Aus der Welt der Wissenschaft (IV)


Denken mit Komplexen


Der „kleine Mann“ – von dem Willen geleitet, sich möglichst günstig durchs bürgerliche Leben zu schlagen, kennt eine Menge von Allgemeinplätzen, mit denen er die kümmerlichen Resultate in ein verzichtbereites Urteil über die gesellschaftlichen Gegebenheiten kleidet, die nie zu seinem Vorteil ausschlagen und die er doch als Bedingungen seines Vorteils zu betrachten gewohnt ist. Was sie für ihn bedeuten – meist mehr schlechte als rechte Voraussetzungen für’s Zurechtkommen –, als das behandelt er sie auch theoretisch, mit der kleinen Schönheitskorrektur, „recht“ und „schlecht“ zu zwei selbständigen Eigenschaften zu erklären, wobei die eine erstrebenswert, die andere aber dabei leider meist nicht zu vermeiden ist. Das bescheidene Nutzenkalkül in einer einseitigen Welt, die für den gemeinen Mann alles andere als nützlich ist, faßt seine Analyse daher stets in dem so unumstößlichen, wie falschen Dogma zusammen, daß jedes Ding seine zwei Seiten hat, wobei stillschweigend eingeschlossen ist, daß immer irgend jemand auf der anderen Seite der Sache steht und sie sich deshalb für ihn umgekehrt darstellt. Und zwei Seiten hat die Sache natürlich auch immer für die, die weniger die schlechte als die rechte mitbekommen, aber gerade deswegen beide Seiten immer sehr genau gegeneinander abwägen müssen.


Wissenschaft von allen Seiten

Die Wissenschaft – bekanntlich über die Partikularität des Alltagsverstandes hinaus und mit dem Allgemeinen befaßt – ist mit der Verallgemeinerung dieser Betrachtungsweise in die Sphären der höheren Geometrie vorgedrungen. Weil sie nicht einseitig sein will, betrachtet sie die Sache von allen Seiten, wobei sich keiner so recht festlegen will, wieviele es eigentlich sind, da der fragende Blick, ob das Objekt förderlich oder hinderlich für diesen oder jenen Zweck sei, immer neue Seiten entdeckt und sie immer wieder »in neuem Lichte« sieht. Gleichwohl läßt sich ein heller, in bürgerlicher Wissenschaft geschulter Kopf die Sache nicht aus der geistigen Hand nehmen, wenn er sie in die vielfältigsten Beziehungen auflöst.

Wo diese Sorte Denken sich ausdrücklich von der behandelten Sache entfernt und, statt sie zu erklären, zu ihrer Erklärung die große weite Welt als Voraussetzungen, Bedingungen usw. herbeizerrt, faßt es diese Unbekümmertheit nicht selten zu dem Urteil zusammen, daß letztlich alles mit allem zusammenhänge und deshalb nichts aus dem Zusammenhang gerissen werden dürfe. In vornehmer Absehung von bestimmten Zusammenhängen beharrt es schlicht darauf, daß es außer Zusammenhängen nichts gibt. Im praktischen Leben ist das Gerede von den größeren Zusammenhängen nicht viel mehr als die „gehobene“ Form der allgegenwärtigen Ermahnung von klein und groß: „Du darfst doch nicht immer nur an dich denken. Denk auch mal an die andern!“ – in der Reihenfolge Mammi, Pappi, Nächsten, Mitmenschen, uns, Gemeinschaft, Staat. Und als solche Ermahnung wird sie auch verstanden.

Anders dagegen im Reich der Wissenschaft, wo solch plumpe moralische Appelle ja die Form falschen Argumentierens angenommen haben. Hier gilt der Unfug, daß alles mit allem zusammenhängt, nicht nur als akzeptabel, sondern als Beweis für besonderes Niveau. Hier wird auch die Aussage, „Das hängt mit ... zusammen“, nicht als Auftakt und Aufforderung verstanden, den beim ersten Nachdenken sich aufdrängenden Sachverhalt zu analysieren, sondern großspurig als die Erklärung selber ausgegeben.

Gar nicht betrübt darüber, daß unter dem theoretischen Würgegriff der Kern der Sache dahingeschmolzen ist und in Aspekte zerfällt, aber nicht mit ihnen zusammenfällt, macht eine wissenschaftliche Größe aus ihrem theoretischen Versagen ganz unbescheiden ein Urteil über die Sache, das notwendigerweise recht unfreundlich und dümmlich ausfällt. Ihr Wesen besteht darin, nicht mit all den Seiten zusammenzufallen, die man ihr angedichtet hat, was zwar als der Weisheit letzter Schluß eine sehr negative und rücksichtslose Bestimmung ist, sich aber dennoch programmatisch-gespreizt als positive Aufforderung formulieren läßt, das Ding an sich auf sich beruhen zu lassen und ihm für sich neue Seiten abzugewinnen. Wie die Dinge für die professionellen Denker liegen, sind sie zu guter Letzt und zuallererst immer „vielschichtig“, sie sind „komplex“– eine unverfrorene Grundeinsicht über den Charakter aller Dinge, die an Gleichgültigkeit gegenüber jeder Besonderheit und universeller Gültigkeit einem Rechtsgebot in nichts nachsteht. Mit dieser Verwandlung der Welt in eine Schwierigkeit für die Wissenschaft enthebt sie, sich der Schwierigkeit, mit ein paar einfachen Wahrheiten über die Welt Zweifel an ihr zu nähren, und versieht stattdessen die Vorschrift zum Zweifel am eigenen Treiben mit der Würde, die Objektivität zu sein, was ein paar aus dem Zusammenhang gerissene Zitate beweisen.


Die Wirklichkeit: verwirrend bunt wie ein Radio

Ein Soziologielehrbuch sagt gleich vierfach –

„Die komplexe (Industrie-)Gesellschaft ist verwirrend bunt. Ihre Struktur läßt sich nur unvollkommen beschreiben“ –,

was ein Literaturwissenschaftler bzw. ein Politologe nur doppelt als Eigenschaft des Gegenstandes und Vorschrift, wie man sich zu ihm theoretisch zu stellen hat, der komplexen Welt mitteilen:

„Das geschichtliche Leben und die einzelnen Ausprägungen dieses Lebens sind, aufbauend auf den Individuen, zu komplex, als daß sie in gesetzmäßigen Abläufen voll erfaßt werden könnten.“

„In der Realität gibt es keine nur wirtschaftlichen, sozialen und historischen Probleme. Es gibt nur Probleme, und in der Regel sehr komplexe. Für manche sind die Werkzeuge der einen Wissenschaft geeigneter, aber nie sind sie völlig ausreichend.“

Bei der Popularisierung naturwissenschaftlicher Ergebnisse oder neuer Technologien erspart man sich die Erklärung bestimmter Gesetzmäßigkeiten oder Konstruktionsprinzipien oft durch den einfachen Satz: „der komplizierte Zusammenhang ...“, „der komplizierte Mechanismus...“, „die komplizierte Schaltung...“, und vertraut dabei darauf, daß es der interessierte Leser so genau nicht wissen will und sich mit der staunenden Vorstellung z.B. über das Innere eines Radioapparates, oder mit der Versicherung, daß ein bestimmter gesetzmäßiger Zusammenhang existiert, dessen Wirkungen und Anwendungsbereiche das einzig Interessante sind, zufriedengibt. An die Stelle von Wissen tritt also damit die Zufriedenheit, wieweit es Technik und Naturwissenschaft mit ihrem Wissen wieder einmal gebracht haben. Wenn dagegen aufgefordert wird, man solle sich die ganze Welt wie ein Radio vorstellen, dann, um einen Angriff auf das Denken zu starten. Dessen Leistung, sich einen bestimmten Gegenstand vorzunehmen, erscheint angesichts dieser Vorstellung als ein ungeheuerlicher Eingriff in den Mechanismus Wirklichkeit –

„da der Mensch ausschnittweise denkt und erkennt. Die Komplexität zerlegt er in meist lineare Beziehungen“ –,

der allerdings nicht abgeschafft werden, sondern eben deswegen von dem Anspruch, mit der Wirklichkeit zu tun zu haben, Abstand nehmen soll, weil er im Räderwerk des geschichtlichen Lebens gottseidank nur einen geistigen Kurzschluß zustandebringt:

„Durch diese doppelte Selektion von Teilbereichen der Wirklichkeit und Teilperspektiven ihrer Betrachtung wird indessen weder die weiter bestehende ganzheitliche Existenz der Realität selbst noch die gleichfalls weiterbestehende Vielfalt der Perspektiven selbst irgendwie berührt, Sie wirkt nämlich nur im Erkenntnisprozeß, bei der begrifflichen Konstruktion der Wirklichkeit.“


Die Wissenschaft ein Modellbaukasten

Ein Verhaltenswissenschaftler trägt die in Form einer allgemeinen Erkenntnis gekleidete, bewußte geistige Abdankung ganz einfach vor:

„Menschliches Verhalten zeichnet sich durch seine Komplexität ... aus.“

Allerdings läßt auch er es sich nicht nehmen, den Willen, der mit dieser angeblichen Eigenschaft in den Rang der Objektivität erhoben worden ist, zum Programm auszubauen. Auf die saloppe Yankee-Tour macht er plausibel, daß, wenn man den Menschen als ein Tier ansieht, bei dem sich Bedingungen, Voraussetzungen, Wirkungen, Folgen all dessen, was er tut, nicht so einfach festlegen lassen, man für seine Erforschung einfachheitshalber das Tier untersucht:

„Doch (!) die grundlegenden Prozesse müssen sich deshalb nicht unbedingt voneinander unterscheiden (er hat sie ja gerade gleichgesetzt!). Wir untersuchen tierisches Verhalten, weil es einfacher ist.“

Auch der Ökonom widmet sich der Aufgabe, die gar nicht unvoreingenommene Stellung zur Volkswirtschaft, die er ihr fast beiläufig angehängt hat –

„Der deutsche Nationalökonom Walter Eucken hat angesichts des komplexen Wirtschaftsgeschehens die Grundfrage gestellt ...“ –,

zum ausdrücklichen tautologischen Grund dafür zu machen, daß Wissenschaft ein Modellbaukasten ist, mit dem sich die Welt neben der wirklichen ganz neu konstruieren läßt. Erst erklärt er die Feststellung von Wirkungen und ihre Formulierung in Form von Hypothesen zur vornehmsten Aufgabe seiner Zunft. Dann macht er daraus die (selbstgeschaffene) Schwierigkeit, daß diese statistischen Gesetzmäßigkeiten keine Erklärung, sondern die Behauptung einer Beziehung sind, bei der von anderen Wirkungen, Einflußfaktoren usw. abgesehen werden muß, daß also die theoretische Umformulierung des praktischen Staatsproblems: »was passiert, wenn« und damit die ersehnten Prognosen laufend danebengehen. Woraus er die tröstliche methodische Vorschrift gewinnt, man müsse gerade deswegen munter weiter »wenn-dann«'-Beziehungen zwischen veränderbaren Größen untersuchen. Denn 1. ist „im Testverfahren die Interpretation des empirischen Materials angesichts der komplexen Realität alles andere als eindeutig.“; 2. ist „die Anwendung der ceteris-paribus-Klausel angesichts der komplexen Wirklichkeit unvermeidlich“. Wenn man natürlich Sparen mit Sparverhalten erklärt und den Einfluß steigenden Einkommens auf dieses untersucht, muß man z.B. von den verheerenden Wirkungen einer Zinssenkung, galoppierender Inflation ebenso wie von ... absehen, um dann festzustellen, daß es eine Menge zusätzlicher Voraussetzungen, Wirkungen usw. hat, die sich nach Lust und Laune in Hypothesen kombinieren lassen. Deswegen gelangt der Gedanke, je mehr Grössen, desto schwieriger, ein drittes Mal zum Einsatz:

„Die Substitutionsfähigkeit der mathematischen Ausdrucksweise durch die verbale oder geometrische nimmt mit der Komplexität des Hypothesensystems … ab“


Auf zu neuen Dimensionen

Es ist also völlig verfehlt, die Wissenschaftlermafia, die unisono vor, bei und nach der Darstellung ihrer falschen Ergebnisse weniger über die Komplexität von Gott und der Welt lamentiert, als mit ihr argumentiert, aufzufordern, sie solle doch ihre geistigen Koffer packen. Denn sie besitzt in diesem Argument ja den Universalschlüssel, um ihre Koffer erst so richtig auszupacken, um – streng methodisch kontrolliert, versteht sich – mit Schaubildchen und der durch „–“ verbundenen Sammlung von Aspekten, Voraussetzungen, Wirkungen, Einflußfaktoren usw. dem Gegenstand endgültig den Garaus zu machen. Mit didaktischem Geschick und einem offensiven Bekenntnis zum falschen wissenschaftlichen Treiben gemäß einem apologetischen Interesse –

„Gegenstand der Didaktik ist Unterricht. Es dürfte unwidersprochen bleiben (nein!), daß seine wichtigste Funktion darin besteht, zum Lernen zu veranlassen ... Die Elemente des Unterrichts werden nicht isoliert betrachtet, sondern in didaktisch relevanten Funktionszusammenhängen gesehen.“ –


baut ein Pädagogikbuch streng logisch-tautologisch nach und nach eine „Unterrichtssituation mit zwei Lernenden“ auf und bietet unter Verwendung der vom Volkswirtschaftler eben vorgeschlagenen geometrischen Vorstellungskraft noch mehr an:

„Alle den Unterricht bedingenden Elemente und die zwischen diesen Elementen existierenden Relationen können von verschiedenen Komplexitätsstufen her betrachtet, beschrieben und mitgeteilt werden. Die Elemente können je nach Bedarf zu (Sub-)Systemen erweitert werden und die Relationen in unterschiedlichem Grade differenziert werden, ohne daß die Übersicht über das Gesamtsystem »Unterricht« verloren geht. (Er meint natürlich: man kann nicht nur, man muß!) Unterricht ist eine Kette solcher Unterrichtssituationen. Die Komplexität einer einzelnen Unterrichtssituation deutet sich bereits in Abb. 7 an; sie erhöht sich, wenn mehr als zwei lernende gleichzeitig operieren (ein originelles Plädoyer für Zwergschulen!). Der tatsächliche Komplexitätsgrad wird durch die großen Repertoires von Möglichkeiten bestimmt ...“

Nachdem er so der einfältigen wissenschaftlichen Pflicht Genüge getan hat, den Unterricht gemäß der erlogenen Funktion, zum Lernen zu veranlassen, in lauter Bedingungen für diese Funktion zu zerlegen und aus diesen dann verwandelt wieder ein Stück weit zusammenzusetzen (so macht man aus einer Sache ein System!) und nachdem er anschließend die endlose Ausbaufähigkeit dieses Systems versichert hat, kann er sich ohne Begründung bescheiden „beispielsweise“ oder angeberisch „weil es mir wichtig und bisher vernachlässigt erscheint“ auf eine ihm am Herzen liegende „Dimension“ stürzen und das noch als wissenschaftliche Redlichkeit herausstreichen:

„Wegen der Vieldimensionalität ist es schwierig, diesen Sachverhalt vollständig zu erläutern. Wir nehmen daher nur eine einzige Wirkungsdimension heraus“ aus dem „Wirkungskomplex“, und zwar die der „Operation“ (Pfeil b, der durch Pfeil a bewirkt wird und umgekehrt), die wiederum aus „6 verschiedenen“ Wirkungen des Unterrichts auf den Schüler besteht, gemäß derer sich die „verschiedenen »Unterrichtsinhalte« in vier Grundformen und darunter nochmals in fünf Komplexitätsstufen einordnen“, bezogen auf vier didaktische Zielsetzungen, deren vierte lautet, „jeden Schüler in die Lage zu versetzen, daß er jedes beliebige Objekt, gleich welcher Grundform und Komplexitätsstufe, bewältigen kann.“


Sicher am Rande der Realität

Ein Vertreter der Linguistik macht sich erst gar nicht mehr die Mühe, seine Erfindungen für mehr auszugeben als die Vorbereitung auf die Sammlung aller möglicher individueller und Umweltbedingungen, die beim Reden angeblich „eine Rolle“ spielen sollen. Messerscharf beweist er, daß Erfindungen, als Erklärungen vorgebracht, noch allemal die Sache blamieren, so daß sich mit dieser dann beweisen läßt, daß jene gerade deshalb Wissenschaft sind, weil sie nichts erklären – außer der Unerklärbarkeit der Welt natürlich:

„Diese Modelle sind sehr vereinfacht (!) und deshalb (!) von der genauen Abbildung aller Einzelheiten (ein anderer Ausdruck für »Dimensionen«, der unmittelbarer auf die krude Sammelei zielt!) der sprachlichen Realität weit entfernt; sie zeigen aber immerhin, wie komplex sprachliche Phänomene sind.“

In gemessener Entfernung von so etwas wie Erklärung widmet er sich dann guten Gewissens Fragen wie :

„Welche Auswirkung hat die psychische Verfassung auf eine sprachliche Äußerung?“ (Wie steht's mit dem Wetter, der Kindheit, der Familienstärke ...?)

Nachdem der Komplex »Komplexität« sich auf den gar nicht „komplexen Begriff“ „verkürzt“ hat, die Unerklärbarkeit eines Gegenstandes durch, neben und für seine unbekümmerte theoretische Vergewaltigung zu seinem Begriff zu erklären, muß es natürlich auch einleuchten, daß sich neue Dimensionen für die Wissenschaft eröffnen, die sich auf diese Weise mit der eigenen Zunft befaßt und Vorschriften für sie erläßt. Ein politologischer Wissenschaftspolizist will z.B. unbedingt „noch die historische Dimension jener komplexen Problematik, Kriterien der Wissenschaftlichkeit festzusetzen“, einbeziehen, und beweist so mit wünschenswerter Klarheit, daß das Gerede von der Schwierigkeit, die Wissenschaft dazu zu bringen, jede Sache zu einer unüberwindlichen Schwierigkeit zu erklären, um seinen Standpunkt zu ihr ohne Schwierigkeiten loszuwerden, ihm keinerlei Probleme bereitet. Deswegen ist auch der Stoßseufzer eines naturwissenschaftsdidaktischen Proselyten –

„Situationen werden immer komplexer, je mehr man sich mit ihnen beschäftigt“ –

kein Grund zu Beunruhigung. Hier bewundert die Wissenschaft mit der dogmatischen Bescheidenheit desjenigen, der Sicherheit nicht aus dem Denken, sondern aus seiner gesellschaftlichen Gültigkeit und Dienstbarkeit erhält, ihre eigene Leistung, durch die Betrachtung der Dinge in immer neuem Licht, das immer dieselben moralischen Erleuchtungen ans Licht bringt, quasi automatisch die Welt in einen unerschütterlichen Beleg für ihren Skeptizismus zu verwandeln.


Wider die schrecklichen Vereinfacher

Mit dem ganzen Komplex hat sich die Wissenschaft nicht nur eine bleibende Basis für ihren Erfindungsreichtum geschaffen, sondern auch ein wenig vielschichtiges, aber um so beliebteres Mittel für die niveauvolle Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen und politischen Gegnern, wo sie sich wissenschaftlich äußern. Der Journalist, der gegen eine demoskopische Untersuchung einwandte,

„Komplexe politische Zusammenhänge werden zu Schlagworten verkürzt und zum Wertmaßstab studentischen Handelns“,

hat die Verwendung des Schlagworts für die Aufforderung zu rechten demokratischen Maßstäben von der Wissenschaft gelernt. Dort gehört es zum guten Ton, die Bekenntnisse zur eigenen »Ein«- im Bewußtsein der »Vieldimensionalität« in einen Vorwurf gegen diejenigen umzumünzen, bei denen man letzteres vermißt. Man muß z.B. Marx nur den soziologischen Fehler unterjubeln, »die Gesellschaft« tautologisch aus dem Handeln der Gesellschaftsmitglieder in und bezogen auf die gesellschaftlichen Gegebenheiten zu erklären, ein Fehler, der ja Soziologen stets dazu führt, die Mitglieder bezüglich der Normalität ihres Handelns zu ermahnen oder ihnen heuchlerisch auf die Schulter zu klopfen. Dann kann man Marx die ganz und gar entgegengesetzten, gesellschaftlich verheerenden Konsequenzen seiner ganz und gar unsoziologischen Analysen vornehm als wissenschaftliche Beschränktheit und Rücksichtslosigkeit gegenüber der soziologisch gefärbten Sache vorhalten:

Marx will „die sozialen Faktoren (!) eingeschränkt (!) wissen auf die Ökonomie. Dieses hat man zurecht kritisiert als Monismus (!) seiner Theorie. Ich teile die Skepsis (!), ob man mit diesem einen Axiom (!) allein (!) Kenntnis über die Komplexität der gesellschaftlichen Entwicklung erlangen kann.“ (Allerdings nicht!)

Weil Marx keine Veranlassung sah, aus der Vielzahl der gesellschaftlichen Institutionen oder gar der achtstelligen Zahl der Bevölkerung einen Beweis dafür zu machen, daß man die kapitalistische Gesellschaft vom Standpunkt des reibungslosen „Zusammenwirken aller Elemente des gesellschaftlichen Systems“ aus betrachten und aus diesem apologetischen Interesse auch noch eine Offensive für wissenschaftliche Redlichkeit machen müsse, plädiert der Soziologe mit seiner Kritik natürlich auch nicht, wie er vorgibt, für eine »Ergänzung« von Marx, sondern für die von Marx kritisierte Vulgärwissenschaft. Was im wissenschaftlichen Gestus „verkürzte Sichtweise“ heißt, lautet im öffentlichpolitischen Leben – nicht zuletzt im Munde von Wissenschaftlern – „schreckliche Vereinfacher“, auch kurz „Ideologen“ genannt, mit denen man es sich einfach machen muß, weil sie es dem Staat schwer machen wollen.


Linksgestrickter Musterkomplex

Moderne marxistische Theoretiker brauchen sich auf dem Felde ihres „begrenzten Ansatzes“ allerdings nicht mehr vorhalten zu lassen, sie beherrschten den Fehler nicht in Vollendung, erst aus dem Staat Funktionen für .... zu machen (an dem sind sie nämlich wenigstens ebenso interessiert wie ihre Kontrahenten), dann mit dem Hinweis auf das so konstruierte Bündel nützlicher und schädlicher Leistungen der geistigen Anstrengung endgültig ade zu sagen und sich für die Katalogisierung der Umstände und Wirkungen, die beteiligt sind, bzw. sich ergeben könnten, stark zu machen. Eine Untersuchung über „Imperialismus und Staat“ z.B. entwirft erst das freudige Schreckbild einer

„relativ (!) komplexen international verstreuten Produktionsstruktur“, eines „historisch (!) komplexen Zusammentreffens der von den Metropolen ausgehenden weltweiten Expansion des Kapitalismus mit technologisch und sozial weit rückständigen Gebieten“, einer „im Kontext einer komplexen Handelsstruktur“

nur noch mühsam auszugleichenden Tauschungleichheit – kurz ein teilnahmsvolles Sittengemälde vom angeblichen Scheitern des internationalen Kapitals an seinen selbstgeschaffenen angeblichen Schwierigkeiten, über die man deswegen auch nicht mehr sagen muß, als daß sie undurchschaubar kompliziert = unlösbar fürs Kapital, eben „komplex“ sind. Dann wird der Staat als unvollkommener Retter nach den angeblichen Aufgaben, die das krebsende Kapital ihm auferlegt, abgeklappert. Der daraus konstruierte bedauerliche Begriff des Staates, einerseits dem nationalen Kapital dienen, andererseits sich in übernationale Staatenzusammenhänge unter Preisgabe von Souveränität eingliedern zu müssen, wird dann geradezu klassisch mit dem linksgestrickten Übergangskomplex, daß sich nichts mehr beweisen lasse, bewiesen:

„Wenn der nationale Staat in der widersprüchlichen Komplexität seiner kapitalbezogenen Funktionen nicht schlechthin als dem Kapitalverhältnis eigene Form, sondern selbst noch als historisch im Kontext des Kapitalverhältnisses prinzipiell überwindbare Form zu begreifen ist, ... so ist es eine empirische Frage, ob ...“ blablabla.


Begrenzte und unbegrenzte Möglichkeiten

Die Männer der Wissenschaft, die voll auf der richtigen Seite stehen, überlassen es allerdings keineswegs den linken Abweichlern, mit dem mehrmaligen beschwörenden »komplex« ihre soziologischen Gedankengänge auszuschmücken. Sie haben es einem der ihren vorbehalten, aus ihrem Fehler, daß jeder gesellschaftliche Gegenstand für sich nichts ist, als die unendliche Summe seiner Bedeutungen für die Beziehung der Gesellschaftsmitglieder auf ihn, seiner Voraussetzungen im und für gesellschaftliches Handeln, seiner Beeinflussung durch es und seiner Einflüsse auf es usw., eine eigene phantasievolle Soziologie zu basteln. Diese hält sich mit der Besprechung bestimmter Beziehungen gar nicht mehr auf, sondern reitet genüßlich nur noch darauf herum, daß die Gesellschaft aus nichts anderem besteht, was sich mit der gebührenden Penetranz origineller Denker zu einem ganzen System breittreten läßt, in dem es überaus einfach zugeht, weil Komplexität seine einzige Bestimmung ist. Mit souveräner Gleichgültigkeit gegen all die falschen Aussagen der Berufskollegen im eigenen und in anderen Fächern, die alle gleichermaßen anerkannt sind und mit ihrem Pluralismus seine Basis bilden, nimmt dieser Fanatiker des soziologischen Standpunkts das abstrakte Resultat soziologischer Fehler zum Ausgangspunkt einer schlichten Zweiteilung der soziologischen Welt in Möglichkeiten und Möglichkeiten – mögliche und wirkliche nämlich:

„Durch den Begriff Komplexität soll bezeichnet werden, daß es stets mehr Möglichkeiten des Erlebens und Handelns gibt, als aktualisiert werden können.“

Die kleine konsequente Ausweitung des Begriffs „Komplexität der Gesellschaft“ zu einem vorgestellten Reich der unbegrenzten Möglichkeiten (die Grundlagen dieser Soziologie stammen natürlich aus dem gleichnamigen Land!) ist schon eine originelle Demonstration des von jeder gesellschaftlichen Bestimmtheit getrennten puren soziologischen Standpunkts, also des reinen Inhalts der Soziologie, und leitet weitere ein. Hat man Gesellschaft als Bedingung des Handelns in ihr „aufgefaßt“, „versteht“ man also Handeln als die Summe von Möglichkeiten, die „der Mensch“ wahrnehmen kann, und damit als die zur Existenz gebrachten Umstände und Bedingungen seiner selbst, dann läßt es sich natürlich auch wunderbar dadurch erklären, daß alles mögliche andere unmöglich ist, weil nicht so gehandelt wird. So stellt sich die ganze Gesellschaft auf den Kopf: Sie ist nicht mehr der Zwangszusammenhang, der seinen Mitgliedern Handlungen aufnötigt, die die meisten bei einigem Nachdenken mit „unmöglich“ kommentieren würden. Sie ist vielmehr dank der unbegrenzten Möglichkeiten soziologischer Phantasie das, was sie nicht ist – ein Ensemble lauter undenkbarer Möglichkeiten –, und zwar deren Verneinung. Da man durch eine doppelte Verneinung bekanntlich zwar dümmer, deshalb aber auch positiver gestimmt wird, stellt sich nun die beabsichtigte Zufriedenheit ein: Gottseidank – man stelle sich nur die ganzen Möglichkeiten vor, die ganz unmöglich sind –

„ist Gesellschaft ... dasjenige Sozialsystem (im Unterschied zu allen möglichen), das mit seinen Grenzen unbestimmte, nicht manipulierte Komplexität ausgrenzt (hinter den Grenzen lauert immer der Feind) und damit die Möglichkeiten vorstrukturiert, die in der Gesellschaft ergriffen werden können.“

Man weiß also, was man zu tun hat und dafür erwarten kann, und so gesehen ist

„Recht (wie alle anderen Institutionen) ... keinesfalls primär eine Zwangsordnung, sondern eine Erwartungserleichterung.“


Aspekt-, Struktur- und Raumkomplexe

Der an „hohem Abstraktionsniveau“ kaum zu überbietende Hymnus, daß unsere Gesellschaft jedem seine Chance eröffnet, wenn er nur sein Handeln an seinen gesellschaftlichen Möglichkeiten orientiert, fordert natürlich zur produktiven Weiterverarbeitung auf. Die vorstrukturierte Möglichkeit, diesen Fehler auch für die Erwachsenenbildung in gleich vier möglichen Aspekten von Komplexität zu aktualisieren, ergriff und realisierte dankbar ein pädagogischer Newcomer, der kommentarlos und unsystematisch zitiert sei:

„Sie (die systemanalytische Betrachtungsweise der Erwachsenenbildung) hat den Begriff der Komplexität von der Ebene des faktisch Verwirklichten auf die Ebene des Möglichen zu transponieren ... Es gibt erstens innerhalb eines Systems einen Bereich bestimmter bzw. bestimmbarer Komplexität, die in Strukturen und Prozessen manifest werden kann. ... Es gibt zweitens einen Bereich bestimmter bzw. bestimmbarer Umweltkomplexität, der in systemrelevanten  Umweltentwürfen einen Ausdruck finden kann. ... Es gibt drittens eine Sphäre unbestimmter bzw. unbestimmbarer Umweltkomplexität, die hier mit dem Begriff „Welt“ angesprochen wurde ... Es gibt viertens ebenso innerhalb eines Systems eine Sphäre unbestimmter bzw. unbestimmbarer Komplexität, die nur in latenten Strukturen und Prozessen spürbar wird ... Darauf hat verdienstvoll die Kleingruppenforschung aufmerksam gemacht.“

Auch ein altgedienter Theoretiker des „Regierungssystems der BRD“ läßt sich die Möglichkeit nicht entgehen, in seiner vierten völlig neubearbeiteten Auflage mit diesem gleich doppelt angewandten Fehler den politologischen Gedankengang modisch aufzupeppen, der den Umgang des demokratischen Staates mit seinen Bürgern erst zu einem Problem der mangelnden Partizipation an seinen Geschäften und dann der mangelnden Information über seine Geschäfte macht:

„Das Komplexitätsproblem kann man teils als Variante des Machtproblems, teils als eigentlichen Kern der modernen Demokratieproblematik sehen. ... Diese Techniker der Macht erhalten nicht nur die bestehende Macht, sie verhüllen sie auch, indem sie den Schleier der Komplexität über alles legen und dadurch den Anspruch auf Teilhabe und Mitsprache zum Verstummen bringen. Im zweiten Fall geht es mehr um die tatsächliche Komplexität, also um die umfassende Interdependenz ... Die demokratische Theorie gibt demgegenüber nicht auf ... Funktion von Substrukturen ... Überschaubarkeit ... neue Informations- und Kommunikationsstrukturen.
Dem Komplexitätsproblem kann man so aber nicht ausweichen. Komplexität muß reduziert werden (dies die andere Seite des oben zitierten Stoßseufzers, daß durch Nachdenken alles komplexer wird!). Dazu muß man die Möglichkeit einschränken, Komplexitätsbehauptungen aufzustellen, ohne andererseits sich unzulässiger Vereinfachung hinzugeben.“ (er meint: dem Staatsbürger öfter die staatliche Wahrheit sagen!)

Gegenüber diesem Monsterplädoyer für mehr staatsbürgerliche Bildung nimmt sich der Beitrag eines kritischen Geistes nachgerade schlicht aus. Auch er läßt sich nicht lumpen; denn das soziologische Angebot, sich die Gesellschaft als geschlossenen Raum vorzustellen (ausgerechnet „Spielraum“), in dem man verfügen kann (die emanzipatorische Version von Handeln!), verlockt ja dazu, unbeschwert darüber zu spekulieren, ob nicht Erweiterungsbauten möglich sein sollten. Aus staatlicher Rücksichtslosigkeit und imperialistischer Brutalität werden dabei verwickelte Geschichten, die nicht gerade die staatsbürgerliche Einstellung fördern, sie als Aufgabe für sich zu betrachten:

„Ob sich der tatsächliche Verfügungsspielraum des Menschen erweitert hat, wird man nicht allein mit dem Hinweis auf Mondfahrten und Herztransplantationen beantworten können; man wird auch sagen müssen, warum wir es nicht fertigbringen, Schulverdruß, Umweltvergiftung, Inflation und MyLai (eine gekonnte Klimax!) zu vermeiden. Auch hier ist (wie könnte es anders sein!) Komplexität im Spiel. Nicht nur sind komplexe Lagen und Aufgaben schwierig (das kommt einer Tautologie gleich) (das ist stark!), sie stiften darüber hinaus Angst, Vorbehalte, Verwirrung in den Subjekten ...“


Brücken in die komplexe Gesellschaft

Die mehr auf praktische Propaganda ausgerichteten wissenschaftlichen Nutzanwendungen des Komplexitätskomplexes verblassen demgegenüber nicht. Sie beherrschen durchaus die platte Kunst, die Schwierigkeiten, die die gesellschaftlichen Institutionen nicht gerade wenig Leuten bereiten, mit Hilfe des Gedankens, daß alles unüberschaubar , unzusammenhängend allzusammenhängend, also komplex sei, in das glatte Gegenteil zu verwandeln. Sie holen dafür den Vergleich zwischen der Gesellschaft als Möglichkeit des Handelns mit den ohne Gesellschaft gegebenen unmöglichen Möglichkeiten auf den Boden der Alltagsrealität zurück und vergleichen die Gesellschaft als unmögliche Fülle von Möglichkeiten gesellschaftlichen Handelns (das kommt einer Tautologie gleich!), vor denen der Handelnde frustriert herumsteht, mit der Stellung, die derselbe Mensch angeblich zu ihr hat, wenn er sich auf sie eingestellt hat – und heraus kommt die Gesellschaft in Form bestimmter Institutionen als Segen. Pädagogen, die eine zweckdienliche falsche Einstellung der Lehrer zu ihrer Praxis empfehlen –

„Der Lehrer muß die unterschiedlichen Sichtweisen im Kopf zusammenbringen und in Handeln umsetzen, um komplexe Situationen zu meistern.“ –,

leisten natürlich auch Vorbildliches in Sachen brutaler Propaganda der Nützlichkeit geistiger und willentlicher Verkrüppelung – Ausbildung genannt:

„Der erwachsene Mensch wird zu einer wunderbar anpassungsfähigen und kompetent agierenden (der kriegt sich gar nicht mehr ein, daß die Leute sich den gesellschaftlichen Zwängen anbequemen!) Person in einer komplexen Gesellschaft.“

Und auch das anfangs zitierte vierfach-genäht-hält-besser-Sozialkundebuch schwingt sich erneut zur mehrfach begründeten praktischen Schlußfolgerung auf:

„Dem Jugendlichen der komplexen Gesellschaft bieten sich Tausende von Daseinsformen.“ (wer bietet mehr?) „Kaum eine kennt er näher ... Will er eine Berufsrolle übernehmen, ist er unsicher. Die große Mehrzahl aller Jugendlichen in der komplexen Gesellschaft hat Berufswahlschwierigkeiten, und viele Berufswünsche basieren auf mangelnder Information (nicht rechtzeitig die Ansprüche aufgegeben!). Zu groß (!) ist das Orientierungsfeld. Die komplexe Gesellschaft ist auch (!) eine sich rasch wandelnde Gesellschaft. ... In die komplex strukturierte und sich rasch wandelnde Gesellschaft muß sich der junge Mensch (= der Jugendliche in der komplexen Gesellschaft) integrieren (na endlich!) ... Solche Brücken in die Gesellschaft sind die Schulen.“

So macht man erst aus den Schwierigkeiten in der Gesellschaft eine Sammlung unüberschaubarer Möglichkeiten, dann Möglichkeiten zu Formen und Rollen, dann aus diesen Möglichkeiten individuelle Schwierigkeiten, sie wahrzunehmen, und daraus zu guter Letzt folgerichtig dankbar anzuerkennende Notwendigkeiten = Möglichkeiten, die individuellen Schwierigkeiten zu erkennen, seine Möglichkeiten/Notwendigkeiten freudig wahrzunehmen.


Denken in größeren Zusammenhängen

Selbstverständlich, daß Politiker und Journalisten im Verein mit öffentlich wirkenden Wissenschaftlern diese Nützlichkeit des Arguments schon längst für die Öffentlichkeit entdeckt haben. Die Aufforderung zum unwissenden Staunen vor der Natur –

„Der Urwald ist ein komplexes System“ –

ist nur die harmlose Seite der steten Vergatterung des Staatsbürgers zur Dimension der Komplexität (für Otto Normalverbraucher meist mit „schwierig“, „vielschichtig“, „vielfältige Zusammenhänge“ benannt) – und das heißt für ihr zur Bescheidenheit, während die Wissenschaft ihr Gerede nur als Auftakt betrachtet – gerade, wo sie sich zu Problemen des Alltags äußert –, klipp und klar zu sagen, worauf es anzukommen hat. Wenn z.B. im „komplexen Marktgeschehen“, bei dem „alles, was auf einem Markt geschieht, irgendeinen anderen Markt berühren wird“, die Löhne steigen, ist für einen Volkswirtschaftler – zumal als Gutachter – immer übersichtlich, daß über die Wirkungen sinkende Gewinne und Investitionen sowie steigende Preise die Arbeiter sich ins eigene, weil der Volkswirtschaft ins Fleisch schneiden. Schließlich hat er sich mit der Einstellung, daß so ziemlich alles (und damit auch nichts für sich) als Bedingung ökonomischen Handelns aufgefaßt werden muß, darauf verpflichtet, im Ernstfall die von Kapital und Staat getroffenen Gegenmaßnahmen als zwangsläufige Wirkungen gewerkschaftlichen Handelns zu begreifen – was sie ja vom Standpunkt der Volkswirtschaft aus auch sind. Wo allerdings unliebsame Standpunkte geltend gemacht werden, eben z.B. bei gewerkschaftlichen Forderungen, da läßt der Hinweis auf die mißachtete Komplexität der Sache, die unverschämte Einseitigkeit des Standpunkts nicht auf sich warten. Dabei bewährt sich tagtäglich der gegenstandsunabhängige Universalismus dieser Widerlegung, die eine allzeit geschliffene geistige Waffe gegen jeden Anspruch und jedes kritische Wort bezüglich des Staats ist, gehe es nun gegen die Renten (ein tiefgreifendes Problem), sonstige soziale Netzmaschen (das Bild zeigt schon, daß es sich hier um einen eng verwobenen Problembereich handelt, bei dem nichts aus dem Gesamtzusammenhang gerissen werden darf), die Steuern (gerade das Problem der Steuergerechtigkeit ist weit komplexer, als es sich der einfache Steuerzahler macht) oder die Wirtschaftspolitik (die ist bekanntlich ein äußerst fein aufeinander abgestimmtes, vielseitiges Instrumentarium zur Steuerung der unzähligen Marktfaktoren, die ohne den äußerst komplizierten Zusammenhang mit dem unübersichtlichen Weltmarkt nicht zu denken sind).

Fast sollte man meinen, der Hinweis von Walter Scheel, angesichts der wachsenden Zusammenhänge (wer kann sich da schon entziehen, wenn alles zuwächst) gelte es wieder an den großen Zusammenhang zu denken, und das sei eine politische Wertfrage, sei überflüssig (vgl. Artikel in dieser MSZ: „Der beste Scheel, den es je gab“). Die Wissenschaft nimmt die Verpflichtung zur unverbrüchlichen politischen Gesinnung doch durch und durch ernst. Aber die war ja mit diesem Hinweis eigentlich auch weniger gemeint; Schwierigkeiten haben (also machen) schließlich vor allem diejenigen, die schon in der Elementarbrücke, die ihnen die Gesellschaft in sich baut, bei Objekten mit niedrigem Komplexitätsgrad nicht mehr mitkommen, daher auch schwer einsehen, daß das große Ganze die ganze Vielfalt ihres Lebens sein sollte, und deshalb lebenslang die vielschichtige Daseinsform des Lohnarbeiters aktualisieren dürfen.

Man sieht: die Wahrheit ist sehr einfach!

Das komplexe System des realen Sozialismus

Gerade dort, wo nach hiesigen Aussagen die Welt nicht mehr komplex, sondern schematisch und einfach grau in grau ist, hat es das Schlagwort »komplex« zu sozialistischen Amt und Würden gebracht. Das Philosophische Wörterbuch der DDR begrüßt im Dienste des Systems rein wissenschaftsdogmatisch und äußerst systematisch die radikale Universalität des Fehlers:

„Komplexität (lat) – Eigenschaft von Systemen, die durch die Anzahl der Elemente des Systems und der zwischen den Elementen bestehenden Relationen bestimmt wird. Je größer die Zahl der Elemente und der zwischen ihnen bestehenden Relationen ist, desto höher ist der Grad der Komplexität eines Systems. Von der Komplexität unterschieden werden muß die Kompliziertheit des Systems, die sich auf die Zahl qualitativ unterschiedlicher Elemente bezieht ... Die Terminie »Komplexität« und »Kompliziertheit« werden heute noch nicht einheitlich benutzt ...“


„eine betont komplexe Arbeitsweise“

Die zwangspolitisierte Wissenschaft drüben macht auch aus dem Ursprung dieses instrumentellen Überblicks, der aus der bunten Welt lauter gleichförmige Rädchen im Dienste der (Staats-)Maschinerie macht, keinen Hehl. Ohne die Legitimationsaufgaben der hiesigen freien pluralistischen Wissenschaft, dafür aber mit dem Optimismus des historischen und dialektischen Materialismus über die Unausweichlichkeit der stetigen Höherentwicklung allen Lebens ausgestattet –

„So ist die Entwicklung der Lebewesen an eine ständige Zunahme der Komplexität gebunden ...“

gewinnt der Begriff einen durch und durch positiven Charakter, weil er nur eine „Dimension“ hat. In einer Welt, wo Lohnarbeit, Markt, Preis, Gewinn und das ganze übrige gesellschaftliche Leben unmittelbar unter staatlicher Regie stehen, ist er das ideale Attribut für den unermüdlichen Umgang des Staates mit seiner Gesellschaft, die er als Material für seinen Gewinn betrachtet und behandelt. Weil er sich aber dabei laufend mit den unliebsamen und unbegriffenen Wirkungen auf sein staatskapitalistisches Gesellschaftslebens konfrontiert sieht, läßt er sich in Gestalt seiner politischen Planer durch sich in Gestalt seiner wissenschaftlichen Planer dazu verpflichten, auf sich in Gestalt der zwangskonkurrierenden Betriebe besser aufzumerken und alles, was ihm von sich selbst in die Quere kommt, entschieden weiterhin gemäß seinen Plänen zu betrachten und anzugehen. Es geht also um nichts anderes als den beständigen Kampf

„für eine höhere Komplexität der sozialistischen Leitung und Planung.“

Weil man als Staat sich selbst nicht kritisiert, hört sich das Ganze nach stetem Fortschritt an, dessen Opfer beiläufig daran erinnert werden, daß es im Sozialismus auch eine Sozialpolitik gibt, und diese auch dort der Wirtschaftspolitik dient. Alles wird unter den einen Hut des Staatsnutzens gebracht durch

„die planmäßig vorausschauende Beherrschung (man kann's nicht deutlich genug sagen!) der Komplexität des Zusammenwirkens der jeweils entscheidenden ... und der Komplexität andererseits, in der sich die untrennbare Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik konkret verwirklicht.“


aus: MSZ 27 – Januar 1979

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