Der Kampf des Strukturalismus gegen Wahrheit und Individualität: Die Philosophie des inneren Schweinehunds

Man kann der Erlanger Literaturwissenschaft vieles vorwerfen – nur eines nicht: daß es ihr bei ihrem Geschäft, die Studenten anhand der Dichtkunst (und zuweilen auch unter Verzicht auf dieselbe) in staatsbürgerlicher Moral zu unterweisen, am nötigen Aktualitätsbezug mangeln würde. Einem studentischen Semesterprogramm, das sich als Ergänzung eines heißen Sommers Reflexionen über „Handlungsmöglichkeiten, der Repression in uns selbst zu begegnen” (Streikflugblatt) einfallen läßt, steht eine Palette von Veranstaltungen des Germanistenturms gegenüber, deren Programm ein Franzose wie folgt zusammengefaßt hat:
„Ich versuche, die impliziten Systeme zu erfassen, die ohne unser Wissen unser alltägliches Verhalten bestimmen. Ich möchte ihren Ursprung finden, ihre Formierung aufzeigen sowie den Zwang, den sie auf uns ausüben. Und darum versuche ich, mich von ihnen abzusetzen und zu zeigen, wie man ihnen entrinnen kann.” (M. Foucault, Von der Subversion des Wissens, Mü. 1974, Umschlag)
Dieser Mensch hat also gemerkt, daß die Leute in ihrem alltäglichen Verhalten gewissen Zwängen ausgesetzt sind, und entblödet sich nicht, diese in innere Mechanismen zu verwandeln, denen jedermann bewußtlos folgt. Die sehr explizite Erfahrung, daß die meisten Leute arbeiten müssen, weil ihnen das Geld fehlt, möchte der Wissenschaftler aus Frankreich als Auswirkung irgendwelcher „impliziten Systeme” verstanden wissen, die sich hinter dem Rücken der Arbeitenden in ihrem Handeln Geltung verschaffen! Da nach dieser Logik jeder an den Zwängen, die gegen ihn ausgeübt werden, selber schuld ist, muß Foucaults Konsequenz nicht verwundern: Distanz zum eigenen inneren Schweinehund ist angebracht, und statt der Abschaffung all dessen, was zu den bekannten Unannehmlichkeiten des Alltags führt, steht eine „Absetzbewegung” von der eigenen psychischen Struktur an!

Die Herrschaft des Diskurses

Kennzeichen dieser psychischen Struktur des modernen Individuums ist erst einmal, daß sie der Macht des „Diskurses” unterworfen ist:

„Der Diskurs ... ist nicht bloß das, was die Kämpfe oder die Systeme der Beherrschung in Sprache übersetzt: er ist dasjenige, worum und womit man kämpft; er ist die Macht, deren man sich zu bemächtigen sucht.” (Foucault, Die Ordnung des Diskurses, Mü. 1974, 8)

Wahrscheinlich haben die Amis Vietnam mit Flugblättern zerbombt, um der dortigen Bevölkerung die ihnen genehmen Sprachregelungen aufzuzwingen, während der Vietkong seine Landsleute unter das Joch seines kommunistischen Parteivietnamesisch bringen wollte! Die Parallele zu Orwells „1984” liegt auf der Hand: Hier wie dort werden die Leute ausgerechnet dadurch zur Unterwerfung unter bestimmte Zwänge gebracht, daß die Herrscher mißliebige Wörter und Bedeutungen ausschalten – als ob jemand nicht mehr merken würde, daß es ihm dreckig geht, bloß weil sein Großer Bruder sich für seinen Zustand ein besonders hübsches Wort ausgedacht hat! Diese blödsinnige Vorstellung hat es Foucault soweit angetan, daß er die ganze Menschheitsgeschichte als Geschichte sprachlicher „Ausschließungssysteme” darzubieten weiß und sich über seine eigene Erfindung nicht genug wundern kann:

Seltsamerweise wurde in Europa jahrhundertelang (ts, ts!) das Wort des Wahnsinnigen entweder nicht vernommen oder, wenn es vernommen wurde, als Wahrspruch gehört. ... Ob es nun ausgesperrt wurde oder insgeheim die Weihen der Vernunft erhielt – es existierte nicht.” (Ebd., 9)

Daß die Einlassungen von Verrückten im Allgemeinen aus gutem Grund nicht als vollwertige Diskussionsbeiträge anerkannt werden, kommt dem Pariser Professor also seltsam vor. Und zwar nicht, weil er bei seiner vorgesetzten Behörde einen Jagdschein beantragen wollte, sondern weil sich die hypothetische Annahme richtiger (aber unterdrückter) Worte von Wahnsinnigen hervorragend dazu eignet, die wirkliche Sprache als Instrument der Rede in Zweifel zu ziehen und sie als Instrument der Unterdrückung (mittels Ausschließungen) wiederzuentdecken. Offenbar sind es die Bedeutungen, die bestimmte Wörter bestimmten Gegenständen zuordnen, mittels derer die Individuen in ihrem Innersten von „der Macht” geknebelt sind! Was man sich auch so veranschaulichen kann:

„Vom Ende des 17. Jahrhunderts an muß z.B. ein Satz, um ein ‚botanischer’ Satz zu sein, die sichtbare Struktur der Pflanze, das System ihrer nahen und fernen Ähnlichkeiten oder die Mechanik ihrer Flüssigkeiten betreffen (und er durfte nicht, wie noch im 16. Jahrhundert, ihre symbolischen Bedeutungen einbeziehen oder gar die Gesamtheit der Kräfte und Eigenschaften, die man ihr in der Antike zusprach). Ein Satz muß aber auch begriffliche oder technische Instrumente verwenden, die einem genau definierten Typ angehören: vom 19. Jahrhundert an war ein Satz nicht medizinisch, ‚fiel er aus der Medizin heraus’ und galt als individuelle Einbildung oder volkstümlicher Aberglaube, wenn er zugleich metaphorische, substanzielle und qualitative Begriffe enthielt (z.B. die Begriffe der Verstopfung, der erhitzten Flüssigkeiten oder der ausgetrockneten Festkörper); er konnte aber, ja er mußte Begriffe verwenden, die ebenso metaphorisch sind, aber auf einem anderen Modell aufbauen...” (Ebd., 22f.)

Dem hier vorgetragenen Diskurs können einige grundsätzliche Bedenken nicht erspart werden: Erstens berechtigt der Umstand, daß auch in der Botanik und Medizin neue wissenschaftliche Erkenntnisse in Sätzen vorgetragen werden und man sich für neugefundene Sachverhalte auch neuer Wörter bedient oder die Bedeutung der alten ändert, selbst einen Professor „für Geschichte der Denksysteme” wie Foucault nicht dazu, den wissenschaftlichen Fortschritt als einen von Sprachregelungen zu betrachten. Zweitens folgt aus der Tatsache, daß die Botaniker im 16. Jahrhundert bei der Untersuchung der Pflanzen womöglich mehr an den lieben Gott gedacht haben als an die „Mechanik ihrer Flüssigkeiten”, noch lange nicht, daß die Begriffe der heutigen Medizin „ebenso metaphorisch sind, aber auf einem anderen Modell aufbauen”; weshalb auch Foucault hoffen darf, daß ihm bei einer Blinddarmoperation nicht wegen einer bloßen Metapher der Bauch aufgeschnitten wird. Und drittens beweist jemand, der sich pausenlos überlegt, was Sätze können, dürfen oder müssen, keineswegs, daß die Wahrheit eine Vorschrift ist, die von der Wissenschaft seit dem 17. Jahrhundert in repressiver Absicht verordnet wurde, sondern tut nur seine Absicht kund, Wahrheiten durch Vorschriften zu ersetzen!

Zu diesem Zweck ist der Franzose frech genug, das Beharren auf der Wahrheit von Aussagen mit einem aus drei Worten bestehenden Taschenspielertrick in sein gerades Gegenteil zu verwandeln:
„Der wahre Diskurs, den die Notwendigkeit seiner Form vom Begehren ablöst und von der Macht befreit, kann den Willen zur Wahrheit, der ihn durchdringt, nicht anerkennen; denn der Wille zur Wahrheit, der sich (?) uns seit langem aufzwingt (so ein aufdringlicher Kerl!), ist so beschaffen, daß die Wahrheit, die er will, gar nicht anders kann, als ihn zu verschleiern.” (Ebd., 15)
Also gerade derjenige, der außer richtig und falsch nichts gelten lassen will, der sich in seinen Aussagen nicht der Macht anbequemen will und seiner Kritik an irgendetwas nicht dadurch den Schneid abkaufen läßt, daß sie irgendeinem Begehren widerspricht – gerade derjenige ist der Macht am meisten unterworfen, weil sich in ihm ein schrecklicher „Wille zur Wahrheit” betätigt, der „so beschaffen ist”, daß er nicht wahrgenommen werden kann. Jedenfalls solange nicht, wie man auf Wahrheit scharf ist. Entdeckt man jedoch die Vorzüge der Lüge, sieht die Welt gleich anders aus – womit Foucault freilich recht hat. Sein fröhliches Bekenntnis zu einer gesunden Parteilichkeit, der sich ja niemand entziehen kann, ist sein Argument gegen diejenigen Dogmatiker, die immer meinen, die Wahrheit gepachtet zu haben (wer die wohl sind?); und wenn man Foucault Glauben schenkt, ist ja die ganze moderne Gesellschaft bereits diesen Wahrheitsfanatikern verfallen! Umso mehr Grund für ihn, die Gewalttätigkeit der Wahrheit an zwei Punkten nochmal zu verdeutlichen. Erstens:

„Es ist immer möglich, daß man im Raum eines wilden Außen die Wahrheit sagt; aber im Wahren (wo ist das denn?) ist man nur, wenn man den Regeln einer diskursiven ‚Polizei’ gehorcht, die man in jedem seiner Diskurse reaktivieren muß.” (Ebd., 25)

Also nicht nur, daß der Franzmann erneut den Zweifel an Wahrheiten damit begründet, daß es „immer möglich” ist, daß der Mond aus grünem Käse besteht (was die NASA nur noch nicht gemerkt hat). Und nicht nur, daß er so abermals zu dem „Schluß” kommt, daß sich jemand, der auf Wahrheiten aus ist, einem ganz besonderen inneren Zwang unterwirft. Bei diesem inneren Zwang fällt ihm sogar die Polizei ein, und zwar als „diskursive” – womit er seiner Gleichung, daß Wahrheit Gewalt ist, ein anschauliches Bild verliehen und zugleich den nächsten Schluß angekündigt hat. Denn wem die Polizei ausgerechnet da einfällt, wo es um richtig oder falsch geht, der hat an der wirklichen Polizei so wenig auszusetzen, daß er sie vielmehr vor besonders brutaler Wahrheitsanwendung in Schutz nehmen muß; also zweitens:

„Ich denke auch daran, wie das so gebieterische System der Strafjustiz seine Grundlage oder Rechtfertigung zunächst in einer Theorie des Rechts und seit dem 19. Jahrhundert in einem soziologischen, psychologischen, medizinischen, psychiatrischen Wissen (4x Wissen gegen 1x Recht!) sucht: als ob selbst das Wort des Gesetzes in unserer Gesellschaft nur noch durch einen Diskurs der Wahrheit autorisiert werden könnte.” (Ebd., 14)

Wo es doch ganz andere Mittel gibt, dem Gesetz Geltung zu verschaffen!
Die existierende Gewalt des Rechts darf sich also von Foucault bescheinigen lassen, daß es für sie eigentlich keiner Rechtfertigung bedarf, weil sie Gewalt ist. Weswegen die in den Gerichtsgutachtern usw. präsente Wahrheit umso mehr zu fürchten ist, wenn sie sogar eine solche Gewalt vor sich in die Knie zwingt!

Der Staat in uns allen

Bleibt zu erörtern, was diese gewalttätige Wahrheit aus den Individuen macht, an denen sie durchgesetzt wird:

„Als Verbrechen oder Vergehen beurteilt man immer noch Rechtsgegenstände, die vom Gesetz definiert sind, aber gleichzeitig urteilt man über Leidenschaften, Instinkte, Anomalien, Schwächen, Unangepaßtheiten, Milieu- oder Erbschäden; man bestraft Aggressionen, aber durch sie hindurch Aggressivitäten; Vergewaltigungen, aber zugleich Perversionen; Morde, die auch Triebe und Begehren sind.” (Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Ffm. 197, 27)

Das ist also das Schlimme an der modernen Justiz! Früher ist man wenigstens wegen seiner Tat bestraft worden, aber heutzutage werden einem „Leidenschaften, Instinkte, Anomalien, Schwächen, Unangepaßtheiten ...” ausgetrieben; das Perfide an der heutigen Straf Justiz ist, daß an die Stelle der Strafe ein System der Kontrolle und Anpassung getreten ist! Der Staat vernichtet die Gesetzesübertreter nicht mehr, sondern macht sie zu seinen Marionetten, was sich besonders schön an der Guillotine zeigen läßt:

„Beinahe (!) ohne den Körper zu berühren, löscht die Guillotine das Leben aus, so wie das Gefängnis die Freiheit nimmt oder eine Geldbuße Besitztum. Sie soll das Gesetz weniger (!) an einem wirklichen, schmerzempfindlichen Körper vollstrecken als vielmehr an einem juristischen Subjekt.” (Ebd., 21)

Foucault mag der lautlosen Perfektion des Fallbeils seine Bewunderung nicht versagen. Indem die Guillotine weniger den Kopf des Delinquenten vom Körper als vielmehr seine Instinkte und Leidenschaften von seinem juristischen Dasein trennt, verwandelt sie die greifbare Gewalt des Rechts beinahe in einen inneren Zwang; weshalb Foucault die Existenz dieses inneren Zwangs in Gestalt der Seele für eine ausgemachte Sache hält:

„Man sage nicht, die Seele sei eine Illusion oder ein ideologischer Begriff. Sie existiert, sie hat eine Wirklichkeit, sie wird ständig produziert – um den Körper, am Körper, im Körper – durch Machtausübung an jenen, die man bestraft, und in einem allgemeineren Sinn (so!) an jenen, die man überwacht, dressiert und korrigiert, an den Wahnsinnigen, den Kindern, den Schülern, den Kolonisierten, an denen, die man an einen Produktionsapparat bindet und ein Leben lang kontrolliert. (Die Seele) ist das Zahnradgetriebe, mittels dessen die Machtbeziehungen ein Wissen ermöglichen und das Wissen die Machtwirkungen erneuert und verstärkt.” (Ebd., 41 f.)

Diese Seele ist ein beachtliches Werkzeug. Sie ist der Schrittmacher, der Wahnsinnigen und Arbeitern gleichermaßen eingesetzt wird und beide unter der Kategorie „Dressur und Kontrolle” vereinigt; wonach der Verrückte, der mit der Welt nicht zurechtkommt, und der Prolet, der sich für wenig Geld kaputt schuftet, ihr gemeinsames Problem darin erblicken dürfen, daß erstens immer einer hinter ihnen steht und sie zweitens dessen machtbezogenen Blick längst verinnerlicht haben. Die Seele ist das Zahnradgetriebe, mittels dessen die Individuen ein Bewußtsein ihrer Individualität haben und sich mittels dieses Bewußtseins ihr Leben lang selber kontrollieren, sobald die Seele in ihnen verankert ist. Die Seele ist der „innere Zwang” als eigenständige Existenz – kurz, die Seele ist Foucault.
Dieser hat seinen ideologischen Begriff von der Unterdrückung der Individuen durch ihre eigene Individualität, der Dressur der Leidenschaften durch die Reflexion des Bewußtseins, zum Rang einer „Wirklichkeit” erhoben – was ihm Mut gibt, den Unterdrückten noch ein paar weitere Gemeinheiten nachzuwerfen:

Diese Macht ist nicht so sehr etwas, was jemand besitzt, sondern vielmehr etwas, was sich entfaltet ... vielmehr die Gesamtwirkung ihrer (!) strategischen Positionen – eine Winkung, welche durch die Position der Beherrschten offenbar und gelegentlich erneuert wird. Andererseits richtet sieh diese Macht nicht einfach (sondern umständlich?) als Verpflichtung oder Verbot an diejenigen, welche ‚sie nicht haben’; sie sind ja von der Macht eingesetzt, die Macht verläuft über sie und durch sie hindurch...” (Ebd., 38)

Mit der Macht ist es scheint’s wie mit einer Kanone. Diese ist ja bekanntlich auch nichts, was jemand besitzt, sondern vielmehr identisch mit dem Loch, das sie schlägt. Weshalb es sonnenklar ist, daß die Kanone sich gegen nichts richtet, sondern eher über ihre Ziele verläuft bzw. durch sie hindurch...
Womit immerhin darauf hingewiesen wäre, daß die Opfer der Unterdrückung ja nicht so viel auf sich halten sollen, wo doch die Macht durch sie hindurch verläuft, also einerseits ihre Gegner eigentlich auch keine Macht „haben”, sie selbst andererseits nicht viel besser als die Gegner sind – weshalb man mit der Unterscheidung von Unterdrückern und Unterdrückten auch gleich aufhören kann und sich bei der Konstatierung bestimmter Zwänge damit zufrieden geben muß, daß hinsichtlich des inneren Schweinehunds, der sie in Gestalt von Wissen und Bewußtsein regiert, ohnehin alle Menschen gleich sind!

Brecht die Macht der Individualität! Werdet Tiere …

Diese an der Aufrechterhaltung der Zwänge interessierte Weisheit wird von zwei anderen Franzosen zum Ausgangspunkt der Vorstellung von praktischen Konsequenzen aus der trostlosen Diagnose genommen:

„Da eine klare Trennung von Unterdrückern und Unterdrückten nicht möglich ist (wenn man auf deren Zusammengehörigkeit Wert legt!) ... gilt es eben, sie alle gemeinsam voranzutreiben in eine nur allzu mögliche Zukunft. ... Wie das Tier, das geschlagen wird, die Bewegung des Schlags nur mitmachen und ihr ein wenig zuvorkommen kann, um dann besser zurückzuschlagen und zugleich einen Ausweg zu finden.” (G. Deleuze/F. Guattari, Kafka. Für eine kleine Literatur, Ffm., 81 f.)

Der eingenommene Ausgangspunkt desavouiert die angeblich mit dem Mitmachen verbundene Intention des besseren Zurückschlagens allerdings beachtlich, so daß vermutet werden muß, daß es sich hierbei mehr um ein Ideal handelt, das die praktizierte Unterwerfung begleiten soll, als um ein tatsächlich verfolgtes Ziel. Diese Vermutung machen die beiden Autoren zur Gewißheit, wenn sie ihrer Kafka-Lektüre folgendes entnehmen:

„Tier-Werden heißt genau, die Bewegung vollführen, die Fluchtlinie trassieren, eine Schwelle überschreiten, vordringen zu einem Kontinuum aus Intensitäten, die nur noch für sich selber Geltung haben, eine Welt aus reinen Intensitäten finden, wo alle Formen sich auflösen, alle Bedeutungen, Signifikanten und Signifikate, um lediglich ungeformte Materie, deterritorialisierte Ströme, asignifikante Zeichen übrig zu lassen.” (Ebd., 20)

Abgesehen von der tollkühnen Unterstellung, ausgerechnet der pedantische Grammatiker Kafka habe die Schwelle zur „ungeformten Materie” überschreiten wollen, teilen uns Deleuze und Guattari hier mit, wie die Fluchtlinien in der Welt des inneren Schweinehunds zu trassieren sind: Erstens ist Klarheit darüber gefordert, daß Bedeutungen = Wahrheiten die Maschinerie sind, welche die Psyche des modernen Menschen unterdrücken. Womit zweitens das, was da unterdrückt wird, als das Tier in uns bestimmt wäre: alle die ungeformte Materie, die in uns steckt und düster brodelt. Deren Befreiung kommt allerdings drittens nicht umhin, wieder ein Zeichen zu setzen, nur diesmal ein asignifikantes, welches nur für sich selber Geltung hat. Was sich Deleuze und Guattari an Kafka theoretisch vorführen, ist also ein Spontaneismus, der anderswo praktiziert wird: Wer kennt nicht die Gesellen, die sich Jacken aus bunten Flicken zurechtnähen, Federn ins Haar stecken oder die unmöglichsten Töpfe als Hüte präsentieren – nur um zu demonstrieren, daß man's nicht mit festen Bedeutungen oder Nützlichkeiten zu tun hat? Auf Vollversammlungen kommen sie zuweilen mit Trommeln angetanzt, um damit für den Verzicht auf Argumentation zu argumentieren; und fragt man sie, wozu ihr Blödsinn gut sein soll, schimpfen sie auf das Zweckdenken, das überhaupt an allem schuld sein muß. Bei ihrem angestrengten Bemühen, nichts so zu nehmen, wie es ist und auch noch das Unlustigste lustig zu finden, haben sie inzwischen schon die Uni als Lebensraum entdeckt und zwingen sich, dort ihre Feste zu feiern!
Die theoretische Fassung dieses Standpunkts erreicht den Gipfel ihrer Abgeschmacktheit darin, daß Deleuze und Guattari sich auf die Suche nach den Bedingungen der möglichen Fluchtlinien machen. Denn solcher bedarf es natürlich, wenn das Bewußtsein der Individuen in die Ketten der Persönlichkeit gelegt ist. Man erfährt dabei erneut Erstaunliches über Kafka, der auf seinem Bett nicht nur geschlafen haben soll:

„Kafka erlebt seinen mageren, blutarmen Körper nicht als Schande, er tut nur so. (Wovon sich seine Interpreten aber nicht täuschen lassen!) Er lebt ihn als Mittel, um auf dem Bett in seiner Kammer Schwellen zu überschreiten, Verwandlungen durchzumachen...” (Ebd., 42)

Wie gut es doch ist, wenn man einen mageren, blutarmen Körper hat! Die Individualität der anderen Leute ist ja schon durch ihre zu gute Ernährung an die Unterdrückung gefesselt! Dieses schweinische Plädoyer für den Konsumverzicht als Mittel der „Überschreitung von Schwellen” kann auch nur von Leuten vorgetragen werden, deren Konsum soweit gesichert ist, daß sie zwischendurch auch mal den Kafkaschen Hungerkünstler nachspielen können!! Kein Wunder, daß von den Brüdern an anderer Stelle die irischen Zustände als „hervorragende Bedingungen einer kleinen Literatur” (kleine Literatur = die Literatur, die angeblich das Befreiungsproblem der Deleuze und Guattari behandelt, z.B. Kafka, Beckett) genannt werden: Irland ist erstens eine Insel (Eigenständigkeit!), zweitens das Armenhaus Europas (also noch nicht so „der Macht” unterworfen, gerade weil es solange den Engländern unterworfen war) …

… oder Zyniker

Die in den behandelten Theorien über die Herrschaft des inneren Schweinehunds angelegten tierischen Konsequenzen sind nicht jedermanns Sache. Besonders für diejenigen nicht, die ihren Nutzen daraus schlagen, daß sie anderen die Verachtung der Wahrheit als absolut gültige Wahrheit beibringen und keine anderen Charaktere in ihren Seminaren hochkommen lassen als jene, die sich zu ihren Schwächen als positive Eigenschaften bekennen und ihre Persönlichkeit als Mittel des Fortkommens zu schätzen wissen. Solche Leute merken sich von den strukturalistischen Thesen ebendies: Wenn sich Wahrheit und Individualität in letzter Instanz auflösen in Formen der Machtausübung, dann müssen sie als Mittel der Überlegenen eingesetzt werden. Woraus sich auch wieder ein aktuelles Seminarthema machen läßt, indem man nämlich den alten Nietzsche heranzieht:

„Soweit das Individuum sich gegenüber anderen Individuen erhalten will, benutzt es in einem natürlichen (!) Zustand der Dinge den Intellekt zumeist nur zur Verstellung...: weil aber der Mensch zugleich aus Not und Langeweile (!) gesellschaftlich und herdenweise existieren will, braucht er einen Friedensschluß… Jetzt wird nämlich das fixiert, was von nun an ‚Wahrheit’ sein soll, das heißt, es wird eine gleichmäßig gültige und verbindliche Bezeichnung der Dinge erfunden...” (F. Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn, in: F. Nietzsche, Werke Bd. III, Ffm . 1969, S., 1018/1019)

So einfach ist die Destruktion der „Wahrheit”! Erst denkt der Philosoph sich von der Konkurrenz den Staat weg, entdeckt wenig überraschend, daß in diesem von ihm erfundenen „natürlichen Zustand der Dinge” der allgemeine Kampf losbricht, der etwas anachronistisch hauptsächlich durch Diplomatie geführt wird (als ob sich seine Neandertaler mit ihrem Intellekt gestritten hätten!), was sehr „langweilig” ist, wenn man sich dauernd bescheißt, weswegen die Herren Naturdiplomaten den Staat, ohne den ihr Naturzustand nicht klappt, wunschgemäß wieder einführen, und zwar, indem sie die kleinsten gemeinsamen Lügen als „Wahrheiten” vertraglich fixieren, wovon der Urtext leider verloren gegangen ist. Obwohl Nietzsche ihn auch nicht gefunden hat, langt ihm sein konstruiertes Welttheater völlig zu einer Verachtung der Sprache, deren Wahrheitsgehalt ihn nicht kümmert, obwohl er reichlich Gebrauch, davon macht:

„Jenes ungeheure Gebälk und Bretterwerk der Begriffe, an das sich klammernd der bedürftige Mensch (dieses Würstchen!) sich durch das Leben rettet, ist dem freigewordenen Intellekt nur ein Gerüst und ein Spielzeug für seine verwegensten Kunststücke: und wenn er es zerschlägt, durcheinanderwirft, ironisch wieder zusammensetzt, das Fremdeste paarend und das Nächste trennend, so offenbart er, daß er jene Notbehelfe der Bedürftigkeit nicht braucht (so?) und daß er jetzt nicht von Begriffen, sondern von Intuitionen geleitet wird.” (Ebd., 1029)

Außerdem offenbart er, daß er sich’s leisten kann.

Der Strukturalismus in der Ausbildung

Die staatsbürgerliche Moral des Strukturalismus: daß alles, was den Leuten von ihrem Staat und von anderen an Widrigkeiten angetan wird, sich auf einen inneren Schweinehund zurückführt, der in einem selbst steckt, und daß man daher bei sich anzufangen hat, wenn sich der Wille nach Veränderung regt, legt eine bestimmte Art von Ausbildung dieses Standpunkts nahe. Deren Geheimnis liegt einfach darin, daß schon in die Seminargestaltung das Ausbildungsziel des Seminars eingeht – demonstriert werden muß erstens, daß jeder Seminarteilnehmer betroffen ist, zweitens daß alle Gegenargumente nur Argumente dafür sind, und drittens, daß zur Diskussion die Einnahme des gefragten Standpunkts unerläßlich ist.

Die Dreifalt der in Frage stehenden Seminare gestaltet sich also doch recht eintönig:

Kittler (Foucault) erarbeitet sich die strukturalistische Einstellung fein theoretisch, indem er
1. falsche Alternativen diskutieren läßt – z.B. wer war zuerst da, das Volk oder der Staat? Diese blöde Frage, die sich auf der einen Seite ein Volk ohne Staat (wodurch wird das denn zum Volk?), auf der andern einen Staat ohne Volk (wahrscheinlich von geborenen Politikern erfunden) vorstellt, mündet zwangsläufig
2. in ein „Henne-Ei-Problem”, was aber für niemanden Anlaß ist, die Frage zu kritisieren, sondern vielmehr sie im strukturalistischen Sinne dennoch zu beantworten:
3. Die Differenz von Volk und Staat ist Ideologie, es gibt nur eine Verflechtung von Markttechniken.
4. Einwände von irgendwelcher Seite lassen sich nun leicht als versteckte Machttechnik entlarven. Wer sich auf das Bisherige eingelassen hat, ist jetzt verratzt, und die Frage „Kommt da als einzige Möglichkeit, sich zu wehren, nicht bloß noch raus, daß man macht, wozu man Lust hat?” läßt sich elegant kontern: „Aber was ist wiederum Lust?”

Pfotenhauer (Nietzsche, Freud) geht zusätzlich dazu über,
1. sich eines Konsens darüber zu versichern, daß es in diesem Seminar nicht um richtig oder falsch gehen darf, und stellt sich dazu gleich eine Kasse vor, in die jeder, der ein so häßliches Wort gebraucht, Zehnerl werfen müßte;
2. den Zwangscharakter der Sprache an Fehlleistungen zu demonstrieren: „Wir werden dazu im Seminar viel Anschauungsmaterial haben!” (er bedauert das Fehlen einer Couch),
3. positiv ergänzt durch die Aufforderung, die betrachtete Literatur „unter persönlichen Gesichtspunkten” zu lesen und zu diskutieren.

Hiebel (Deleuze/Guattari) bedient sich der Seminarform der TZI mit ihren drei goldenen Regeln (von ihm genannt, nach Bedarf ergänzungsfähig):
1. Sei dein eigener chair man! – Was nicht heißen soll, halte an deinem Zeug fest und vertritt es; umgekehrt: Du sollst nicht immer nach Erklärungen fragen, gib lieber irgendwas dazu, der andere will auch nicht mehr!
2. Nicht „man” verwenden, sondern „ich”! – Niemand soll sich anmaßen, er würde was Richtiges sagen, sondern soll gleich zum Ausdruck bringen, daß er hier seine persönliche und unverbindliche Meinung abgibt!
3. Wer Vorschläge macht, darf nicht den Schwarzen Peter kriegen! – Wo kämen wir denn hin, wenn jeder seinen Senf auch noch begründen wollte? Allseitige Machtausübung !

Und im übrigen: „Intellektueller Scheiß ist nicht gefragt!”

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(aus: Marxistische Gruppe Erlangen, Fachbereichszeitung FB Sprach- und Literaturwissenschaften, Nr. 4, Juli 1977, S. 3-10)

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