F.D.P. – „Fortschritt durch Vernunft“
Wozu braucht Deutschland die Liberalen?

 

Aufgrund einer „Ungeschicklichkeit“ (SZ) mußte der Generalsekretär der FDP, Martin Bangemann, vor einigen Monaten seinen Posten räumen: er hatte sich gegen eine „eindeutige und vorzeitige“ Festlegung seiner Partei auf die SPD und stattdessen für eine „Öffnung“ gegenüber der CDU/CSU ausgesprochen und befand sich mit diesem Vorschlag in Gegensatz zu seiner Parteileitung. Allerdings ist auch die FDP-Führung gegen eine „eindeutige und vorzeitige“ Koalitionszusage, aber sie versteht darunter etwas anderes als der in Ungnade gefallene Bangemann: während die FDP bekanntgibt, daß sie ihre endgültige Zu- oder Absage vom Verhalten der CDU auf deren nächsten Parteitag abhängig machen will, ist längst allen Beteiligten klar, daß die FDP in der nächsten Legislaturperiode noch mit der SPD zusammenbleiben will. Diese Taktik – die Katze nicht aus dem Sack lassen zu wollen, obwohl sie längst draußen ist – enthüllt das Problem, mit dem sich die FDP als eine Partei, die bei jeder Wahl schon darum bangen muß, ob sie überhaupt die 5 Prozent der Stimmen bekommt, die sie für ihren Platz im Parlament braucht, herumschlagen muß: bindet sie sich durch eine feste Koalitionszusage an eine Partei, so riskiert sie, daß sich der Wähler gleich für diese, die Koalition dominierende Großpartei entscheidet. Wenn sie dagegen die Koalitionsfrage bis nach der Wahl völlig offenläßt, kann der Wähler nicht wissen, weiche Partei er zusammen mit der FDP gewählt hat, obwohl er sich sicher sein kann, daß es einen Koalitionspartner geben wird.

„Eigenständigkeit nicht durch Wackelei“

Nicht zufällig erweckt die FDP daher den Anschein, als wüßte sie nicht so recht, was sie mit wem anfangen will und hat alle Hände voll zu tun, dieses Image möglichst zu zerstören. Genscher z. B. in einem ,,Spiegel“-Gespräch (,,Eigenständig nicht durch Wackelei“, Mai 1975) betont nachdrücklich:

„Es wird niemandem gelingen, unsere Verläßlichkeit als Partner in Zweifel zu ziehen.“

Gleichzeitig aber kommt er nicht umhin, mit aller Deutlichkeit klarzulegen, daß die beiden anderen Parteien ebenso wie der wählende Bürger immer darauf gefaßt sein müssen, daß die FDP von Zeit zu Zeit ihren Partner wechselt. Denn – so Genscher – die „Eigenständigkeit“ seiner Partei besteht gerade in ihrer Offenheit für beide Großparteien:

„Eigenständigkeit hat das Ziel, ein festes Fundament für die Zusammenarbeit zweier selbständiger Parteien in einer Koalition zu erhalten ... Ihre Eigenständigkeit findet sie (die FDP) in ihrer programmatischen Grundlage.“

Genscher dokumentiert somit, daß sich die Partei der Freien Demokraten von vornherein nur als Koalitionspartner versteht und gibt gleichzeitig zu erkennen, daß es ein Hauptproblem für die FDP darstellt, in diesen Koalitionen nicht völlig unterzugehen, weshalb sie ihrem Programm die Funktion zumißt, ihr in den Koalitionen Gewicht zu verleihen. Ihr Programm hat den Zweck, sich an jede Partei anhängen und dabei doch die Eigenständigkeit betonen zu können.

Dieses Ziel, die FDP trotz Koalitionen als für sich wählbare Partei zu präsentieren, führte auch der letzte Parteitag in seinem Hin- und Herlavieren zwischen Festlegung und Offenheit für Koalitionen vor. Der Parteivorsitz forderte, es müsse dem Bürger ermöglicht werden, „sich bei der Wahl mit uns Liberalen zu identifizieren, nicht als Partner dieser oder jener Koalition.“ Unter dem Motto „Wir sind wieder wer“ (Genscher) zeigten die Liberalen auf ihrem Parteitag, wer sie sind, indem sie jede Diskussion über ,,Sachfragen“ (Berufsbildungsreform, Vermögensbildung, Investitionslenkung und staatliche Wirtschaftsbeeinflussung) systematisch abblockten oder bis auf weiteres vertagten. Der Parteitag, dem selbst die Liberalen „programmatischen Leerlauf“ (Genscher) bescheinigen mußten, erreichte dennoch, oder vielmehr gerade dadurch sein Ziel: er demonstrierte die „Eigenständigkeit“ ebenso wie die „Offenheit“ der FDP nach allen Seiten, indem er zeigte, daß deren Programm nicht darin besteht, eine zu den anderen Parteien gegensätzliche, eigene Position zu formulieren, sondern daß es die FDP vielmehr als ihre Aufgabe ansieht, die Einseitigkeit der beiden anderen Parteien durch den „liberalen Faktor“ zu korrigieren:

„Die FDP bittet die Wähler, unser Land vor dem Abenteuer eines Rückfalls in die konservative Erstarrung ebenso zu bewahren, wie vor einer Herrschaft ideologischer Fanatiker.“ (Wahlaufruf 1972)

Die FDP versteht sich demütig-unverschämt als Ergänzung zu den beiden anderen Parteien. Ihr Programm, in dem die „liberale Komponente“ schriftlich fixiert ist, eignet sich prächtig, sich nach taktischen Erwägungen an die eine oder die andere der sich befehdenden bürgerlichen Großparteien anzuhängen.


,,Menschenwürde durch Selbstbestimmung“

„Auf die Frage, was denn den liberalen Demokraten von allen anderen unterscheide und auszeichne, pflegen wir die Antwort zu geben: sein unbedingtes Eintreten für die Wahrung und Mehrung menschlicher Freiheit. Damit ist alles und doch nichts gesagt. Ist Freiheit doch, zumindest als Lippenbekenntnis, heute in aller Munde, auch in dem Sozialer und Christlicher Demokraten.“ (27)

Der Unterschied zu den anderen Parteien, so betont also die FDP, soll darin bestehen, daß es ihr mit dem Programm der „Freiheit der Persönlichkeit“ wirklich ernst ist. Sie setzt sich für die schrankenlose Selbstverwirklichung des Individuums ein, für den Menschen:

,,Wo immer vom Menschen geschaffene Einrichtungen (Institutionen) in Staat und Recht, in Wirtschaft und Gesellschaft“, sich gegen „die Zwecke der Menschen“ richten, da ,“nimmt liberale Gesellschaftspolitik Partei für die Person, gegen die Institution.“ (60)

Der Witz dieser programmatischen Aussage besteht darin, daß sie — wörtlich genommen — absolut unsinnig ist: der Mensch (der Mensch schlechthin) hat sich etwas geschaffen, was gegen seine eigenen Zwecke verstößt (was er also gar nicht will) und deshalb (!) ergreift die FDP für den Menschen Partei (anstatt z. B. „den Menschen“ dazu aufzufordern, er solle sich künftig etwas ,,schaffen“, was seinen Zwecken entspricht …). Es ist also etwas anderes gemeint: Die FDP konstatiert, daß es Interessengegensätze und daher Konflikte gibt zwischen dem einzelnen Bürger einerseits und dem Staat samt seinem Recht und der Gesellschaft, insbesondere der Wirtschaft, andererseits und tut zugleich kund, daß sie sich weder für Gründe interessiert (es genügt die Feststellung, daß es kracht), noch gewillt ist, zwischen „dem Menschen“, der z. B. in der Regierung sitzt oder Wirtschaftsboß, ist und „dem Menschen“, der regiert wird oder als Arbeiter beschäftigt wird, zu unterscheiden. Die FDP hält sieh sogar etwas darauf zugute, die gesellschaftlichen Gegensätze nicht sehen zu wollen und sie als demagogische Einteilungstricks anderer Parteien abzulehnen:

„Wir halten nämlich...nichts davon, unser Volk in zwei Lager — etwa (!) Arbeitgeber und Arbeitnehmer - zu teilen“. (Hamm-Brücher: ,,Alte Rollenbilder überwinden.“)

Und an der heutigen „Industriegesellschaft“ springt der FDP nichts anderes ins Auge, als daß sie ein unpersönliches Herrschaftsverhältnis (den „Apparat“) darstelle, das sich von allen vorherigen nur dadurch unterscheidet, daß

„die Zahl der Abhängigen wächst. Abhängigkeit aber ist das alte Problem des Liberalismus.“ (Womit die Notwendigkeit der FDP bewiesen wäre.) (44)

Mit diesem penetranten und zu allen unpassenden Gelegenheiten vorgetragenen Einsatz für „die Freiheit der menschlichen Persönlichkeit“ aber meint die FDP natürlich keinesfalls, daß sie sich als Partei, als eine staatliche Institution mithin, selbst bekämpfen will. Im Gegenteil bekräftigt sie, daß

notwendig menschliches Zusammenleben wie persönliches Dasein ein bestimmtes durch Recht und Moral erzwungenes Mindestmaß (!) an Konformität und Kontinuität fordert.“ (60)

Weil es demnach die FDP sowohl mit ,,dem Einzelnen“ (1. Der Duden sind wir alle. 2. Der Duden gilt nicht immer.) hält, dessen ,,freie Selbstbestimmung“ durch Staat und Gesellschaft „eingeengt“ wird, als auch mit den gesellschaftlichen Zwängen, die ihn einengen müssen, damit die „freie Selbstbestimmung“ gewährleistet bleibt, meint sie, diesen Gegensatz beider Seiten dadurch vom Tisch wischen zu können, daß sie ihn in Harmonie auflöst: sie erklärt Staat, Gesellschaft und Bürger für identisch, um sodann den Bürger aufzufordern, sich von seinem anderen Ich nicht zu viel gefallen zu lassen:

„1. Der Staat sind wir alle. 2. Der Staat darf nicht alles.“ „I. „Die Gesellschaft sind wir alle. 2. Die Gesellschaft darf nicht alles.“

„1. Der Betrieb sind wir alle. 2. Der Betrieb darf nicht alles.“ (Freiburger Thesen, 20)

Wenn die FDP mit ,,doppelten Grundsätzen“ dem Bürger klarmachen will, daß es das Problem der „modernen Industriegesellschaft“ und damit der liberalen Politik) — nämlich die Unterdrückung des einzelnen durch den Staat etc. — eigentlich gar nicht gibt — jeder einzelne ist ja der Staat, die Gesellschaft, der Betrieb —, dann mutet sie ihm nichts anderes zu, als in den Beschränkungen seine eigenen Zwecke zu erkennen und sie als seine Freiheit zu akzeptieren. Nur wenn der Bürger die gesellschaftlichen Zwänge wirklich anerkennt, kann er den Zynismus aufbringen, den die FDP ihm abverlangt, nämlich

,,die Freiräume für die Individualität des Menschen und die Spielräume für Pluralität der Gesellschaft gegen zerstörerische Fremdbestimmung und übermächtigen (!) Anpassungszwang zu behaupten.“ (60)

Der Bürger weist also den Staat, die Gesellschaft, den Betrieb in die Schranken („der Staat...darf nicht alles“), indem er sich nicht alles nehmen läßt, sondern sich seinen Freiraum neben dem brutalen Alltag sucht! Damit ist's aber noch nicht genug, denn unter dem Motto ,,Der Staat ... sind wir alle“ klärt die FDP auch noch darüber auf, wie der mündige Bürger seine Spielräume gestalten soll: Da es die Identität des Bürgers mit den Einrichtungen der Gesellschaft und des Staates überhaupt nicht gibt, wenn sie nicht immer wieder neu hergestellt wird, und weil dieser ständige Prozeß der „Demokratisierung der Gesellschaft und des Staates“(62) einzig und allein die Leistung des Bürgers ist, verlangt die FDP von ihm, aktiv zu werden. Er soll seine Unterdrückung nicht nur aus freien Stücken gutheißen, sondern daran selbstverantwortlich teilhaben. Ziel Vorstellung der Liberalen ist

„eine Ordnung der größtmöglichen und gleichberechtigten sozialen Teilhabe und Mitbestimmung aller Bürger an der arbeitsteiligen Organisation der Gesellschaft“. (62)

Was sich die FDP von einer solchen „Verwandlung“ der Bürger „von Untertanen in Bürger“ verspricht, liegt auf der Hand: eine Entschärfung der Konflikte ist zu erhoffen, wenn derjenige, der davon betroffen ist, sie selbst mitzuverantworten hat.

aus: MSZ 9 – Januar 1976

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