Der „Atom-Staat“ und sein Erfinder:

Reaktionäre Jungkereien

Unser Glückwunsch gilt heute dem Erfinder des „Atom-Staats“. Sein besonderes Verdienst besteht darin, „die Atomfrage zum auslösenden Moment einer Auseinandersetzung“ gemacht zu haben, „die über ihren unmittelbaren Anlaß weit hinaus reicht“. Es ist ihm in einer kühnen Synthese gelungen, die brisanten Bereiche Atom, Terrorismus und Arbeitslosigkeit mit seiner Sorge um den von der Großtechnik bedrohten Rechtsstaat zu verschmelzen. Mit seiner Warnung vor einem „Fortschritt in die Unmenschlichkeit“ und der Propaganda eines Rückschritts in die Menschlichkeit nimmt er einen der vorderen Ränge auf der Bestsellerliste, Abteilung Sachbuch, ein. Warum seine Mischung Erfolg hat, dieser Frage will die MSZ-Redaktion im folgenden auf den Grund gehen.

 

Noch 6 Jahre bis 1984

Wo die Kernkraftwerksgegner die ihnen vom Staat und Kapital bescherten unsicheren KKWs zum Anlaß nehmen, „die Atomfrage“ zu stellen und sie mit „Nein, danke!“ zu beantworten, gibt Jungk „die möglichen politischen Konsequenzen einer Fortsetzung des Baus von Kernkraftwerken“ (I, 246) zu bedenken. Während die linken KKW-Gegner im Bau von unsicheren KKWs den erneuten Beweis dafür erblicken, daß dieser Staat den falschen Leuten nutzt, erklärt Jungk umgekehrt die Maßnahmen des Staates gegen seine Bürger als Kettenreaktion der Kernspaltung, weil diese angeblich ohne eine „zunehmende Erweiterung der Rechtlosigkeit im Rechtsstaat“ (1,196) nicht auskommt. Ein paar unsichere KKWs hält er für eine lächerliche Bedrohung der Menschheit im Vergleich mit dem „Weg in die totale Anpassung“ (I, 246), den jedes neue KKW befördere – „Mit jedem neuen Werk wird mehr Überwachung notwendig.“ (II) – und der insbesondere mit dem Bau von „Schnellen Brütern“ –  wegen deren hohem Plutoniumsgehalt! – beschritten werden müsse. Jungk malt ein 1984 – „Big brother is watching you“ – an die Wand, vor dem sich die bundesrepublikanischen Zustande von 1978 als Idylle ausnehmen:

„Was wir erleben ist, daß der Radikalenerlaß, der bisher nur als Problem im staatlichen Bereich diskutiert (also nicht praktiziert) wird, auf immer mehr Bevölkerungsgruppen ausgedehnt wird.“ (II)

Um die „zunehmende Überwachung der Bürger“ (I, 196) aber nicht dem Rechtsstaat anlasten zu müssen, der die Grenzen seiner Legalität immer weiter steckt, hat Jungk den „Atom-Staat“ erfunden. Mit dieser Ideologie macht er die Spaltung des Atoms für die staatliche Durchsuchung der Intimsphäre seiner Bürger nach staatsgefährdenden Regungen verantwortlich.

„Mit der technischen Nutzbarmachung der Kernspaltung wurde der Sprung in eine ganz neue Dimension der Gewalt gewagt. Zuerst richtete sie sich nur gegen militärische Gegner. Heute gefährdet sie die eigenen Bürger.“ (I, IX)

Solange die Amis bloß Hunderttausende von Japanern mit der Atombombe vernichtet haben, war die Welt noch in Ordnung. In Unordnung ist sie erst dadurch geraten, daß der arme Staat „zum Schutz seiner Bürger“ von der mächtigen Kernspaltung zum „Überschreiten verfassungsgemäß gesetzter Grenzen“ (I, 196) gezwungen wurde:

„Die Gefährlichkeit der neuen Anlagen zwingt Behörden und Industrie zu einem bisher unbekannten Grad von Absicherung. Schon bis jetzt wurden Grundrechte angetastet und bürgerliche Freiheiten mißachtet.“ (I, 246)

Wenn der Verfassungsschutz einen Lauschangriff auf Traube startet, Geheimdienste „Sicherheitsrisiken“ in KKWs um die Ecke bringen, Polizisten friedliche Anti-KKW-Demonstranten verhaften und Psychiater deren passiven Widerstand mit Elektroschocks zu brechen suchen – und derlei Schilderungen machen den Großteil des Buches aus –, dann verarbeitet ein Robert Jungk all dies zu einer „Entwicklung vom Rechtsstaat zum totalitären Atomstaat“(I,196). Solange die Verfassungsschützer und Geheimdienstler wirkliche Staatsfeinde bespitzeln, Polizisten Verbrecher gezielt totschießen dürfen und Psychiater Verrückte mit Medikamenten und Ideologie statt mit Elektroschocks behandeln, herrscht der Rechtsstaat. Erst wenn all diese Institutionen treue, in ihrer Sorge um die Sicherheit des Staates aufgehende Staatsbürger behelligen, gewinnt die Staatsgewalt „eine ganz neue Dimension“.

Jungks „Warnung vor einem Atom-Staat“ erinnert den Rechtsstaat also daran, daß er sich selbst gefährde, indem er durch „eine bis ins kleinste Detail ausgearbeitete Menschenkontrolle und -führung“ (II) „den schöpferischen, sich stets nach Freiheit und Mitbestimmung sehnenden Menschen“ (I, 71) kneble. Dabei ist es ihm selbstverständlich, daß der Fortschritt seinen Preis hat. Nur einen Preis, den der Fortschritt dieser verrückten Science-Fiction-Kassandra zufolge der Demokratie abverlange, will Jungk um keinen Preis zahlen: der demokratische Mensch darf nicht zum „homo atomicus“ werden. Der Staat möge doch bitte um seinetwillen dem „Risikofaktor Mensch“ die großartigen demokratischen Freiheiten dadurch erhalten, daß er auf Kernkraftwerke verzichtet. Jungk gibt dem Staat zu bedenken, daß er seine Gewalt gefälligst so einsetzen soll, daß seine Bürger erst gar nicht zum Risiko für ihn werden. Und diese Aufgabe erfüllt er nicht, wenn auf jeden millionsten Bürger ein Plutoniumstab kommt. Im Gegenteil! Er schafft sich hiermit die Bürger als „soziales Risiko“, welches die Sicherheitsanalytiker und Risikoforscher ignorieren.

„Sie unterschätzen ... die Explosionen sozialer Natur (!), die als Nebenergebnis ihrer Bemühungen fast unvermeidlich erscheinen. Die inzwischen recht zahlreichen Studien über den GAU (größter annehmbarer Unfall) lassen außer Acht, daß sich ein GAGU (größter annehmbarer gesellschaftlicher Unfall) vorbereitet, den der Druck des Atomstaates nicht verhindert, sondern täglich fördert.“ (I, 200)

Je weniger demokratisch der Staat zuschlägt, desto schwächer wird er. Denn:

„Die Vision der perfekten inneren Sicherheit ist ein pures Wunschbild.“
„Der »harte Weg« der Tyrannen hat noch stets ins Unglück geführt.“ (I, XII)

Mit derlei politologischen Weisheiten untermauert dieser pazifistische Dämon sein Plädoyer für den status quo, in dem die „atomstaatliche Überwachung“ (I, 118) noch nicht zur Regel geworden ist. Und weil ihm bei der Technik immer nur der „Risikofaktor Mensch“ einfällt, unterschiebt er den Machern von der SPD, die doch eigentlich den GAGU verhindern sollten, alles andere als ökonomische Motive für den Bau von unsicheren KKWs. Auch sie sind „Risikofaktoren“:

„Man muß die Frage stellen, ob die Entscheidung der Machteliten in den Industriestaaten für die Kernenergie nicht sogar vorwiegend von der Erwartung mitbestimmt wird, daß sie damit die materiellen Grundlagen für die Berechtigung der »harten Politik«, des »harten Weges« und für den »harten Regierungsstil« schaffen (als ob der Staat Vorwände bräuchte!): Wer da nicht »mitzieht«, ist schlechthin »subversiv«.“ (I, XVI)


Alpträume ...

Doch nicht genug mit solchem Lamento. Die „neue Tyrannei“ schafft sich nicht nur in ihren freiheitsliebenden Bürgern ein „soziales Risiko“, die „Schnellen Brüter“ eröffnen den Feinden der Demokratie umgeahnte Möglichkeiten, womit alle Maßnahmen, die der Staat zur Abwehr dieser Feinde trifft, von vorneherein durch die Selbständigkeit des Gestells, vor der schon Heidegger unkte, entschuldigt sind.

„Das schrecklichste dieser Risiken ist der Alptraum Atomterrorismus. Denn (!) die zu erwartende gewaltige Zunahme des Spaltstoffs Plutonium vergrössert auch die Möglichkeit, daß dieses Material in die falschen Hände gerät.“ (I, 246)

Ein schlagendes Argument. Je mehr Plutonium, desto mehr Atomterror. Dieser Logik zufolge müßte man von Pistolen über schnelle Autos bis zu den großen „anonymen“ Wohnblöcken alles abschaffen, was nicht nur ein Terrorist so für seine Zwecke gebrauchen kann. Aber so ernst ist dieser Vorschlag ja gar nicht gemeint, obwohl Jungk auch in dieser Hinsicht etwas parat hat:

„Zur Zeit werden in den USA monatlich erst zwanzig Herzschrittmacher hergestellt, die mit Plutonium 238 angetrieben werden. Morgen könnten es Tausende und Zehntausende sein. Denn anders als bei batteriegetriebenen Modellen, die sich nach einiger Zeit erschöpfen, dürfen Träger einer PU-Schrittmachers auf die lebenslange Leistung ihres Herzhelfers rechnen und müssen sich deshalb nicht alle paar Jahre zur Erneuerung einem operativen Eingriff unterziehen.
Trotz solcher Vorteile wird vermutlich jedoch die Herstellung des mit Plutonium betriebenen Herzschrittmachers bald untersagt werden: spätestens seit Kriegers Veröffentlichung gilt er als besonders »terrorgefährdet«. Und man darf wohl annehmen, daß die Betroffenen eine solche Maßnahme als im Interesse der Sicherheit verständlich und notwendig akzeptieren werden.“ (1,171)

Dem Staat sollen mit diesen verrückten Schauergeschichten, deren schlimmste Variante Jungk im Tod der gesamten, jetzt wieder heißgeliebten bundesrepublikanischen Führungsmannschaft gegeben sieht –

„Der Bundestagspräsident spricht die üblichen Eröffnungsworte und erteilt dem Bundeskanzler das Wort. Dieser streicht die Haare aus der Stirn, rückt seine Brille zurecht und setzt gerade zur Begrüßung an, als eine laute Detonation ihm das Wort abschneidet. In Bruchteilen von Sekunden stürzen die Mauern ein und begraben alle Anwesenden unter sich ...“ (1,158) (Wenn das keine Anstiftung zu „klammheimlicher Freude“ ist... !)

die Gefahren vor Augen geführt werden, die die Atomkraft in Verbindung mit einem unzuverlässigen „Faktor Mensch“ mit sich bringt.

„Besonders erschreckend ist die Einsicht, daß Gangster, Putschisten oder Terroristen mit einer solchen Waffe, wenn sie einmal in ihre Hände geriete, vermutlich viel skrupelloser umgehen würden als Staatsmänner und Generalstäbler.“ (I, XI)


... und Wunschbilder

Aus Sorge um ihre eigene Sicherheit sollen die Politiker auf mehr KKWs verzichten. Als leuchtendes Vorbild präsentiert Jungk den amerikanischen Präsidenten Carter, dessen vorläufiger Verzicht auf die Entwicklung der „Schnellen Brüter“ und die Errichtung bzw. den Export von Wiederaufbereitungsanlagen er sich aus Jimmys Liebe zur Demokratie und zum Frieden erklärt, wo doch jeder außer Jungk weiß, welchem ökonomischen und politischen Kalkül sich diese Maßnahmen verdanken: 1. sind die „Schnellen Brüter“, bei denen man mit weniger Uran mehr spaltbares Material produzieren kann, teurer als die traditionellen KKWs, 2. haben die Amis genug Uran, und 3. wollen die Amis sich ihre atomare Vormachtstellung nicht abkaufen lassen.

Fragt sich nur, warum sich Schmidt & Co. für ihre eigene Sicherheit bislang nicht so sorgen, wie Jungk es gerne hätte. Auch diese Frage hat er schon beantwortet: die Öffentlichkeit hat ihnen die Gefahren ihrer Politik für ihre eigene Sicherheit noch nicht deutlich genug unter die Nase gerieben.


„Der sanfte Weg“

Wenn außer Terroristen und Gangstern niemand ein Interesse an Kernkraftwerken haben kann, so stellt sich die Frage, warum der Staat eigentlich diese Teufelsdinger baut. Es sind natürlich die Bürger, die in ihrer Mehrheit stur an der „Wachstumsideologie“ festhalten, der Gefahr also nicht ins Auge sehen wollen. Der Teufelskreis, den sich Jungk zurechtgelogen hat, heißt: die nimmersatten Bürger, die aus diesem Grund den Staat zur Entwicklung der Technik getrieben haben, provozieren den „Atom-Staat“, der beim besten Willen nicht mehr auf die sanfte Tour kann. Darauf befragt, wie Jungk sich die Auflösung vorstelle, hat er für sämtliche „Schichten der Bevölkerung“ sein Programm:


Arbeiter verzichten auf Lohn

„Ich würde sagen, die Arbeiter sind einfach nicht genügend informiert. Die Arbeiter denken – was ich verstehen“ (aber nicht billigen) „kann – an ihre Arbeitsplätze, an die zum Teil recht hohen Löhne, die in vielen Fällen überdurchschnittlich (!) sind. Aber sie vergessen die Folgen ihrer (!) Arbeit.“ (II)

Die verrückte Logik ist konsequent: Weil die Arbeiter die Unverschämtheit besitzen, immer höhere Löhne zu fordern und einen sicheren Arbeitsplatz zu wollen, sind folglich die armen Kapitalisten gezwungen, die Entwicklung der Technik ohne Rücksicht auf Verluste voranzutreiben. Auf diese Unverschämtheit kann auch nur ein Intellektueller kommen, der seine Brötchen auf lukrativere Art und Weise zusammenschmiert. Derselbe scheut sich natürlich nicht, den Arbeitern Kurzsichtigkeit vorzuwerfen.

„Wenn die Arbeiter einsehen würden, daß sie durch ihre (!) Produktion den nuklearen Atomkrieg in der ganzen Welt befördern, dann würden sie vielleicht zu einer Abwägung zwischen Strom und Arbeitsplätzen auf der einen und wachsender atomarer Kriegsgefahr auf der anderen Seite kommen.“ (II)

Die Kalkulation des Kapitals, daß Atomenergie billiger ist als weiße Mäuse oder Arbeiter im Schwungrad, lügt Jungk um in eine kurzsichtige Fehlkalkulation der Arbeiter. Statt einzusehen, daß sie am kommenden Atomkrieg schuld sein werden, weil sie „ihre Produktion“ nicht ändern, beharren diese Idioten auf Löhnen, die es erlauben, sich schlecht und recht durchzubringen. Statt von Luft, Liebe und Freiheit zu leben, huldigen sie einem schnöden Materialismus, der in die liebloseste Diktatur führt.


Kapitalisten verzichten auf Großtechnik

Würden die Arbeiter ihre Einstellung ändern, dann könnten die Kapitalisten abgehen von dem unheilvollen Weg der Großtechnik. Daß die letzteren in ihrer großen Mehrheit eigentlich nur das Beste wollen, dafür hat Jungk einen Beweis, den er von der DKP geklaut hat:

„Diese Großtechnik wurde aus Profitgründen eingeführt. Es läßt sich durch solche Rationalisierungsmaßnahmen mehr Geld herausholen. Dieser Trend richtet sich auch gegen die Klein- und Mittelbetriebe und führt der Protestbewegung neue Kreise zu, die durch diese Entwicklung ebenfalls gefährdet werden.“ (II)

Von dem großen Umstand, daß den Kleinbetrieben nur das nötige Geld fehlt, um die profitträchtigen Rationalisierungen durchzuführen, sieht Jungk einfach ab und bucht den Ärger, den Kleinkapitalisten so haben, umstandlos auf das Konto seiner Protestbewegung (bekanntlich auch so ein „Risikofaktor“). Und wie diese über den Ärger in einer „sanften“ kapitalistischen Zukunft hinwegkommnen, dafür hat Jungk ebenfalls ein Programm.

„Durch die Abschaffung der Großzentralen ... könnte die Zahl der Arbeitsplätze bei gleichzeitigem Abbau der Nationalisierung vervielfältigt werden. Kleine und mittlere Betriebe erhielten dann endlich wieder eine Chance gegenüber den Großkonzernen; es wäre möglich, das Lebensniveau der entwickelten und weniger entwickelten Länder einander anzunähern und vor allem den Bürgern in überschaubaren wirtschaftlichen und politischen Einrichtungen mehr Mitsprache zu sichern. All das könnte nur gegen die Interessen einiger mächtiger Institutionen geschehen.“ (I, XHIf.)

Nach der Verjagung des bösen Großen floriert das kleine Geschäft, und da die Kleinen Gott sei Dank nicht genug Geld haben für die Großtechnik, ist Handarbeit wieder Trumpf. Jungks Lösung des Problems der Arbeitslosigkeit besteht für die Arbeitslosen in dem simplen Vorschlag, daß alle wieder ohne die technischen Mittel arbeiten dürfen, was natürlich einschließt, daß sie billiger als die Maschinen sind. Weil nach Jungk die Technik und nicht ihre kapitalistische Anwendung an allem schuld ist, muß sie gründlich ausgemerzt werden, und dafür kann der Arbeitsmann auf den schnöden Mammon doch wohl verzichten. Für die weltweite Handarbeit zu Preisen, die Kleinkapitalisten erst gar nicht an die Einführung von Maschinen denken lassen! Dann gibt es natürlich auch keine Entwicklungsländer mehr.

Damit hat Jungk drei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. „Gerechtigkeit“ heißt also für ihn: für einen kleinkarierten Kapitalismus, in dem es den Arbeitern auf der ganzen Welt gleichermassen dreckig geht.

Nur durch Verzicht kommen die Arbeiter nämlich von dem Ruch los, an der „Großtechnik“ und damit an der Arbeitslosigkeit und am drohenden Atomkrieg schuld zu sein. Die Kleinkapitalisten müssen dagegen gefördert werden, weil sie klein und damit eh unschuldig sind.


Naturwissenschaftler verzichten auf Wissenschaft

Fehlen nur noch die Naturwissenschaften, die Erfinder der „menschenfeindlichen Technik“. Auch hier gibt es natürlich die Guten und die Schlechten.

„Wer den Ungeheuerlichkeiten, die der Eintritt in die Plutonium-Zukunft mit sich bringen muß, nur mit kühlem Verstand, ohne Mitgefühl, Furcht und Erregung begegnet, wirkt an ihrer Verharmlosung mit. Es gibt Situationen, in denen die Kraft der Gefühle mithelfen muß, einer Entwicklung zu steuern und das zu verhindern, was nüchterne, aber falsche Berechnung in Gang gesetzt hat.“ (I, XI)

Falsch sind die Berechnungen für Jungk deshalb, weil nicht das rauskommt, was er will: „Baustopp für die »Schnellen Brüter«“. Der Angriff auf die Naturwissenschaftler besteht also nicht darin, daß sie dem Staat dabei behilflich sind, unsichere KKWs zu bauen, obwohl sie genau wissen, wie sie sicher zu bauen wären, sondern darin, daß sich diese Bösen „nüchtern“ damit befassen. Dieser blödsinnige Angriff steht dem Naturwissenschaftler Jungk gut an. Mit „Gefühl und Erregung“ zur wahren Wissenschaft, die nur auf eines hinauslaufen darf: den Beweis, daß die Erforschung des Atoms nur schädlich für Staat und Demokratie sein kann. Zu diesem Zweck zitiert Jungk seitenlang die »guten« Naturwissenschaftler, die teilweise seinen Gefühlsausbruch schon mitmachen und deshalb ihren Job verlieren; dem anderen Teil, den „Eingeschüchterten“, will er mit seinem „Unterstützungsfonds für dissidente Wissenschaftler“ auf die Sprünge helfen. Als Kontrastprogramm kommt die Schilderung der „Spieler“ genannten Bösen natürlich nicht zu kurz.

Als Fan von Staat und Kapital will Jungk nicht darauf kommen, daß es an diesen beiden liegt, wenn die „Großtechnik“ unmenschliche Auswirkungen hat. Nein! Die Naturwissenschaft, mit der es die Menschheit dazu gebracht hat, daß sie (bis auf wenige, ewig Gestrige) das Licht nicht mehr mit dem Hammer ausmacht, ist schuld –

„Zur Debatte steht nicht nur die künftige Form der Energieversorgung, sondern auch die der Herrschaft. Der Konflikt geht nicht nur um eine bestimmte Technik, sondern um alle Erscheinungsformen und Machteinflüsse der großindustriellen Technologie. Dahinter steht jedoch die umfassendere Frage, ob die bisherige auf Unterwerfung und Ausbeutung zielende Richtung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts für den Menschen noch länger taugen kann.“ (I, 202) (Für eine Naturwissenschaft, die dem Menschen nichts nützt!) –

und deswegen gehört sie abgeschafft, was ein wesentlicher Programmpunkt der Jungkschen Internationale ist.


Eine neue Internationale

„Aus diesem Unbehagen entstand innerhalb weniger Jahre eine weltweite Massenbewegung, eine neue Internationale, die keiner der bisherigen Internationalen gleicht. Ihre Anhänger rekrutieren sich aus den verschiedensten Weltanschauungen, Schichten und Nationen. Sie kommen ohne zentrale Führung, ohne formelle Programme, ja sogar weitgehend ohne feste organisatorische Strukturen aus. Nicht der monolithische Block symbolisiert ihren Zusammenhalt, sondern der Strom, der viele Quellen in sich aufnimmt und Hindernisse umfließt, aufwäscht, überflutet.“ (I, 202)

Das Programm dieser Internationale ist der Irrationalismus, ihre Praxis entspringt der gegenaufklärerischen Furcht vor den Resultaten der Wissenschaft und ihre Agitation bedient sich sämtlicher reaktionären Kritiken am Kapitalismus, die von der Kulturkritik ausgebrütet worden sind.

Die Zukunftsvision des „sanften Weges“ & la Jungk ist denn auch die dämliche Vorstellung eines Idealdemokraten, der sämtliche Sauereien, die Staat und Kapital sich tagaus, tagein leisten, dadurch kurieren will, daß er die Menschheit in den Zustand freier Schweizer Bergbauern im 18. Jahrhundert zurückwünscht.

„Da ist vor allem das neue Bekenntnis zu einem bescheidenen Leben. Es ist gewachsen aus der Erkenntnis, daß die materiellen Grundlagen der Menschheit begrenzt sind und die bisherige Verschwendungswirtschaft einem Ende zugehen muß. Nicht eine Zukunft unbegrenzten Reichtums steht uns bevor, sondern eine der Verknappungen. Die »Frugalen«, die es rechtzeitig lernen, auf überflüssiges zu verzichten, werden ... zwar heute noch belächelt, spätestens um die Jahrtausendwende aber Vorbilder sein.“ (I, 206)

Nun ist die Verknappungstheorie so alt wie der Kapitalismus selbst. In einer Produktionsweise, deren ins Auge springendes Resultat die Ansammlung von Reichtum ist, dient sie der bürgerlichen Nationalökonomie zur Propaganda des Verzichts, den sich der arbeitende Teil der Bevölkerung antun soll, damit sich der Reichtum beim nicht von eigener Arbeit lebenden Teil umso kräftiger mehrt. Der Staat soll dabei als gewalttätiger Beschränker auftreten, der die angeblich knappen Ressourcen so aufteilt, daß das Kapital möglichst billig genug davon hat, um durch sein Wachstum den nationalen Reichtum zu befördern. Jungk hingegen bringt seine „Kritik“ der Technik zur Sorge um den politischen Zustand des Gemeinwesens. Er propagiert den Verzicht nicht für die Akkumulation des Kapitals, sondern als Basis einer neuen Verzichtsgesellschaft, deren Produktionsweise er der mittelalterlichen Manufaktur entnommen hat:

„Neue selbständige und selbstverwaltete kooperative Formen der Erzeugung, die auf forciertes Wachstum und Profit verzichten, entstehen an vielen Orten, besonders dort, wo das versagende alte Wirtschaftssystem Arbeitslosigkeit bewirkt.“ (I, 211)

Die kritische Stellung Jungks zum Kapitalismus, die den Erfolg seines Buches in der Sponti- und Anti-AKW-Szene ausmacht, ist also schlankweg reaktionär. Daß das Buch aber zum Bestseller, also auch beim großen Publikum der Leser von „Spiegel“ und „Zeit“ zum Renner wurde, liegt an der allgemeinen Mode, die momentane Krise der Kapitalakkumulation als „Wachstumskrise“, als „Grenzen der Technik“ verharmlosen. In dieses allgemeine kulturpessimistische Lamentieren reiht sich hier einer ein, der sich als Insider der Atom-Szene einen Namen gemacht hat. Klar ist allerdings, daß Staat und Kapital sich von den Horrorgemälden Jungks nicht vom Bau neuer Atommeiler abhalten lassen werden. Jungk, ihnen für die politische Absicherung des Kernprogramms durch den staatlichen Gewaltapparat eine weitere Ideologie liefernd, bleibt frustriert in der Ecke derer stehen, die aus den negativen Folgen, die der Fortschritt des Kapitals mit sich bringt, einen Angriff gegen den Fortschritt starten. Der Witz ist, daß sich weder der eine, noch der andere um solche Spinner kümmern muß.

 

Nachweis der Zitate:

I. R. Jungk, Der Atom-Staat. Vom Fortschritt in die Unmenschlichkeit» München 1977
II: P. Schneider sprach mit Prof. R. Jungk, in: „Zitty-Illustrierte Stadtzeitung“, Westberlin, 1/1978

 

Hinweis:

über Ausgangspunkt und Gegenstand der Anti- AKW-Bewegung findet sich alles Wissenswerte in MSZ Nr. 16/1977 unter dem Titel „Freisetzung von Staatsenergie.“

 

aus: MSZ 24 – Juli 1978

zurück zur Startseite