Neutronen-Bombe:

WIE MAN LERNT, DIE BOMBE ZU LIEBEN

In glücklichster Ergänzung zu J. Carters weltweiter Menschenrechtskampagne ist es den Militärtechnologen der Vormacht demokratischer Freiheiten gelungen, ihrem Präsidenten eine Waffe zu basteln, die wie keine andere je zuvor geeignet ist, dem Menschenrecht auf Eigentum die ihm gebührende weltweite Geltung zu verschaffen: Die Neutronenbombe „versaftet“ (US-Militärjargon) Menschen, ohne die von ihnen benutzten Panzer, Häuser und Fabriken in ungebührlicher Weise in Mitleidenschaft zu ziehen. In Serie produziert – wozu Carter alle nötigen finanziellen Mittel hat bereitstellen lassen –, gleicht sie daher nicht nur jene

„erdrückende Überlegenheit offensiver sowjetischer Panzerdivisionen in Mitteleuropa“ (R. Jaeger lt. SZ)

vollständig aus, die es gar nicht gibt –

„Europa kann durch die NATO-Streitkräfte auch ohne den Einsatz von taktischen Atomwaffen gegen eine Invasion des Warschauer Pakts verteidigt werden.“ (J. Carter)

Indem sie das

„Hauptproblem in einem modernen Krieg, die Zerstörung auf das unmittelbare Zielgebiet zu beschränken und die Zerstörung von städtischen Zentren zu verhindern“ (SZ),

perfekt löst – zerstört werden weniger die Zielgebiete als die Zielpersonen –, eröffnet sie einen Ausweg aus dem Dilemma, daß nach dem derzeitigen Stand westlicher Aufrüstung

„Die Entscheidung, eine Stadt anzugreifen oder zu verteidigen, gleichbedeutend sein kann mit der Entscheidung, sie zu zerstören“ (Dienstvorschrift F –100–5 der US-Armee lt. Spiegel),

eignet sich nämlich

„nach Ansicht der Militärs besonders zur Befreiung besetzter Gebiete und ist deshalb für den Einsatz in Europa vorgesehen“ (SZ).

Kurzum:

„Amerikas Neutronenbombe bietet sich den Militärs nun als Ausweg aus der Misere (!) an, eigentlich mit der realistischen (!) Möglichkeit (!) eines Krieges nicht mehr rechnen zu können.“ (Nürnberger Nachrichten)

Wenn diese Wunderwaffe mit exakt auf das gewünschte Maß beschränkbarem Tötungsradius (Manager Starbird lt. Spiegel), mit der der Wunschtraum bürgerlicher Kriegsführung, ihre Opfer so zu liquidieren, daß die Beute intakt bleibt, praktisch in Erfüllung zu gehen verspricht, dennoch Militärs und Politikern der NATO zu kritischen Bedenklichkeiten Anlaß gibt, dann nicht, weil diese inzwischen an der „Unmöglichkeit“ des Krieges Geschmack gefunden hätten: die Lüge, daß der Krieg bislang nicht, mit der neuen Bombe aber „wieder führbar“ (J. Steinhoff) wäre, widerlegt dieser NATO-General a.D. selber mit dem Hinweis auf die Überflüssigkeit dieser Waffe „auf dem Gefechtsfeld“; und er erfindet diese Lüge, weil er dafür ist, Kriege anders zu führen. Und da Politiker und Militärs Leute sind, die überhaupt nichts dabei finden, sich über die effizienteste Form den Kopf zu zerbrechen, wie der Gegner zu vernichten und das eigene Volk zu opfern sei – was Staatsmänner selbstverständlich nicht zu einer „kriminellen Vereinigung“ macht –, wird die Neutronenbombe zum Gegenstand eines erregten Meinungsstreits über Vor- und Nachteile, an dem das Volk auf seine Weise teilhat.

 

1. Problematik

Gegen die Waffe spricht zum einen das „Problem der lebenden Leichen“: Betroffene Feindtruppen sind nicht sofort tot, sondern könnten für eine gewisse Zeit „qualvollen Leidens“ „noch weiterkämpfen"; und da die „Frage .... wie verhalten sich Soldaten in der Gewißheit des Todes, aber in voller Aktionsfähigkeit“, keine Frage ist, sind „entgegen bisheriger Annahme die Militärexperten noch nicht zu einem eindeutigen Schluß gekommen.“ (SZ) – Das Volk, in richtiger Einschätzung seiner Rolle in diesem Szenarium, hält gegen die wochenlange Todesqual die Vorteile des „Sekundentodes“ (Spiegel) im Falle der eigenen Verdampfung durch eine ordentliche H-Bombe und demonstriert damit, wie es sich privatim auf den Krieg vorbereitet hat.

 

2. Vor- und Nachteile

Sowohl für als auch gegen die neue Bombe wird angeführt, daß sie wegen ihrer geringen Größe die „Einsatzschwelle für Nuklearwaffen“ senke: Einerseits („pro“) sei das Risiko der Selbstzerstörung so weit verringert, daß die Drohung mit dem Einsatz dieser Waffe glaubwürdiger werde; andererseits („contra“) garantiere dies nicht, daß der Osten in seiner unverhältnismäßigen Art nicht doch schon die erste kleine Neutronengranate mit seinen dicken Atombomben beantworten würde, sodaß die gestiegene Wahrscheinlichkeit ihrer Anwendung das Risiko des totalen Atomkrieges erhöhe, statt es zu verringern. Beide Argumente gehen ganz selbstverständlich davon aus, daß die „Glaubwürdigkeit“ der westlichen Drohung mit Atomwaffen nicht nur für den Osten keine Frage ist; daß das einzige Kriterium ihres Einsatzes in der Sicherheit liegt, den Gegenschlag der anderen Seite verhindern zu können; Gegnern wie Freunden der neuen Waffe ist also nichts selbstverständlicher als der politische Wille des Westens, jede erdenkliche Waffe gegen den Osten einzusetzen, sofern ihr Einsatz nicht dessen Zweck vereitelt; und wenn sie darüber debattieren, ob der Vorteil, Gegenden von Gegnern säubern zu können, ohne erstere zu vernichten, höher zu bewerten sei als die Gefahr, sich damit umso leichter die totale Zerstörung durch den Gegner einzuhandeln, dann sind sie sich in der Frage des Kriegsziels ebenso einig wie in der Demonstration des Tatbestandes, daß ihr kriegerischer Appetit auf den Osten nur durch das mit seiner Befriedigung verknüpfte Risiko im Zaum gehalten wird – dies die Wahrheit der westlichen“ Abschreckungsstrategie“.

Das deutsche Volk hat angesichts dieser Alternative das Problem, daß bei der Unberechenbarkeit des östlichen Gegners (und bei der Berechenbarkeit der amerikanischen Freunde) die „miniaturisierten“ Atomgranaten nicht weit genug von seinem eigenen Heim entfernt explodieren könnten; es zeigt damit, daß es sich nicht einmal den Krieg dafür zum Hindernis werden lassen will, die Aktionen des Staates als Grundlage für die Berechnung seines Vorteils zu akzeptieren, und hat damit von seiner Seite her alles getan, um die Lüge von der „Sauberkeit“ und idyllischen Harmlosigkeit dieser Waffe und Presseamtchef Böllings militärlinguistische Begriffsentwirrung:

„Es handelt sich dabei nicht um eine Bombe, sondern um eine Gefechtsfeldwaffe“,

ihre propagandistische Wirkung erzielen zu lassen.

 

3. Politische Bedenken

Von Teilen der Bundesregierung wird als Bedenken gegen die neue Bombe die Sorge um die Entspannung mit dem Osten vorgebracht, deren nutzbringender Fortgang Schaden nehmen könnte, wenn der Westen allzu deutlich seine militärische Überlegenheit demonstriert. Mit diesem Bedenken machen westdeutsche Politiker klar, daß Entspannung und Aufrüstung keineswegs einander ausschließende politische Ziele sind, sondern alternative Mittel für denselben Zweck, den feindlichen Osten für den westlichen Nutzen zu instrumentalisieren, weshalb Aufrüstung Voraussetzung für Entspannung ist. So löst sich der Streit um Für und Wider der Neutronenbombe innerhalb des westlichen Lagers auf in die Diskussion, ob sich gegenwärtig mit ihr die Öffnungsbereitschaft des Ostens steigern läßt (vgl. MSZ Nr. 18: „Erfolge friedlicher Aggression“) – ein Nutzenkalkül, das aufgrund der unterschiedlichen Ausgangslage von USA und BRD in der Konkurrenz beider Mächte um den Nutzen des Ostens durchaus auch kontroverse Aspekte aufweist. Deswegen ist auch die gesamte Bundesregierung sich in der Forderung einig, bei der anstehenden Eskalation der westlichen Kriegsvorbereitungen stärker konsultiert zu werden.
Des Volkes Friedensforscher bewähren sich in dieser Situation in ihrer selbstgewählten Aufgabe, dem Volk seinen Glauben an die unerschütterliche Friedfertigkeit seines Staates zu erhalten, indem sie die Serienproduktion der Neutronenbombe als Verstoß gegen das angebliche politische Ziel der Entspannung bejammern und die Politiker zu überforderten Zauberlehrlingen verharmlosen, denen ihr Rüstungsapparat über den Kopf gewachsen ist – so als gäbe es auf der ganzen Welt irgendeine Armee ohne den politischen Willen, sie einzusetzen:

„wieder einmal haben die Rüstungstechniker eine Waffe entwickelt, an der Atomkriegs-Planer und Nato-Artilleristen Gefallen finden mögen – die aber den Politikern Probleme aufzwingt, vergleichbar der Quadratur des Kreises“ (Spiegel)

Das deutsche Volk findet demgemäß in der Debatte um die Neutronenbombe einmal mehr Gelegenheit, seine Erfahrung zu betätigen, daß der Fortschritt der Technik an allem Schuld, aber unaufhaltsam ist, und bestärkt so seine Politiker in ihrem Willen, für ihre Armee und gegen die Russen nur das Modernste als gut genug zu befinden.

 

4. Konstruktive Kritik

Was schließlich ein Bundesgeschäftsführer der SPD ist, der findet an der neuen Bombe auszusetzen, daß sie weder eine Bombe noch eine Gefechtsfeldwaffe „mit verminderter Druck- und Hitzewirkung“ (Schmidt), sondern ein Symbol ist:

„Hier wird die Skala aller Werte auf den Kopf gestellt (Jimmy Nietzsche!). Zum Ziel ist die Erhaltung des Materiellen geworden; der Mensch ist zweitrangig. ... Mit der Neutronenbombe verbannt sich der Mensch aus dem Mittelpunkt an den Rand, denn im Mittelpunkt steht dann die Materie. Materialismus im triumphalen Exzeß oder Leben – was wollen wir schützen? ... Mit seinem Gehirn (?) macht sich der Mensch zu weniger als einem Sklaven der Maschinen: Im Ernstfall ist nicht der Mann, sondern die Maschine erhaltenswert. Die Neutronenbombe ist ein Symbol der Perversion des Denkens“ (Vorwärts).

– Daß diesem Sozialdemokraten, die „Rand“existenz der Leute im Dienst der Erhaltung „des Materiellen“ ausgerechnet an einer amerikanischen Erfindung auffällt, die das schöne Funktionieren friedlicher Ausnutzung des östlichen Wirtschaftsraums in Frage stellen könnte, weist ihn als verantwortlichen deutschen Politiker aus, der seinem Regierungschef bei dem Bemühen beispringt, in der imperialistischen Neuaufteilung der Welt den deutschen Standpunkt gebührend zur Geltung zu bringen.

Daß dem Menschen Bahr die wenig erfreulichen Eigenschaften einer explodierenden Atombombe nur auffallen wollen, wenn eine neue Variante (fast) nur Menschen und nicht auch ihren Reichtum vernichtet, ist seine, nämlich die sozialdemokratische Propaganda für den Krieg: die „moralische“ Leistung des Krieges, daß nämlich hier der Staat das Staatsbürgerdasein seiner Bürger in der physischen Liquidierung ihrer egoistischen Existenz in Erfüllung gehen läßt, um seinen Nutzen zu mehren, und so „dem Menschen“ klarmacht, daß sein Menschsein darin besteht, Mittel des Staates zu sein, verwandelt Bahr mit seiner Kritik in eine Frage der dabei angewandten Waffentechnik – worin folgerichtig auch alle jene Kritiker der Bahr-Kritik mit ihm einig sind, die in Erinnerung bringen“ daß andere Nuklear-Waffen sich für den Zweck, die menschliche Existenz ein für allemal „aus dem Mittelpunkt“ zu rücken, als ebenso wirksam erwiesen hätten, ohne seinerzeit die Kritik des Geschäftsführers gefunden zu haben. So wirbt er für einen Krieg, der seinen sozialdemokratischen Edelcharakter darin hat, daß er mit den Menschen zugleich ihr Hab und Gut zerstört und damit, wenn schon nicht die Menschen, so doch ihr Höchstes: die „Skala aller Werte“ respektiert.
Als sozialdemokratischer Staatsmann hat Bahr damit gegen die Offenheit, mit der die Diskussion um die Vorteile der neuen Bombe den ökonomischen Nutzen als ausschlaggebendes Kriegsziel herausstellt, den Vorrang der höheren vor den Werten im Kampf mit dem Osten wiederhergestellt: Wer kann noch leugnen, daß es um die Freiheit der Unterdrückten und sonst nichts geht, wenn man nicht nur sie, sondern zugleich ihr Land zertrümmert?
Als Mann der SPD hat Bahr gleichzeitig dem Bürger, der gerne vom Staat als Mittelpunkt anerkannt werden möchte, weil er „Sklave des Materiellen“ ist, die eigene Partei als diejenige ans Herz gelegt, bei der die nötigen Kriegsvorbereitungen und ein womöglich anfallender Krieg in den besten und verantwortungsvollsten Händen ist, weil diese Partei auch dann den Menschen zu seiner ausgezeichneten Rolle als Mittelpunkt beglückwünscht, wenn es auf ihn wieder einmal nur als Kanonentutter ankommt.

– Daß dem Chefideologen der SPD die Extravaganzen der Neutronenbombe als „Perversion des Denkens“ auffallen, ist sein spezieller Beitrag dazu, die Ausstattung westlicher Truppen mit dieser Waffe für die öffentliche Meinung der BRD zur Selbstverständlichkeit werden zu lassen. Denn damit hat er erstens jeder möglichen Kritik, vor allem seitens der Linken seiner eigenen Partei, von vornherein den (von dieser sicher beherzigten) Auftrag erteilt, sich, statt um die militärpolitischen Zwecke des Staates, um Probleme eines gültigen Menschenbildes zu kümmern; der Scharfsinn der ZEIT –

„Egon Bahr hat das Sturmsignal gesetzt, damit nicht der Tornado moralischer Entrüstung über seiner unvorbereiteten Partei zusammenschlägt und bevor sich die Menschen auf der Straße des brisanten Themas annehmen.“ –

reicht hin, um festzustellen, daß der Zweck des Bahr’schen „Bombenalarms“ (ZEIT) darin besteht, der Rüstungspolitik seiner Regierung ideologisch den Rücken frei zu halten. Und zweitens kann eine Perversion des Denkens dann so schlimm schon gar nicht mehr sein, wenn sie vernünftig ausdiskutiert wird.

Dem deutschen Volk ist Bahrs Polemik gegen „Materialismus im triumphalen Exzeß“ ein aus anderen Zusammenhängen vertrauter Gedanke. Es ergreift die Gelegenheit, sich kopfschüttelnd darüber zu wundern, wie weit der Materialismus den Menschen bringen kann, und sich daran zu erinnern, daß Bescheidenheit allemal der Preis dafür ist, daß „der Mensch im Mittelpunkt“ bleibt. Moralisch wie es ist, übersetzt es sich Bahrs Kulturkritik an der Neutronenbombe in die staatsbürgerliche Weisheit, daß des Menschen Menschlichkeit nur gewahrt bleibt, wenn es ihm auf sich selbst nicht so sehr ankommt – auch und vor allem im Krieg.

So lernt es auf seine Weise aus der Diskussion der Politiker darüber, wie am rentabelsten Menschen umgebracht werden, daß es so sein muß.

(aus „Hochschulpolitik der Roten Zellen und Marxistischen Gruppen 1976/77. Ein Auswahl“)

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