ZUR LAGE IN INDIEN

Die gängige Erklärung der indischen Misere, mit der sich der gebildete Abendländer selbstzufrieden begnügt, besteht darin, über den hartnäckigen Aberglauben von Leuten zu spotten, die selbst so profanes Viehzeug wie Kühe als heilig verehren, das Verhaftetsein in archaische Formen des Gemeinwesens als Kuriosum zu bestaunen und die Gewalttätigkeit in den politischen Auseinandersetzungen in Indien der mangelnden Reife seiner Menschen für die Demokratie zuzuschreiben. Die Schuld am Elend der Inder wird so diesen selbst zugeschanzt und die Unterwerfung des alten Hindustan unter den Imperialismus erscheint einem solchen Bewußtsein noch als zivilisatorische Mission Englands, deren erfolgreichen Abschluß die indische Unabhängigkeit verhindert habe. Dagegen zeigt der Putsch Indiras, daß die Lage in Indien immer noch ein Produkt seiner Einbeziehung in das imperialistische System, seine Geschichte die der Nutzbarmachung der altindischen Produktionsweise samt der dazugehörigen Religion für den Imperialismus ist.

Die Kolonialisierung Indiens durch den britischen Imperialismus vollzog die Zerstörung der ursprünglich autarken Subsistenzwirtschaft der indischen Dorfgemeinschaft. Die Kolonialmacht importierte aus Indien Baumwolle und ruinierte die einheimische Stoffproduktion durch die Erzeugnisse der englischen Industrie. Gleichzeitig beuteten englische Kapitalisten die indische Arbeitskraft durch die Ansiedlung von Baumwollmanufakturen in Indien selbst aus. Die Kolonialadministration stützte sich auf das überkommene Herrschaftssystem der Maharadschas und ihrer Steuerpächter und gestaltete die infrastrukturelle Erschließung des Subkontinents gänzlich nach den Bedürfnissen seiner imperialistischen Exploitation. Die altindische Produktionsweise verlor so ihre ökonomische Autarkie, ohne daß die ihr zugehörige gesellschaftliche Organisation verändert wurde. Die aus den Dörfern freigesetzte Masse der Pauper bildete in den Städten ein riesiges Lumpenproletariat bzw. eine gewaltige Reservearmee für die vom Imperialismus abhängige Industrie.

Die mit der Erschließung günstigerer Baumwollquellen vollendete Pauperisierung Indiens war es schließlich – und nicht die indische Unabhängigkeitsbewegung – die Großbritannien dazu bewog, das Land in die „Unabhängigkeit“ zu entlassen. Die Unabhängigkeitsbewegung selbst wurde ausschließlich von der nationalen Bourgeoisie, den höheren Beamten der Kolonialadministration und dem kapitalistischen Großgrundbesitz getragen. Nur sie konnten an einem Machtwechsel interessiert sein, der für die Massen der Land- und Stadtbevölkerung ohne Bedeutung war. (Deren Apathie schlug erst in Militanz um, als die Teilung des englischen Indien dem „Unabhängigkeitskampf“ die Ideologie eines Glaubenskriegs verlieh.) Aus der Gegnerschaft der Kongresspartei zur Feudalklasse, insbesondere der Maharadschas (ein funktionierender Nationalstaat bedeutete für die Fürsten das Ende ihrer Macht und die Gefahr der Enteignung ihrer Besitztümer, welch letztere ihnen die Kolonialmacht dafür garantierte, daß sie für England die Macht ausübten), erklärt sich die Übernahme der demokratischen Ideologie durch die indische Staatsmacht. Wahlen waren lediglich das Mittel, den Widerstand der Maharadschas zu brechen.
Das indische Staatsgebilde entstand also ausschließlich im Interesse derjenigen, die von der Armut der Mehrheit ihren Reichtum beziehen. Mit Demokratie hat die indische „größte Demokratie der Welt“ nichts zu tun. Den demokratischen Idealen Individualität, Leistung, Gleichheit, Brüderlichkeit fehlt jegliche Grundlage in einem Staat, dessen Ökonomie noch weitgehend auf persönlichen Abhängigkeitsverhältnissen und nicht auf der freien Lohnarbeit beruht. Die Verkehrsformen der indischen Demokratie zeigen dies ebenso kraß wie ihre Beseitigung in dem Augenblick, als die Institution der Wahlen nicht mehr im Interesse der Kongreßpartei gesteuert werden konnte.

Daß die besitzlosen Klassen einen solchen Staat widerspruchslos akzeptierten, wie sie auch schon vor der Kolonialherrschaft alle Formen des Despotismus über sich ergehen ließen, ist der Religion des Hinduismus geschuldet, die zwar mit der Ökonomie der altindischen Gesellschaft entstand, nichtsdestoweniger aber auch heute noch existiert: das Ideal des Hindu, die Passivität, das Erdulden, führt zur Anerkennung der Ungleichheit der Individuen als Schicksal (Kastenwesen). Es ist dies die Religion einer Produktionsweise, die auf der unveränderlichen Aufteilung der Funktionen beruht, mit der die alte Dorfgemeinschaft allen (Produzenten und Nichtproduzenten) ihre Subsistenz gewährleistete. Mit der Zerstörung der Ökonomie des Dorfes wurde aus der Solidargemeinschaft des relativen Reichtums die Solidarität des Elends, die aber immer noch eher das nackte Überleben garantiert als das Los der aus der Kastengemeinschaft herausgerissenen Pauper in den Slums der Millionenstädte.

Gerade in der Figur Gandhis wird der Klassencharakter der indischen Staatsideologie deutlich. Indem man ihn als Staatsmann zum Symbol der Gewaltlosigkeit verklärt, wird so getan, als sei der indische Staat gar keiner (keine Gewalt gegen die Bürger) und als gäbe es keinen Gegensatz zwischen der Staatsgewalt und dem Volk, das die Staatsmaßnahmen nicht als Gewalt gegen sich empfindet. Klar, daß Gandhis Mythos seinen Tod voraussetzt: als aktiver Politiker im Besitz der Staatsmacht hätte er ebenso (gewalt-) tätig werden müssen, wie es seine Nachfolger im Interesse der herrschenden Klassen geworden sind.


Indien nach dem Putsch

In der Nacht zum 26. Juni dieses Jahres verhafteten Angehörige der indischen Geheimpolizei RAW und des paramilitärischen Kampfverbandes der Border Securitiy Police insgesamt 6375 Politiker, die auf irgendeine Weise das Mißfallen der Premierministerin erregt hatten. Die Liste der Arretierten umfaßte nicht nur die führenden Köpfe der größten Oppositionsparteien Jana-Sangh und Communist Party of India (Marxist), sondern auch prominente Mitglieder des linken Flügels der Kongreßpartei, wie den Fraktionsvorsitzenden im Unterhaus, der Lok Shaba. Bis zum 24. August sind insgesamt 116 000 Gegner Indiras in die Gefängnisse eingeliefert worden, aus denen – um Platz zu schaffen – eine größere Zahl der üblichen Insassen entlassen werden mußte. Äußerer Anlaß für Indiras Putsch war das Gerichtsurteil von Allahbad, das der Premierministerin das Parlamentsmandat aberkannt hatte und sie für 6 Jahre von der Bekleidung politischer Ämter ausschloß. Spätestens seit den Lok-Shaba-Beschlüssen vom Juli, in denen die Gesetze rückwirkend geändert wurden, auf deren Grundlage man Indira verurteilt hatte, ist jedoch offensichtlich, daß weder indische Richter noch die von Indira beschworene Gefahr „subversiver Elemente“ den Putsch der Lady provoziert hatten: während für letztere These die Regierung bislang jeden Beweis schuldig geblieben ist, hat eine Regierungschefin, die sich auf eine verfassungsändernde Mehrheit in beiden Häusern des Parlaments stützen kann, kein Gesetz zu fürchten, geschweige denn die Richter des Obersten Gerichtshofs, bei denen es sich um von ihr selbst eingesetzte Kreaturen handelt. Die Angst Indiras um die Macht verursachte nicht der Richterspruch vom 12. Juni, sondern die am gleichen Tag bekanntgewordenen Wahlergebnisse aus dem Bundesstaat Gujarat, die allgemein als Test für die Allindischen Wahlen 1976 gewertet wurden: der Indira-Kongreß hatte die Hälfte seiner Mandate verloren und fand sich in der Opposition wieder.

Der gewaltige Wahlsieg Indiras von 1971, den sie mit einem sozialreformerischen Programm unter der Parole „Garibi hatao“ (= weg mit der Armut) errungen hatte, ist mittlerweile nur noch ein Stück politischer Statistik angesichts einer fortschreitenden Erosion der Kongreßmacht, die sich schon vorher im Bundesstaat Tamilnadu (Madras) beim Erdrutsch zugunsten der autonomistischen Tamilenpartei DMK gezeigt hatte. Die allgemeine Unzufriedenheit mit dem Kongreß umfaßte erstmals nicht nur die traditionell „aufmüpfigen“ Bundesstaaten West-Bengalen (Kalkutta) und Kerala, in denen die Zentralregierung mehrmals Volksfrontregierungen unter Führung der CPI (M) unter Presidential Rule (Direktverwaltung Delhis) stellen mußte, um einschneidende Maßnahmen gegen die Herrschaft der Kongreßinteressenkoalition zu verhindern: die Opposition gegen das „neue Syndikat“ ergriff breite Kreise der Mittel- und Kleinbourgeoisie, sowie der Mittelbauern, die sich zu Wahlbündnissen nicht nur in Tamilnadu und Gujarat, sondern auch in Assam, Radjastan und dem Punjab formierten. Rechts vom Kongreß zeichnete sich in Maharaschtra (Bombay) ein Sieg der rassistischen Shiv Sena ab, und in New Delhi selbst sah sich der Kongreß durch die radikale Hindupartei Jana Sangh bedrängt.

Übereinstimmend prophezeiten indische Beobachter ein Debakel der Indira-Partei bei den Lok-Shaba-Wahlen und ein Chaos im neuen Parlament, in dem weder der Kongreß noch die Rechten und Autonomisten, geschweige denn die Volksfrontbündnisse über eine regierungsfähige Mehrheit verfügen würden. Ein Zerfall der indischen Union oder Schlimmeres – Bürgerkrieg – schien zu drohen.


Durch den Ausnahmezustand zur Normalität

Der Zynismus Indiras, die den Verhältnissen, denen sie selbst ihre Macht bis zum 26. Juni 1975 verdankte, jetzt die Anormalität bescheinigte, wird nur noch durch hiesige Kommentatoren übertroffen, die bei der Trauer um die „demokratischen Verhältnisse“ in Indien unter der vorhergehenden 26jährigen Kongreßherrschaft über Leichen geflissentlich hinwegsehen: Indira habe „des Vaters Erbe“ zerstört, „die größte Demokratie der Erde“, die der Papa noch „mit zarten, manchmal zögernden Händen gelenkt hat“, so jammert Immanuel Birnbaum in der „Süddeutschen Zeitung“. Damit gehe verloren, „was dem kritischen Beobachter aus dem Westen bisher zu einem guten Teil recht ehrenvoller Art zu sein schien“, daß nämlich Indien „langsamer aus Armut und Not aufstieg als sein asiatischer Widerpart China.“ Ist es doch in Maos Reich „eine kommunistische Diktatur, die das Volk zur Arbeit treibt und zu Konsumverzicht (!) zwingt.“ Die knappe Million Hungertote pro Jahr, die Indien sich leistet, werden so als faux frais demokratischer Verkehrsformen, sozusagen als Preis der Freiheit und der Abwesenheit von erzwungenem Konsumverzicht abgeschrieben. Ob der Verbitterung über die Niederlage der Demokratie in Asien fiel unter den Tisch, wie diese in Indien funktionierte: Korruption, Wahlbetrug bzw. Wählerbestechung, exzessive Handhabung der Notstandsgesetzgebung, Abschlachtung politischer Gegner durch Polizei und bezahlte Banditen waren die unentbehrlichen Requisiten, die beim ,,grandiosen Schauspiel des Urnengangs der 400 Millionen“ (Birnbaum) fürs richtige Ergebnis sorgten, den Sieg der Kongreßpartei. Die Kongreßherrschaft war nichts anderes als die demokratisch legitimierte Form der Durchsetzung der Interessen der Gruppen, die sich in der Regierungspartei zusammengefunden hatten, um ihren Vorteil als das Wohl der Nation durchzusetzen. Kapital, Grundbesitz, höhere Beamte, freie Berufe bildeten eine Interessenkoalition, die als Regierungsautorität gegen alle Widerstände sowie gegen den latenten Separatismus in einzelnen Bundesstaaten als legitime Zentralgewalt auftreten konnte.

Wenn Indira dagegen den Ausnahmezustand als Weg zu normalen Zuständen feiert, trifft sie die Wirklichkeit Indiens mehr als ihre demokratischen Kritiker im Westen: an die Stelle des demokratischen Procedere ist jetzt die Diktatur der herrschenden Klassen getreten. Der demokratische Überbau ist durch den offenen Terror der Staatsgewalt ersetzt worden, die das Ziel aller ihrer Maßnahmen jetzt öffentlich verkünden .kann: Stärkung des Staats gegen jede Opposition, legitimiert nicht mehr durch Wahlen, sondern durch den Willen der Führerin – oder, wie es die Kongreßpropaganda den Massen eintrichtert: Indira ist Indien!


Maßnahmen der Notstandsregierung

Die seit dem Putsch von der Notstandsregierung eingeleiteten Maß nahmen, vor allem das Anti-Korruptionsprogramm und das 20-Punkte Programm zur Sanierung der Volkswirtschaft, haben alle die Stärkung der Staatsmacht gegen divergierende Tendenzen zum Ziel. Da die Staatsmacht sich aber auf die Kongreßpartei stützt diese selbst wieder eine Interessenkoalition darstellt, die durchaus nicht am gleichen Strang zieht, stoßen alle Reformmaßnahmen Indiras hier entweder auf Schranken oder sie provozieren eine Schmälerung der Machtbasis des Regimes. Schon einmal hatte ein Programm Indiras zur Stärkung der Zentralregierung den Kongreß geschwächt: das „alte Syndikat“ der halbfeudalen Landlords, Aristokraten und Wucherer spaltete sich vom Indira-Kongreß ab (1969). Die Verhaftungswelle nach dem Putsch, die auch vor prominenten Kongreßpolitikern nicht Halt machte, demonstrierte, daß Indira bereits vorbeugend auf innerparteiliche Opposition reagiert, in dem sie diese ihrer führenden Köpfe beraubt.


Mehr Macht für Delhi

Der eigentliche Anlaß des Putsches, die Wahlniederlage des Kongreß in Gujarat, als vorläufiger Höhepunkt der Machterosion der Zentralgewalt, verweist auf die fortwährende Gefahr, die der indische Föderalismus für die Kongreßregierung darstellt. Der Ausbau der Macht Delhis gegen die Bundesstaaten ist daher Voraussetzung für die Stabilisierung der Diktatur; daß es darum geht und nicht um die Beseitigung der Grundlagen des Föderalismus, zeigt die nähere Analyse:

Die Kongreßpartei reflektiert in ihrer Machtstruktur die Vorherrschaft der arischen Hindustani über die dravidischen Tamilen im Süden. Für die Tamilen ist die Herrschaft des Kongreß eine zweite Arisierung Indiens. Nicht nur die Tamilenpartei DMK, die mit der Kampagne gegen die Einführung Hindis als Amtssprache die Wahlen im ehemaligen Staat Madras gewann und ihn in Tamilnadu umbenannte, auch die Volksfront in Kerala profitierte vom jahrhundertelang aufgespeicherten Haß der dunkelhäutigen Tamilen gegen die hellen Hindustanis. Die politische Ausbeutung dieses Gegensatzes ermöglichte es den herrschenden Klassen Südindiens, die lästige Konkurrenz aus dem Norden zurückzudrängen mit Hilfe der armen Massen des Südens, denen dies als Garantie ihrer „tamilidischen Identität“ verkauft wurde. Der Putsch Indiras richtete nicht zuletzt sich gegen die neuen Machtverhältnisse im Süden, die der Kongreß bei den Allindischen Wahlen von 1976 zu spüren bekommen hätte. Ein Programmpunkt der Notstandsregierung ist der Ausbau der Zentralgewalt und die Einschränkung der Befugnisse der Bundesstaaten. Dies bedeutet faktisch die Unterwerfung des Südens unter die Interessen des hindustanischen Kapitals.

Weiter ermöglichte die föderalistische Struktur Indiens Siege linker Volksfronten in Einzelstaaten wie Kerala und West-Bengalen und eine Restriktion über den Einsatz von Armee und Polizei in den unbotmäßigen Staaten. Die Abschaffung des Föderalismus, zumindest seine Einschränkung auf kulturelle Autonomie ist also eines der Hauptanliegen der Notstandsregierung, damit der hindustanische Kongreß sozialrevolutionäre Regionalbewegungen „effektiver“ ausschalten kann. Wird so der Separatismus des Südens unterdrückt, so findet die Zentralisierung des indischen Staates im Norden selbst ihre Schranken, wo die regionalen Kongreßorganisationen durchaus ebenfalls ihre partikularistischen Interessen den infrastrukturellen Planungen New Delhis entgegensetzen. Besonders die relativ reichen Staaten Maharaschtra, Gujarat und der Punjab, deren eigenwilliges Verhalten einen Grund für den Putsch vom 26. Juni abgab, wehren sich gegen die Finanzierung allindischer Projekte mit ihrem Steueraufkommen. So stößt die Stärkung der Zentralgewalt überall da an Schranken, wo sie Interessen wichtiger Fraktionen des Kongresses tangiert.


Feldzug gegen die Korruption

Wie man schon wenige Tage nach dem Putsch las, sollen Angestellte und kleinere Chargen des öffentlichen Dienstes mit peinlicher Pünktlichkeit zum Dienst erschienen und diesem auch nachgegangen sein. Dies schien ein erster Erfolg des Anti-Korruptionsprogramms, das Indira als Hauptaufgabe ihrer Regierung bezeichnete. Solche Maßnahmen treffen allerdings nur die Spitze eines Eisbergs: die allumfassende Korruption in Indien reicht vom Bakschisch für den Schalterbeamten für die Überlassung von Dienstleistungen, die zu tun eigentlich seine Pflicht wäre, bis hin zum gelegentlichen Bersten von Staudämmen, die mit sandverdünntem Zement errichtet worden sind. Als allgemein in den Ländern der „Dritten Welt“ zu beobachtendes Phänomen ist sie Konsequenz eines nicht funktionierenden Staatswesens, das einerseits die Masse der Staatsbürger zwingt, die mangelhaften Staatsleistungen durch Sonderzuwendung zumindest für den eigenen Vorteil zu kompensieren, andererseits bestimmte Gruppen in der Gesellschaft in die Lage versetzt, mit Hilfe öffentlicher Ämter oder Beziehungen zu deren Inhabern, partikulare Interessen besser zu verfolgen als die Konkurrenten.

Ist die erste, sozusagen allgemeine Form der Schmiererei, durch drakonisches Vorgehen auf Kosten der auf sie angewiesenen Massen zurückzudrängen, die dann gleichermaßen mit den unzulänglichen Staatsleistungen sich abfinden müssen, so würden sich Maßnahmen gegen Formen von politischer Großkorruption zwangsläufig gegen die im Kongreß zusammengefaßten Interessen richten. Ein erster Versuch Indiras, allzu krasse Erscheinungen von systematischer Bestechung z. B. der mit der Durchführung der Agrarreform betrauten Beamten durch die Landlords zu unterbinden, führte 1969 zur Abspaltung des „Syndikats“ von der Kongreßpartei, jener Fraktion, in der sich der alte Großgrundbesitz und die lokalen Dorfchefs zusammengeschlossen hatten. Unangetastet mußten die massiven Schiebungen bleiben, mit denen die kapitalistisch organisierten Großfarmer die staatlichen Mittel für die Landwirtschaft auf ihren Grund und Boden lenkten, ebenso die Vergabe von Krediten durch die 1971 verstaatlichten Banken an die Meistbietenden, weil in beiden Fällen wesentliche Stützen des „Neuen Kongresses“ die Nutznießer waren. Nach dem Putsch ergibt sich die Möglichkeit, die Instrumentalisierung des Staates und seiner Mittel für bestimmte Interessen vom Ruch der Korruption zu befreien, weil dies jetzt als Teil des Regierungsprogramms offiziell und im Namen des nationalen Interesses erfolgen kann. Brasilien, wo die Gorilladiktatur „mit der Korruption aufgeräumt hat“, bietet hierfür ein lehrreiches Beispiel, ebenso für den Erfolg solchen Schlußmachens mit der Schlamperei: die jetzt unmittelbar vom Staat gestützten großen nationalen Monopole prosperieren und sparen noch dazu die Unkosten der Kleinkorruption, mit der „durch drakonische Maßnahmen“ reiner Tisch gemacht wurde, bei gleichzeitig fortdauerndem, ja sogar eskalierendem Massenelend.

Gegen bestimmte, spezifisch indische Auswüchse der Korruption wird das Regime vorgehen müssen, weil Indira eine Wiederholung der Hungeraufstände von 1954 angesichts der gespannten politischen Lage fürchten muß: die damals angelieferten Weizenladungen aus den USA und Australien wurden in den Docks von Bombay von Ratten dezimiert und auf dem Weg in die traditionellen Hungerprovinzen West-Bengalen und Orissa verschoben. Angesichts der Nutznießerschaft wichtiger Kongreßgruppen am Hochtreiben der Getreidepreise bleibt es jedoch fraglich, ob das fatalistische Sprichwort: „Not a grain of corn ever reached Orissa!“ aus dem Sprachgebrauch verschwinden wird.


Sündenböcke und Showeffekte

Als erste Maßnahme im „Kampf gegen den Hunger“ verfügte die Notstandsregierung einen Preisstop für Klein- und Zwischenhändler und kündigte drakonische Maßnahmen an, die auch zu aufsehenerregenden Polizeiaktionen gegen Kaufleute in New Dehli führten. Da der Großteil der Nahrungsmittel, zumindest in den Städten, über den Klein- und Zwischenhandel läuft, galt diese Verordnung einer Quelle der künstlichen Nahrungsmittelverknappung, die durch Wucherpreise und Zurückhaltung der Waren zum Zwecke der Preissteigerung das Nicht-Funktionieren der Distribution in Indien verschuldet. Sie traf zwar nur die unteren Ränge des Schiebersystems, das aus dem Hunger der Massen die größten Profite zieht. Nichtsdestotrotz konnte sie des Beifalls der armen Bevölkerung gewiß sein, erscheint dieser doch die Preistreiberei der Händler als die Ursache ihres Hungers. Die Kaufleute reagierten auf das Vorgehen der Regierung wie zu erwarten war: sie hielten Waren zurück und verkauften sie lieber auf dem Schwarzmarkt, wo sie, für die städtischen Massen unerschwinglicher denn je wurden, in den Geschäften jedoch unerhältlich. So hat die Regierung ihr Anti-Wucher-Programm mittlerweile wieder stillschweigend zurückgenommen, um eine ausreichende Versorgung der Städte zu gewährleisten. Nicht weniger spektakulär, jedoch weit abgelegener von den realen Ursachen der indischen Misere waren Sofortmaßnahmen wie die Verhaftung einer greisen Maharani, die sich der Vollstreckung des 26 Jahre alten Gesetzes zur Enteignung der Fürsten mit allen juristischen Tricks erfolgreich widersetzt hatte. Die unterm Fußboden ihres Wohnzimmers gefundenen Goldstücke wurden als erste Siegestrophäen des Notstandsregimes der Bevölkerung in einer Ausstellung präsentiert. Darüber hinaus hat die Polizei in Dehli durchgesetzt, daß vor den Bushaltestellen wieder die queue gebildet wird, eine zivilisatorische Errungenschaft der Briten, die mit deren Abzug in Vergessenheit geraten war. Dies hat zwar das Transportwesen der Hauptstadt nicht verbessert, jedoch dafür gesorgt, daß nun auch die besseren Drängler des öfteren zu Fuß gehen müssen.


Die Lage auf dem Lande: „Grüne Revolution“ oder Naxalbari

Die Entschuldung der Bauern, abgesehen von allen Verbindlichkeiten gegenüber dem Staate, ist Indiras erste Antwort auf die Probleme der indischen Landbevölkerung:

– 1975 besitzen 2/3 der Bauern weniger als 2 ha, was sich an der Grenze des Existenzminimums bewegt, während 3 Prozent der Landbevölkerung 1/4 der gesamten Anbaufläche bearbeiten lassen;
– die Zahl der Dorfbewohner, die unter dem Existenzminimum vegetieren, ist von 1960 bis 1968 von 38 Prozent auf 53 Prozent angestiegen.

Diese hungernde Hälfte der Bauern sollte vom Erlaß der Schulden profitieren, die sie bei Großhauern und dörflichen Geldverleihern gemacht hat- ten, um überleben zu können. An die landlosen Bauern wird der Grund im jährlichen Wechsel verpachtet. Die Pacht wird durch Überlassung von 50 Prozent bis 2/3 der Ernte an den Grundbesitzer beglichen. Der jährliche Wechsel verhindert die Seßhaftigkeit des Landproletariats und ermöglicht es den Großgrundbesitzern durch Ausnutzung der Konkurrenz unter den Landlosen, die Pachtzinsen in die Höhe zu treiben. Die Pachtverträge mit den größtenteils analphabetischen Bauern werden mündlich geschlossen. Der säumige Zahler erhält kein Land mehr, kein Wucherer leiht ihm Geld in den Monaten vor der Ernte und da auch die Darlehen der Wucherer formlos erfolgen, läßt sich absehen, daß der Erlaß von Schulden ins Leere trifft: Pächter und Wucherer werden die Schulden nach dem Erlaß in Form höherer Pacht- bzw. Leihzinsen eintreiben, die die Bauern bezahlen müssen, um zu überleben. Für die „Mutter Indira“ allerdings bringt die Maßnahme erhöhte Loyalität der Bauern: sie hat ihnen geholfen, jedoch die raffgierigen Großbauern und Wucherer haben ihre Reform wirkungslos gemacht. (Was es mit dieser Reform von Anfang an auf sich hatte, zeigt der Umstand, daß Schulden an den Staat nicht erlassen wurden).

So sind die neuen Maßnahmen nur Reaktionen auf die von der Kongreßpartei selbst geschaffene Misere der indischen Landwirtschaft:

Bis zur Unabhängigkeit herrschte in Indiens Dörfern das System der Zamindari, von der Regierung eingesetzte Steuerpächter, die an den Staat die Steuern für die ihnen zugehörigen Bauern abführten und ein mehrfaches davon den Bauern abpreßten. Aus den im Gefolge des Zamindari-Abolition-Act von 1949 gezahlten Entschädigungen an die Zamindaris kauften diese Grund und Boden im großen Stil und es entstand eine Reihe kapitalistischer Farmbetriebe, die dann Nutznießer der „Grünen Revolution“ (die Steigerung der Ernteerträge durch neue Weizensorten, Technisierung und Einführung chemischer Düngemittel) wurden. Bald verfügten die neuen Großbauern über mehr Land, als sie selbst bewirtschaften konnten, weil sie mit ihren Überschüssen den Kleinbauern Land abkauften, das diese in Zeiten schlechter Ernte veräußern mußten, um fehlende Nahrungsmittel einzukaufen.

Alle bisherigen Landwirtschaftsprogramme zielten auf die Steigerung der Überschußproduktion, galten somit den bereits kapitalisierten Farmbetrieben, um deren Marktangebot zu steigern. Die armen Bauern wurden einerseits nicht gefördert, andererseits führten Mißernten regelmäßig zu Landverlusten an die Großbauern. Beschränkungen der Größe privaten Grundbesitzes, die in mehreren Gesetzen vorliegen, konnten leicht umgangen werden durch die Aufteilung des Landes an die Familienmitglieder der Großbauern. Das vom Kongreß avisierte „kühne“ Projekt der Gründung Landwirtschaftlicher Produktionsgenossenschaften durch Kleinbauern auf enteigneten Ländereien als „Konkurrenz“ für die Großgrundbesitzer wurde 1965 kurz nach seiner Konzeption wieder fallengelassen, nachdem es zur Abspaltung der rechtsradikalen Swatantra-Partei vom Kongreß geführt hatte, und diese Sammlungsbewegung des Großgrundbesitzes spektakuläre Wahlerfolge errang. Daß der Regierung an einer Verbesserung der Lage des Landproletariats auf Kosten der Großbauern nichts gelegen ist, zeigt das brutale Vorgehen der Staatsmacht gegen Versuche der Bauern, ihre Situation auf eigene Faust gegen ihre Unterdrücker zu verbessern. Über Indien hinaus ist der Bauernaufstand von Naxalbari in West-Bengalen 1967 bekannt geworden:

Etwa 80 000 Bauern erklärten unter Führung von Kadern der CPI (M) den Distrikt Naxalbari zum „befreiten Gebiet“, verbrannten alle Dokumente über Pachtschulden, Zinsen etc. und begannen das aufgeteilte Land kollektiv zu bewirtschaften. Diese Aktion verdankte sich jedoch weniger einer erfolgreichen kommunistischen Agitation, sondern einerseits dem Hunger der Kleinbauern, andererseits deren Glauben an die Versprechungen der in Westbengalen an die Macht gelangten Volksfront, die zugesagt hatte, auf keinen Fall die „legitimen Rechte und Kämpfe des Volkes zu unterdrücken“. Als die Volksfront jedoch Truppen nach Naxalbari schickte, weil sie New Dehli keine Handhabe liefern wollte, das Land unter Presidential Rule zu stellen, gaben die Bauern ohne nennenswerte Gegenwehr auf und mußten erleben, wie der Kongreßkommissar – West-Bengalen war dennoch unter die Zentralgewalt gestellt worden – die Anführer der Revolte liquidieren ließ. Die aus der Naxalbari-Bewegung entstandene CPI/ML (Naxalites) reduzierte die kommunistische Revolution auf dem Lande auf die Ermordung von Grundbesitzern, Polizisten und Funktionären der „verräterischen“ CPI (M) und hat sich 1975 nach zahlreichen Spaltungen faktisch aufgelöst.

Dennoch war Naxalbari ein Schock für den Indira-Kongreß: erstmals hatten Bauern organisiert aufbegehrt und die Regierung zum militärischen Eingreifen gezwungen. Neben der endgültigen Zerschlagung der CPI/ML und der CPI (M) in West-Bengalen (bei den letzten Wahlen erhielt die CPI (M), die bislang stärkste Partei gewesen war, nur noch 13 Sitze, nachdem die meisten Kandidaten von der Polizei „auf der Flucht erschossen“ oder von bezahlten Killern liquidiert worden waren), hat Indira die Verbesserung der Lage der Bauern zu einem Hauptpunkt ihres Regierungsprogramms erklärt. Wie dies jedoch geschehen soll ohne die Eigentumsverhältnisse auf dem Lande anzutasten, ist bislang ein Rätsel.


Industrie in Indien – Staatskapitalismus und Monopole

Die Wirtschaftspolitik der Notstandsregierung hat mit einer in der westlichen Presse anfänglich befürchteten Hinwendung zum Sozialismus ebensowenig zu schaffen, wie die vor dem Putsch betriebene – es ist im Gegenteil deren Fortsetzung unter günstigeren Bedingungen.

Die Koexistenz staatlich gelenkter Industrie und riesiger privater Monopole, die das Erscheinungsbild der indischen Industrie prägt, basiert auf der Konzeption einer raschen, wachstumsorientierten Industrialisierung Indiens mit Hilfe eines staatskapitalistischen Sektors. Dies Konzept, von den beiden großen indischen Trusts der Familien Tata und Birte formuliert, erwies sich für seine Erfinder in der Folge als „goldrichtig“: der Staat investierte überall dort, wo das Privatkapital überfordert war und ermöglichte so dessen Wachstum. 1972 legte Konzernchef J. R. D. Tata auf dem Kongreßparteitag ein Memorandum vor, das eine enge Zusammenarbeit von Privatkapital und Staat in der Form eines „Joint sectors“ forderte. Die Regierung akzeptierte dieses Programm unwesentlich modifiziert 1973. JointSector-Unternehmen werden weitgehend vom Staat finanziert und übernehmen Produktionsaufgaben im Rahmen der Fünfjahrespläne. Das Privatkapital stellt das Management und das technische Personal und ist an den Profiten beteiligt, wobei der Staat die Garantie für deren angemessene Höhe und damit das unternehmerische Risiko übernimmt. Das Joint-Sector-Konzept, Prunkstück des Kongreß-„Sozialismus“, hat sich für beide Seiten als ungemein vorteilhaft erwiesen: die Privatindustrie braucht den Staat für die Finanzierung infrastruktureller Projekte (Staudämme, Kraftwerke, Straßen), der lebenswichtigen Grundstoffindustrie (Stahl), sowie für die Beschaffung ausländischen Kapitals und als Unterhändler auf dem Weltmarkt. Ferner verschafft die Staatsbeteiligung Rückendeckung hei Arbeitskämpfen und übernimmt die Sanierung bankrotter Firmen. Der Staat seinerseits kann auf hohe Wachstumsziffern verweisen in den Bereichen, auf die er angewiesen ist, um seine Großmachtpläne zu verwirklichen: Schwerindustrie, Verkehr und Rüstung. Daneben erhält die Kongreßpartei umfangreiche Subsidien dankbarer Unternehmer.

Die Politik des Joint-Sectors wurde im 20-Punkte-Wirtschaftsprogramm der Notstandsregierung ausdrücklich bestätigt. Nicht zuletzt deshalb hat das große Kapital den Putsch begeistert begrüßt. Die neuen Vollmachten der Regierung gehen ihr die Möglichkeit, nun auch konservative und kleinere Unternehmen in den joint-sector einzubeziehen. Diese haben solchen Versuchen bislang erfolgreich Widerstand entgegengesetzt, entweder weil sie hinter solchen Maßnahmen tatsächlich den schleichenden Sozialismus witterten oder weil ihnen die Entschädigungsangebote der Regierung zu gering waren. So konnte der Staat in diesem Bereich bislang nur unrentable Firmen in sein Wirtschaftsprogramm einbeziehen, was die Wirtschaftsplanung erheblich behinderte. Wenn Indira nach dem Putsch verkündete, daß Verstaatlichungsmaßnahmen nicht geplant seien, so tangiert das nicht den Joint-Sector. Dessen Ausbau soll durch eine großzügige Öffnung für Auslandskapital gefördert werden. Neben den USA, Japan und der BRD hat sich hier vor allem die Sowjet-Union engagiert die zur Zeit eine halbe Mio. Tonnen Stahl aus indischen Hochöfen mit sowjetischer Beteiligung zu Preisen bezieht, die 20 Prozent unter dem Weltmarktpreisniveau liegen.

Die lächerlich billige Arbeitskraft, die Indien bereitstellt, sorgt für riesige Profitraten. Trotz eines jährlichen Durchschnittswachstum von 9 Prozent bis 1965, dann Abfall auf 3 Prozent bis 1971, momentan stagniert die Zuwachsrate, sind die Löhne der Arbeiter seit 25 Jahren auf dem gleichen Niveau geblieben, was ihr Vergleich mit den Lebensmittelkosten zeigt, wohingegen sich die Profite im gleichen Zeitraum nach offiziellen Schätzungen der Regierung mehr als verdreifacht haben. Streiks in Unternehmen des Joint-Sectors wurden bereits vor dem Putsch denunziert und von der Polizei niedergeschlagen. Nachdem die staatliche Beteiligung in den Unternehmen des Joint-Sectors werden als „anti-indisch“ den Klassenkampf in diesem Bereich zur Frage des Patriotismus umgefälscht hatte, wurden nach dem Staatsstreich generell Streiks verboten. Der „Sozialpakt“, den Indira Ende Juli mit Vertretern des Kapitals und drei großen Gewerkschaften (darunter der AITUC, die der CPI (Right) nahesteht) abschloß, kann so nur als politische Absicherung für die Regierung verstanden werden, die damit aufmüpfige Arbeiter noch als Gewerkschaftsspalter hinstellen kann. Ohnehin hatte die Indira-Administration anläßlich des allindischen Eisenbahnerstreiks im Frühjahr dieses Jahres demonstriert, daß ihr „sozialistisches“ Programm rücksichtslos durchgesetzt wird:

– die Armee warf die Streikenden aus ihren Dienstwohnungen
– die Polizei verhaftete tausende von Gewerkschaftsfunktionären
– von der Kongreßpartei angeheuerte Banditen, die Goondas, ermordeten kommunistische Kader.

Ziel des neuen Wirtschaftsprogramms ist es, den Profit der Industrie durch Unterbezahlung der Arbeitskraft zu erhöhen. Die Ausbeutung der Lohnarbeit wird erleichtert durch den ungeheuren Konkurrenzkampf, den die riesige Reservearmee des großstädtischen Lumpenproletariats den Arbeitern aufzwingt. So zählen Industriearbeiter mit fester Anstellung zu den zuverlässigsten Stützen des Regimes, und die Entschlossenheit der CPI (Right), dem Notstandskabinett bedingungslos zu applaudieren, ist sicherlich nicht nur der Abhängigkeit von der KPdSU zuzuschreiben, sondern auch dem Druck der Parteibasis geschuldet, die zu einem Großteil von großstädtischen Industriearbeitern gestellt wird.

So hat denn das im Vergleich zur Landwirtschaft durchaus eindrucksvolle Prosperieren der indischen Industrie die Lage der lohnabhängigen Massen keineswegs verbessert, dem Land jedoch eine der reichsten. Kapitalistenklassen der Erde und einen mit ungeheurer militärischer Macht ausgestatteten Staat verschafft. Die neuen Möglichkeiten der Regierung werden der indischen Industrie sicherlich wieder höhere Zuwachsraten bescheren, deren alleiniger Nutznießer die Kapitalistenklasse sein wird. Der Staat fördert das große Kapital und damit seine wachsende Abhängigkeit von den imperialistischen Mächten und UdSSR. So gibt Indien zwei Drittel seiner Devisen für Luxusgüter aus und deckt das notorische Defizit der Zahlungsbilanz durch Kreditaufnahme bzw. „Entwicklungshilfe“, deren Gebern Konzessionen gemacht werden: einerseits das Stahl„geschäft“ mit der Sowjet-Union und der Ausbau des Militärs mit strategischen Waffensystemen zur sowjetischen Südfront gegen die VR China, andererseits die erst kürzlich wieder verkündeten Erleichterungen für westliche Importe an Waren und Kapital.


Dharma und Kastensystem

„Hingebung des Lebens ohne Belohnung, um einen Priester oder eine Kuh zu erhalten, kann die Seligkeit dieser niedrig geborenen Kasten sichern“ (Manava Dharma Shastra)

„Religion ist das Opium des Volkes“ (Karl Marx)

Will eine Industrie wachsen, so braucht sie eine in gewissem Maße formierte Arbeitskraft: erfüllt von Leistungs- und Aufstiegsstreben, fähig, den Arbeitsplatz je nach Bezahlung und Anforderungen zu wechseln – also das, was man hierzulande einen gewöhnlichen Menschen nennt. Die Wirtschaftspolitik der neuen indischen Regierung muß da natürlich auf Schranken stoßen, nämlich auf die hinduistische Religion und ihre Vorschriften, an die 70 Prozent der indischen Bevölkerung glauben.

Das diese Religion prägende Kastensystem stellt eine differenzierte Rangordnung der Berufe innerhalb der gesellschaftlichen Arbeitsteilung dar, die vom Priester und Großgrundbesitzer bis zum Toilettenreiniger reicht. Jede Kaste verfügt dabei über ihr spezifisches Dharma, d. i. die Summe der Pflichten und Vorschriften, die ihren Mitgliedern auferlegt sind. Nur die gewissenhafte, leidenschaftslose Erfüllung des Dharma ermöglicht die Wiedergeburt in einer höheren Kaste und schließlich das Durchbrechen des Wiedergeburtszyklus, die Vereinigung mit dem Brahma. Es besteht daher für den Hinduismus ein kausaler Zusammenhang zwischen Kastenzugehörigkeit und den früheren Leben. Wer in die Unberührtheit hineingeboren wurde, hat nicht Pech gehabt, sondern wurde vom gerechten Schicksal ereilt, weil er sich im vorhergehenden Leben unmöglich aufgeführt haben muß. An die Stelle von Mitleid mit den kastenlosen Parias findet sich folglich Haß und Verachtung, die sich jährlich in zahlreichen Ritualmorden gläubiger Kastenhindus an den Harijans (Kinder Gottes, so nannte Gandhi die Parias in ungewollter Religionskritik) entladen. Für die unteren Kasten hat der Glaube an das Dharma ein Bewußtsein zum Resultat, das sozialen Aufstieg als Flucht verurteilt. Nur die Erfüllung des eigenen Dharma ist verdienstvoll, wer ein anderes Dharma befolgt, sündigt hingegen und kann – wenn er ohnehin schon der untersten Kaste angehört – als Tier wiedergeboren werden. Die indische Variante der bekannten amerikanischen Success-Story (Sohn eines armen Einwanderers steigt vom Tellerwäscher zum Millionär auf und wird Senator) malt sich einen Leichenwäscher aus, der geduldig sein Dharma erfüllt und als Brahmane wiedergeboren wird. Leicht haben es so z. B. Großbauern, Landreformversuche abzuwehren: ihre Pächter haben sich oftmals geweigert, den angebotenen Grund als eigenen anzunehmen. Keinesfalls haben sie mehr angenommen, als zur unmittelbaren Subsistenz notwendig, so daß ihr Grund bei der ersten Mißernte dem ehemaligen Besitzer zufiel. Die Flucht in die Stadt wäre für den Angehörigen der niederen Kaste der einzige Weg, sein Stigma abzustreifen. Unterstellt, er emanzipierte sich vom Glauben, so verlöre er die soziale Sicherung der Kastensolidarität, die ihn bisweilen vorm Ärgsten bewahren kann, und tauschte dafür die Ungewißheit eines Tagelöhners in einem Großstadtslum ein. Andererseits liegt es auch nicht im Interesse der Regierung mit zu hartem Vorgehen gegen das Kastenwesen (das Gesetz verbot es schon vor 26 Jahren) der öffentlichen Fürsorge erhöhte Ausgaben aufzubürden durch ein anwachsendes Lumpenproletariat in den Städten.

Es sind jedoch nicht nur solche Überlegungen, die ein tatsächliches Vorgehen der Regierung gegen die zum Teil aberwitzigen Hemmnisse des Hinduismus von vornherein ausschließen. Die Tatsache, daß Wahlsiege sozialrevolutionärer Bewegungen die Kongreßpartei immer mehr erschrecken als gelegentliche Erfolge hinduistischer Splitterparteien in einzelnen Bundesstaaten, weist darauf hin, daß die Kongreßpartei eine Hindupartei ist und bleiben wird, sich also sicher ist, daß hinduistisch motivierte politische Bewegungen doch immer wieder in sie zurückkehren werden, andererseits kann sie auf den hinduistischen Glauben als wesentlichen Pfeiler ihrer Macht nicht verzichten – zieht sie doch daraus für die Aufrechterhaltung ihrer Herrschaft und die Durchsetzung der in ihr zusammengeschlossenen Interessen unverzichtbaren Nutzen. Alle gegen den Hinduismus gerichteten Maßnahmen beschränken sich also von vornherein auf Nebensächliches, oder sie zerbrechen am Widerstand innerhalb der Partei bzw. verlaufen im Sande. Das formelle Verbot des Kastensystems seit fast 30 Jahren bei gleichzeitiger faktischer Anerkennung steht hierfür beispielhaft.

Es ist demnach nicht verwunderlich, daß die bislang einzigen Eingriffe der Notstandsregierung ihn Bereich des Hinduismus von der gleichen Machart sind wie die anderen Erlasse der ersten Stunde: spektakulär, jedoch peripher, ohne Wirkung: die Verleihung einer Medaille und Geldgeschenke der Regierung für Eheschließungen mit Parias wird bestenfalls jene reizen, die ohnehin schon die Fesseln des Glaubens abgestreift haben. Die anderen, deren Verhaftetsein an die Religion auch durch diese Maßnahme unangetastet bleibt, werden auch durch kleine Geschenke nicht dazu verleitet werden können, die Wiedergeburt in einer niedrigeren Kaste bzw. als Tier zu riskieren. Auch das Verbot, heilige Kühe in den Städten frei herumlaufen zu lassen und damit die Beseitigung eines Hauptquelle der Empörung westlicher Touristen, läßt das eigentliche Problem unangetastet, den All-India-Ban-On-Cowslaughter, der seit den Tagen der Unabhängigkeit eine ertragreiche Viehwirtschaft verhindert. Diese Kodifizierung eines religiösen Tabus in der Verfassung (!) der Indischen Union, das einmal seine gesellschaftserhaltende Funktion hatte, weil das Arbeitsvieh tatsächlich schwerer zu ersetzen war als ein Mensch, war ein Zugeständnis des Congresses an den Hinduismus, und jede Kritik an ihm gab religiösen Ultras wie der Jan-Sangh-Partei Auftrieb, der sich bei den Parlamentswahlen von 1967 in aufsehenerregenden Stimmengewinnen niederschlug. Dabei ist die Verehrung des heiligen Rinds nur die pittoreske Randerscheinung des Hinduismus, dessen Einfluß zumindest auf dem Lande die Stabilität der Verhältnisse weitaus wirksamer garantiert als die Polizei, So wird es allenfalls noch behutsame Korrekturen an Stellen geben, wo religiöser Wahnsinn die Herrschaft des Kongresses selbst gefährdet oder sich jeglicher ökonomischer Rationalität entgegenstellt (so der strikte Vegetarismus im Süden, der den Fischfang und die Fleischviehzucht verhindert).


Flankierende Maßnahmen

Die Entschlossenheit, auf die der Kongreß in seinem Umgang mit der Religion verzichtet, demonstriert er an einem geeigneteren Objekt. Die neuen Vollmachten verschafften der Regierung ein Instrumentarium, die Zerschlagung der sozialrevolutionären Bewegungen, die bereits vor dem Putsch in vollem Gange war, nun legal fortzuführen. Schwerpunkte dieser Aktivitäten war West-Bengalen, wo die bis dahin stärkste Partei, die CPI (Marxist) durch Ausrottung ihrer Kader inzwischen zur Splittergruppe reduziert worden ist. Ihr Vorsitzender, der nach dem Putsch inhaftierte J. Bosu:

„Die gesamte Unterwelt hier (in Kalkutta) wird bezahlt für Dienste, die Sache der herrschenden Partei zu erledigen; sie besteht darin, politische Opponenten gnadenlos zu töten. Wir haben in diesem Jahr nicht weniger als 550 Genossen unserer Partei durch Erschießen oder Erstechen verloren …“

Der Notstand wird der Kongreßpartei künftig solch peinliche Szenen ersparen, wie der öffentliche Auftritt des Gangsterchefs P. Keshta nach der Ermordung mehrerer hundert Naxaliten: von der Prämie organisierte er eine Prozession zur Ehrung der Todesgöttin Kali. Die daraufhin angesetzte Untersuchung verlief allerdings im Sande. Die Kader der CPI (Marxist) sind jetzt legal verhaftet worden, andere linke Organisationen wurden verboten, ihre Aktivisten eingekerkert und die Auflösung der CPI/ML war nur noch ein bürokratischer Akt, nachdem die meisten ihrer Kader ohnehin schon in den Vorjahren ermordet worden waren.

Daneben dient Indira der Notstand zur Bereinigung innerparteilicher Machtkämpfe. Betroffen hiervon sind sowohl der rechte als auch der „linke“ Flügel des Kongreß. Landwirtschaftsminister J. Rem, Anführer der 80 Parias in der Kongreßfraktion, entging der Verhaftung nur durch eine spektakuläre öffentliche Unterwerfung, im Süden wurden ganze Parteiorganisationen unter der Anschuldigung aufgelöst, sie verfolgten autonomistische Ziele So säubert Indira den Kongreß von Gruppen radikaler Hindus oder Schwärmern in der Nachfolge Gandhis, die der Kapitalisierung von Industrie und Landwirtschaft Widerstand leisten.

Die dadurch geschmälerte Basis des Kongreß wird aufgefüllt durch die De-facto-Hereinnahme der CPI (Right) in die Regierungskoalition. Was die Partei dadurch gewinnt, ist bislang nur ihre Legalität. Die weitere Entwicklung wird von derjenigen der indisch-sowjetischen Beziehungen abhängen. Erst eine sich jetzt schon abzeichnende Wiederannäherung an den Westen wird den Honigmond zwischen Kongreß und Moskau-KP eintrüben.
Noch allerdings begrüßt die UZ der DKP Indiras flankierende Maßnahmen zur Durchsetzung ihres Notstandsprogramms inklusive der Liquidierung von Kommunisten:

„Bei der Realisierung des sozialökonomischen Programms der Regierung ... sind die Chancen einer gegenseitig nützlichen und für die demokratischen Kräfte vorteilhaften Zusammenarbeit zwischen der regierenden Kongreßpartei und den Kommunisten noch nie so günstig gewesen wie gegenwärtig . . . Das Verbot der für die innere Sicherheit gefährlichen Organisationen erleichtert es den Unionsstaaten, ihre Pläne für die Erfüllung des konstruktiven Polgramms der Zentralregierung konsequent in die Tat umzusetzen.“ (UZ, Zeitung der DKP, vom 8. 7. 1975)


Das „neue Indien“ Indiras

Wieder einmal schickt sich eine indische Regierung an, den Problemen des Landes durch eine „neue Politik“ Herr zu werden, ja sogar ein „Neues Indien“ zu schaffen. Die bisherigen Maßnahmen der Regierung zeigen jedoch, daß das „neue“ Indien, im wesentlichen das alte mit den gleichen Problemen bleiben wird:

ein Drittel der Bevölkerung ist permanent unterernährt, nicht weil Indien zu wenig Nahrung produziert (laut- UN-Statistik produziert Indien pro Kopf der Bevölkerung nur 5 kg weniger Nahrungsmittel als die VR China), sondern weil die Produktions- und Eigentumsverhältnisse eine ausreichende Ernährung der Massen verhindern, einer Minderheit von Grundbesitzern und Handelskapitalisten gerade dadurch ungeheure Profite verschaffen, daß Nahrungsmittel knapp gehalten werden.

Die Regierung wird die profitorientierte Organisation von Produktion und Distribution in der Landwirtschaft nicht antasten, weil sie auf ihre Machtbasis bei den Groß- und Mittelbauern angewiesen ist. Da diese auf die billige Arbeitskraft des Landproletariats nicht verzichten können, muß es weiterhin am Rande des Existenzminimums gehalten werden. So wird die mittels der fortschreitenden. Kapitalisierung der Landwirtschaft erreichte Steigerung der Nahrungsmittelproduktion die Ernährungslage der Massen allenfalls unwesentlich verbessert.

die Industrie produziert für ein zahlungskräftiges Bedürfnis. Dieses findet sie jedoch nur bei den herrschenden und Mittelklassen vor. Also steigert ihr Wachstum dasjenige des Reichtums bei eskalierender Armut.
Das industrielle Wachstum wird sich weiterhin an den Bedürfnissen der herrschenden Klassen Orientieren, Planung wird es nur geben, sofern es sich um den Ausbau der Grundlagen kapitalistischer Produktion handelt. Die Voraussetzung der Konkurrenzfähigkeit des indischen Kapitals, die billige Arbeitskraft muß als Preis für ausländische Unterstützung bestehen bleiben, wofür die Notstandsparagraphen und die Zerschlagung der Arbeiterbewegung wichtige Instrumente sind.

die Wirtschaftsbeziehungen mit dem imperialistischen Weltmarkt und auch der Sowjet-Union werden von den Interessen der herrschenden Klassen in Indien bestimmt, die das Land zwangsläufig in verstärkte Abhängigkeit bringen. So zeigte sich im Ergebnis, daß die von Nehru proklamierte Politik der Blockfreiheit nichts anderes ist als die gleichmäßige Abhängigkeit von beiden Blöcken.

Indiras Maßnahmen laufen alle hinaus auf eine Verbesserung der wirtschaftlichen Misere durch Stabilisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse, die für diese Misere verantwortlich sind. Ihr Programm einer Effektivierung der Ökonomie muß daher zwangsläufig eine Bestätigung der Schranken zur Folge haben, die der Entwicklung Indiens auf Basis seiner Einbeziehung in das kapitalistische System im Wege stehen.

Das 20-Punkte-Wirtschaftsprogramm der Notstandsregierung erinnert daher an die Wahlplattform des Indira-Kongresses, die der Partei die Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament eingetragen hatte und deren Scheitern zur .Machterosion des Kongreß und letztlich zum Putsch führte:

– Über die Verstaatlichung der Banken sollten gezielt Mittel für Investitionen im Bereich der Großindustrie bereitgestellt werden.
– den Großbauern stellte die Regierung großzügige Kredite zur Verfügung
– staatliche Nahrungsmitteldepots sollten für die Verteilung der Ernteüberschüsse sorgen.

Aus dem „Feldzug gegen die Armut“ (Garibi hatao) wurde jedoch nichts anderes als eine Maflnahme zur Beseitigung der Armut der Reichen:

– die verstaatlichten Banken unterstützten vor allem die Großindustrie, weil sie am ehesten für hohes Wachstum sorgte. Dies führte zu einer weiteren Zentralisation des Industriekapitals in der Hand der Monopole (die zudem durch Beziehungen zu den höheren Bankbeamten Extravorteile einstreichen konnten.)
– das Agrarprogramm konzentrierte sich auf die Bauern, die ohnehin schon Überschüsse produzierten, und steigerte deren Konkurrenzvorteile gegenüber den Kleinbauern
– die Großgrundbesitzer zogen es vor, ihre Überschüsse größtenteils auf dem aufblühenden Schwarzmarkt zu verkaufen.


Verstärkte Öffnung nach außen

Die neue Macht Indiras ermöglicht es ihr, die Öffnung gegenüber dem imperialistischen Kapital und der Sowjet-Union ohne Rücksicht auf linke Opposition bzw. auf radikale Hinduideologien zu betreiben. Dieser Umstand hat mittlerweile dem Regime auch Lob und Anerkennung von interessierter Seite eingetragen:
Die Ford-Administration beantragte im September vom Kongreß Geld für Wirtschaftshilfe, der SPD-Diplomat Wischnewski versicherte seinem Chef, Indira habe ihm die skrupulöse Einhaltung der Verfassung zugesagt, somit bestehe für Bonn kein Grund, die Förderung Indiens zu stoppen und die Weltfriedensmacht Nr. 1 feiert schon seit dem Putsch die Wiederherstellung.


Das Elend Indiens

Die einzige wirkliche soziale Umwälzung, die das Indien der Neuzeit erlebt hat, wurde dem Land von außen aufgezwungen. Es war die britische Kolonialherrschaft, die das alte Hindustan als Summe von Dorfgemeinschaften unter der Despotie der Fürsten auflöste, „nicht so sehr“ – wie MARX bemerkt – „infolge des brutalen Eingreifens des britischen Steuereintreibers und des britischen Soldaten als vermöge des englischen Dampfes und des englischen Freihandels.“ An gleicher Stelle (MEW 9 „Die britische Herrschaft in Indien“) weist Marx jedoch auch die sentimentale Nachtrauer der Indophilen zurück, die angesichts des „Meers von Leiden“, das der Kolonialismus über die Menschen Indiens gebracht hat, das alte Hindustan mit seinen „Myriaden betriebsamer patriarchalischer und harmloser sozialer Organisationen“ rückblickend als Idylle sich ausmalen:

„Wir dürfen nicht vergessen daß diese kleinen Gemeinwesen durch Kastenunterschiede und Sklaverei befleckt waren, daß sie den Menschen unter das Joch äußerer Umstände zwangen, statt den Menschen zum Beherrscher der Umstände zu erheben, daß sie einen sich naturwüchsig entwickelnden Gesellschaftszustand in ein unveränderliches, naturgegebenes Schicksal transformierten und so zu jener tierisch rohen Naturanbetung gelangten, deren Entartung zum Ausdruck kam in der Tatsache, daß der Mensch, ,der Beherrscher der Natur‘ vor Hanuman, dem Affen, und Sabbla, der Kuh, andächtig in die Knie sank.“

Die Unabhängigkeit Indiens hat nicht dazu geführt, daß die Auflösung des Alten vollendet wurde und auf der Basis der neuen Gesellschaftselemente die natürlichen Ressourcen des Landes von seinen. Bewohnern planmäßig im eigenen Interesse eingesetzt wurden, sondern zur Machtübernahme einer nachkolonialen Pseudobourgeoisie, die auf der Grundlage der durch die Briten hinterlassenen Produktionsverhältnisse nun ihrerseits die Ausbeutung der Ressourcen des Landes und der Masse seiner Bevölkerung betrieben. Daß am Beginn der Geschichte des unabhängigen Indiens der – von den abziehenden Briten noch selbst entfachte – religiös motivierte Konflikt mit Pakistan und ein gewaltiges Gemetzel des religiösen Fanatismus stand, zeigt, daß die britische Herrschaft bei weitem nicht radikal genug die alte, von ihr unterworfene Gesellschaft zerstört hatte. Was sie stattdessen hinterließ, war die Fiktion von „der größten Demokratie“ der Welt, die sich im Gandhiismus eine Ideologie zulegte, die ihr Schöpfer selbst Metaphysik nannte: eine Mischung aus Stoizismus, Askese, Almosensozialismus und verklemmter Sexualität; deren oberstes Prinzip – die Gewaltlosigkeit – angesichts der massiven Gewalt, mit der sich die indische Demokratie am Leben erhielt – nach innen und nach außen nichts ist als ein makabrer Witz. Die 26jährige Praxis von Korruption und Gewalt, großzügiger Anwendung der Notstandsparagraphen und gelegentlichem Anzetteln von Kriegen gegen äußere Feinde (Pakistan, China) zeigt überdeutlich, daß die indische Klassengesellschaft von Anfang an nicht durch den Ausgleich divergierender Interessen aufrechterhalten wurde, wie er die westlichen Demokratien auszeichnet, sondern durch die mehr oder weniger gewaltsame Durchsetzung der herrschenden Interessen hinter einer demokratischen Fassade. Der Putsch Indiras schließlich signalisiert, daß der Widerspruch einer Demokratie in Indien unter den Bedingungen ihrer Kongreßversion nicht mehr existieren konnte.

aus: MSZ 7 – 1975

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