der berufsmäßig den Leuten die Staatsraison einbleut. Und schließlich kann der Staat sich die Kosten für den Umweltschutz sparen, wenn die Bürger in den „emanzipatorischen Wettbewerb um die Entschmutzung der Umwelt“ eintreten. Ob sie dabei noch Träume von der „unberührten Natur“ im Hinterkopf haben, ist dem Biedenkopf egal: Hauptsache, die Reifen sind weg!


Der Mentor und seine Jünger

Erstaunt nahm die bürgerliche Presse zur Kenntnis, daß Marcuse ihre Sorgen um Umwelt und Auswüchse der Konkurrenz teilt, führte sie ihn bislang doch als einen der philosophischen Väter der Studentenbewegung. Und so sah sich DIE WELT genötigt, auf seine „unseriösen Krawallthesen“ hinzuweisen. Schließlich hatte der Entdecker der „repressiven Toleranz“ die „Verletzung der Spiel(!)-Regeln“ gefordert, weil

„in einer repressiven Gesellschaft selbst fortschrittliche Bewegungen in dem Maße in ihr Gegenteil umzuschlagen (drohen), wie sie die Spielregeln hinnehmen.“ (III,95)

Die Fortschrittlichkeit einer Bewegung wird also durch die Konfrontation mit der Staatsgewalt bewiesen, bzw. die Rückschrittlichkeit der Gesellschaft dadurch demonstriert, daß man die Bullen durch „Spielregelverletzungen“ provoziert, weil die „repressive Gesellschaft“ keine ist, wenn sie ihre Polizei nicht zuschlagen lassen darf. Typen wie Marcuse freuen sich also, wenn sie verfolgt werden. (So mußte er in München seinen Zuhörern bedauernd versichern, „die Repression sei trotz (?) seiner Anwesenheit nicht schwächer geworden“.) Als „Mentor“ der Spielregelverletzer hetzt er die Leute in blödsinnige Aktionen, von denen er sich gerade als „Mentor“ distanzieren kann.

„ ... es ist unsinnig(!), an die absolute Autorität dieses Gesetzes und dieser Ordnung denen gegenüber zu appellieren, die unter ihr leiden und gegen sie kämpfen – nicht für persönlichen Vorteil und aus persönlicher Rache, sondern weil sie Menschen sein wollen. Es gibt keinen anderen Richter über ihnen außer den eingesetzten Behörden, der Polizei und ihrem eigenen Gewissen. Wenn sie Gewalt anwenden, beginnen sie keine neue Kette von Gewalttaten, sondern zerbrechen die etablierte. Da man sie schlagen wird, kennen sie das Risiko, und wenn sie gewillt sind, es auf sich zu nehmen, hat kein Dritter, und am allerwenigsten der Erzieher und Intellektuelle, das Recht, ihnen Enthaltung zu predigen.“ (III,127f.)

(Freund Habermas findet so etwas Unmißverständliches mißverständlich.)


Der Mentor und sein Publikum

Was sich seit den 60er-Jahren geändert hat, ist der Umstand, daß es keine Studentenbewegung mehr gibt, die mit der Regelverletzung spielt. So kann der Staat Marcuse auch an Universitäten seine Emanzipationsshow abziehen lassen und die paar Spontis, die sich des Mentors Worte zu Herzen nehmen, in ihrem neckischen Treiben in Kauf nehmen. Deshalb wurde auch die „Disputation Nr. 131“ „unabhängig vom intellektuellen Ertrag – ein großes Ereignis.“ (SZ) Das „Publikum aus den besseren Kreisen“ war zufrieden, endlich einen Linken vor sich zu haben, den man den Linken um die Ohren schlagen kann, weil er nur das eigene Emanzipationsgelabere radikalisiert. (Im Gegensatz zu den Marcuse-Fans in der Sponti-Szene weiß es jedoch, daß man mit den „Spielregeln“ am besten fährt.) Was Marcuse von der neuen Welt erzählte, war vertraut und fremd zugleich. So konnte man das prickelnde Gefühl des Non-Konformismus so richtig genießen. Auch die Erwartungen des CDU-nahen Bildungsforums kamen nicht zu kurz: der Utopist von der „Neuen Linken“ gab dem Realisten Biedenkopf reichlich Gelegenheit zur Profilierung. Kein Wunder, daß die Polizei solche Wahlveranstaltungen vor Anhängern der neuen Linken schützt.

In München gab sich Marcuse etwas kämpferischer. Er sprach nicht nur von der Möglichkeit einer freien Gesellschaft, sondern forderte sein Publikum auf, sich der „Neuen Linken“ anzuschließen, es so zu machen wie die portugiesischen Landbesetzer, die Arbeiter der Uhren- Fabrik Lip, die radikalen italienischen und französischen Gewerkschaften oder die militanten Frauen. Damit bestätigte er ein paar versprengten Spontis, daß sie richtig liegen. Dieses Überbleibsel der Studentenbewegung füllt aber noch keinen Hörsaal von der Größe des Münchner Audimax. Die Studentenmassen, die Marcuse begeistert Beifall klatschten, bekamen offensichtlich auch etwas zu hören, was ihnen lieb ist. Marcuse bestätigte ihnen mit dem ganzen Gewicht seiner 70-jährigen Autorität, daß die Revolution nicht auf der Tagesordnung steht, daß sie sich als Studenten aber trotzdem auf der Seite des Fortschritts befinden, weil sie die „Katalysatoren“ von Marcuses „Kulturrevolution“ sind, wenn sie nur die „Sensibilität und Sinnlichkeit des Körpers“ pflegen, Brutalität aus ästhetischen Gründen ablehnen, etc. So liefert er einer Reihe von Leuten die Legitimation für ihr mehr oder weniger unpolitisches Treiben.

 

aus: MSZ 14 – Dezember 1976

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