Der fragliche Nutzen des Bohrlochs


Wenn sich ein standpunktbewußter Linker mit moderner Kunst beschäftigt, hat er dabei ein schlechtes Gewissen. Er vergleicht die Aussagekraft monochromer Flächen mit der Propagandawirkung der BILD-Zeitung und kommt zu dem Ergebnis, daß das Fortbestehen des Kapitalismus sicher nicht von Veranstaltungen wie der „documenta VI“ abhängt. Aber gefallen darf ihm das Loch von Kassel trotzdem nicht – gibt es doch auch nichts für das Vorwärtsschreiten der proletarischen Weltrevolution her.

So entscheidet der MSB Spartakus: die abstrakte Kunst sei erstens vollkommen nutzlos, da uns diese Bilder „nichts zu sagen haben“, und zweitens aber gerade deswegen der neueste Trick der Bourgeoisie, mit dem sie über ihre „irreversible Finallage“ hinwegzutäuschen versucht. Es handle sich nämlich um den gleichen „Bluff“ wie bei „des Kaisers neuen Kleidern“, einzig dazu erfunden, „von der Wirklichkeit abzulenken“ – was konkret heißt, daß die Ausstellungsobjekte den Blick auf die auch in Kassel vertretenen „Gegenkunstwerke“ des „sozialistischen Realismus“ verstellen sollen, „der sich längst nicht mehr durch Verschweigen bekämpfen läßt“ (woraus sich wohl auch das geringe Interesse proletarischerseits an der „documenta“ erklärt!). Der MSB braucht also keinen Gedanken an die Erklärung moderner Kunst zu verschwenden – was nicht für seine Politik taugt, stört sie nur und ist deswegen ein Instrument des Feindes, auch wenn der selber nichts damit anfangen kann.

Was an dieser Betrachtung auffällt, ist nicht nur, daß sie den „roten blättern“ dazu dient, in schöner Einigkeit mit BILD die Klage des redlichen Staatsbürgers über die Verschwendung von Steuergeldern für angeblich überflüssiges Zeug zu vertreten. Die Freunde der „documenta“ haben das gleiche Problem mit Nutzen und Nutzlosigkeit solcher Kunst; allerdings gehen sie schon mehr ins Detail, Sie sind keineswegs befriedigt über den „erschreckenden Welt- und Realitätsverlust“, den sie auf der Ausstellung festgestellt hätten, sondern vermissen leicht verständliche „eindeutige Antworten“ auf die derzeit vorrangig zu bekämpfende „Bedrohung der Identität“ „unserer jungen Generation“, die bekanntlich zu staatsgefährdender „Orientierungslosigkeit“ führt. Obwohl da zum Beispiel Beuys’ Demokratieübungen bereits recht tröstliche Ansätze darstellen:

„Das Publikum, die vielen jungen Leute um zwanzig, hören zu. ... Manche scheinen vor den Bildern zu meditieren. Daß es so etwas wie Gewaltaktionen gibt – man kann es hier fast vergessen.“ (Doris Schmidt in der SZ) –

liegt noch etliches im argen: in Brocks „Strategie der affirmativen Praxis“ fehlt etwa die „ernsthafte“ Affirmation des „Leidens“ und schon gar eine glaubwürdige Selbstrelativierung

„Es ist sicher nicht das Schlechteste an Brock, daß er eine »Philosophie des Ja« und eine ganz und gar »weltliche Kunst« propagiert und daß er den Philosophien und Kunstwerken der Verzweiflung den Kampf angesagt hat, aber vielleicht wäre dieser doch etwas ernster zu nehmen, wenn Brock selbst ein bißchen fähiger zur Verzweiflung und zum Selbstzweifel, wenn er etwas weniger ungebrochen Vernunft gläubig wäre.“ (Peter Hamm im SPIEGEL).

Diese Kritiker also sorgen sich um die Effektivität der Kunst für die Propaganda ihrer moralischen Vorschriften, welche auf der „documenta“ ihrer Meinung nach unvollkommen betrieben wurde. Und wer der Sachkenntnis dieser kritischen Sympathisanten des Staates nicht trauen mag und immer noch vermutet, sie stünden wie „Hofschranzen vor des Kaisers neuen Kleidern“, der höre das Machtwort des Bundespräsidenten selbst:

„Es gibt keinen besseren Lehrmeister in der Kunst der Freiheit als die Kunst. Und deshalb ist die Kunst in einer freiheitlichen Demokratie keine Nebensache, Und es steht nicht gut um die Demokratie, in der sie als Nebensache behandelt wird.“

Weshalb sich Scheel so sicher ist, daß schwarze Bilder, „vertikale Erdkilometer“ und sonstige Spinnereien Leistungen für die Demokratie sind, und weshalb dennoch weder Rechte noch Linke mit moderner Kunst so recht glücklich werden können, steht in der nächsten MSZ.

 

aus: MSZ 19 – Oktober 1977

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