Europawahlen

Sachdienliche Hinweise für europäische Linke in Deutschland


1. Was hat es mit den Europawahlen auf sich?

Auch bei den Wahlen zum Europa-Parlament ist Zustimmung gefragt. Die Repräsentanten und Macher der nationalen Politik – also jene Männer und Frauen, die in den nunmehr zu eng befundenen Grenzen Reichtum und Armut, d.h. ihren Gegensatz verwalten – rufen ihr Volk als Stimmvieh dazu auf; mit einem zusätzlichen Urnengang neuen außenpolitischen Techniken den nationalen Segen zu erteilen. Mit der neunfach abgewandelten Losung ,,Wir können unsere Probleme nicht ohne Europa lösen!“ verlangen die Herrschaften einen neuen Typus nationaler Pflichterfüllung. Die Lüge des „wir“, die schon innenpolitisch reichlich strapaziert wird, um aus Staatsmännern ehrenwerte Leute zu machen, stützt dieser Tage ein nicht nur in Kriegszeiten fragwürdiges Anliegen: jedermann soll so tun, als wäre die Durchsetzung seiner Nation gegen andere zu seinem Besten. Dabei ist es ein offenes Geheimnis, daß weder arbeitende noch studierende „Massen“ die „Kooperation“ der Nationen erfunden haben. Das Subjekt des Einigungswerks sind dieselben Leute, die ihren lieben Landsleuten ein freies Zusammenleben mit strahlenden Atomkraftwerken, billiger Arbeitsenergie, demokratischen Berufsverboten und Mildred Carstens bescheren. Diese Subjekte haben aufgrund langjähriger Erfahrung in Kommissionen, Ministerräten, Handelsgesprächen und NATO-Sitzungen beschlossen, daß Europa reif für ein Parlament ist. Zu früheren Zeiten mußte zur Überzeugung solcher Typen von der Angemessenheit demokratischer Herrschaftsverfahren noch blutige Überzeugungsarbeit geleistet werden. Heute haben sie Geschmack gefunden an der Effizienz ständiger Beratung und Beschlußfassung mit ihresgleichen; so sehr, daß sie ganz freiwillig bei ihren Völkern das Signal blasen: nur in der Internationale kommt eine Nation noch voran, auch und gerade dann, wenn die demokratische Zustimmung im Innern die Früchte des Kapitals wachsen läßt. Und wo die Anzahl der Streiktage, das Ausmaß der Armut, die beherrscht sein will, und die Subventionierung des Kapitals das Regieren so schwer machen, da ist der Internationalismus der „Verantwortlichen“ noch viel dringender nötig. Sie lassen sich auch gerne von Helmut Schmidt darüber belehren, zumal die fälligen Opfer ihres Landes nicht die ihren sind und das Regieren nach Maßgabe der ,,Gemeinschaft“ allemal leichter wird.


2. Was also ist Grund und Zweck der europäischen Einigung?

Auf keinen Fall die Entdeckung der Produktivkraft „Solidarität“! Eher schon die Tatsache, daß konkurrierende Staaten den Reichtum an Natur und Menschenmaterial, der sich im fremden Herrschaftsbereich befindet, in den bisherigen Ausgestaltungen der Partnerschaft noch nicht genügend für ihr nationales Kapital und damit für sich nutzbar machen konnten. So unverhüllt diese Vermutung an Rohstoffabkommen und Gastarbeitern bestätigt wird, also nicht als Hypothese, sondern als These des Imperialismus angesehen werden darf, so wenig „Glauben“ wird ihr geschenkt. Es muß schon ein schwieriger und schwer zu belegender Gedanke sein, daß ein staatlicher Gewaltapparat nach außen kein anderes Interesse verfolgt als nach innen auch – selbst Leute, die gern vom „Klassenstaat“ reden, mißverstehen sein Wirken gerne als soziale Wohltat, die nur noch nicht gerecht genug ausgeführt wird! Und wenn er sich gar in Verträgen und um sie mit anderen liebenswürdigen Zeitgenossen herumstreitet, wer vom internationalen Handel den Vorteil haben soll und wer nicht, wird mit Vorliebe vergessen, daß der Vertrag eine Angelegenheit der Konkurrenz ist, hinter der die Gewalt lauert.

Dabei ist bei den Jet-Ausflügen der Politiker (und der Begleitung, in die sie sich immer begeben) immer nur von einem die Rede: ob die Erpressung gelingt, die im freundlichen Gespräch unter Wahrung aller Formen offeriert wird, weil die bereits erreichte Abhängigkeit da einige Handhabe bietet – es sind nämlich nicht alle von allen ,,irgendwie“ abhängig. Wie gesagt: dem nationalen Reichtum gelten Worte und Taten in der Politik noch immer, und existieren tut dieser Reichtum als Privateigentum, das die Freiheit hat, andere ganz gleichberechtigt zu behandeln und sie vom Genuß ihres Werkes ganz sozial auszuschließen. Und allein die Tatsache, daß es zur „sozialen Ausgestaltung“ dieser Ordnung ziemlich viel Gewalt braucht, macht deutlich, daß es einem Sozialstaat um die Verwaltung von Armut geht. So gesehen, ist das Bedürfnis von ganzen Regierungsmannschaften, sich ständig über die Konkurrenzbedingungen zu verständigen, in Straßburg also die ganze Woche über die Schranken zu reden, die der „Partner“ immer noch bereithält, verständlich. Man weiß ja, welche Schwierigkeiten Erpresser-Telefonate immer wieder mit sich bringen.

Das ist natürlich ganz abstrakt, weil der Deutsche, Italiener, Franzose, Engländer (Luxemburger nicht zu vergessen) ... es eben wegen der Internationalisierung des Kapitals inzwischen mit Multis zu tun hat. Und die haben – wie der Name schon sagt – nur einen Haken: obwohl durch tatkräftigen Einsatz der Nationalstaaten zustandegekommen, kommen sie mit ihren Erfolgen nicht jeder Nation zupaß.

Der Gegensatz multi/natio bezieht ja seine völkerverbindende Kraft gerade daraus, daß der Nutzen von Luigi und Denise, Mary und Fritz in ihm überhaupt nicht mehr vorkommt. Der Nationalismus ist hier gefragt und nicht der schäbige Materialismus des kleinen Mannes, dem es eigentlich wurscht sein kann, ob er sich an einer Maschine mit ausländischer Haftung selbstverwirklichen darf oder am Gerät seines Landsmannes. Er kann sich aber auch als guter Deutscher einigermaßen darüber freuen, daß die Geschäftsleute, Minister und Militärs eines vereinten Europa gegen andere (Gelbe, Yankees & Russen) besser dastehen. Dafür kann er schon im Urlaub mal die Eigenart des anderen Volkes seinem Vorurteil entziehen oder unterwerfen, oder auch als Student der fremden Sprache ihre Logizität oder Melodie bescheinigen sowie ausländische Folklore gut finden. Wenn der europäische Nationalismus auch nicht immer ganz plausibel erscheint, weil er einfach den Berechnungen höherer Staatskunst entspringt und nicht den Sorgen gewöhnlicher Menschen – eine Stärkung bedeutet er schon.

Es gibt im übrigen noch ganze Landstriche, die geographisch zu Europa gehören und deren wirtschaftliche Erschließung immerhin schon soweit gediehen ist, daß in SALT-Verhandlungen über die kriegerische Austragung des Wettbewerbs gefeilscht wird. Unter dem Titel „Abrüstungs- & Friedenspolitik“ wird ja längst alles unternommen, den Krieg wieder zu einer kalkulierbaren Unternehmung zu machen – für den Fall, daß jemand unsere Interessen beeinträchtigt und Europa auf seine bisherigen Ausmaße reduzieren will.


3. Wie verteilen sich Nutzen und Nachteil im werdenden Europa?

Zwischen den Nationen etwas gründlicher. Zwischen ihren Bürgern daheim deshalb auch.

4. Wofür ist der Irrtum gut, Internationalismus sei kein Nationalismus?

Fürs Wählen nicht. Deshalb grassiert innerhalb der Parteien die ernste Sorge um die Wahlbeteiligung. Heinz Oskar Vetter zur „WELT“ auf die Frage nach dem Grund für seine Kandidatur: ,, ... daß die Arbeiter überhaupt zur Urne gehen.“ Und, als konsequentester Verfechter des „wir“, so, als wäre eine Gewerkschaft eine Regierung:

„Wir müssen sehen, wo sind wir in der Weltkonkurrenz eingebunden, was müssen wir haben, um zu überstehen, gute saubere, termingerechte Arbeit. Und dann müssen wir auch noch preismäßig richtig liegen.“

Für die gewissenhafte Beteiligung der Linken schon! Die können sich nämlich der Erörterung des Problems widmen, was mit einem „Europa der Konzerne und Multis“ anzustellen geht. Oder sich ganz entschieden gegen Otto von Habsburg wenden und so tun, als wären Brandt & Schmidt, wie übrigens immer, das kleinere Übel. Oder in Europa eine ,,Chance für die Grünen“ oder „eine Möglichkeit für demokratische Alternativen“ wittern. (Diese Linken machen noch aus dem nächsten Krieg eine Chance für ihre idiotischen Ideale!) Oder zwischen dem Standpunkt der deutschen, italienischen ... d.h. europäischen Linken und „Bürgerbewegung“ hin und herrechnen. Oder angelegentlich der Europa-Wahlen sich eine Reihe von Fragen stellen, zu denen sie sich angesichts des staatlichen Vorgehens nach innen wie nach außen schon immer gern animieren ließen:

– „Wie steht die westdeutsche Linke zur europäischen Arbeiterbewegung?“ (Tja, wenn ihr's selber nicht wißt!)

– „Und wie zur ökologischen Protestbewegung?“ (s.o.)

– „Welche Einschätzung geben wir von dieser EG der Konzerne und Multis?“ (Sagt doch einmal, worum es sich bei der EG, bei Konzernen und bei Multis handelt – dann könnt ihr sämtliche „Einschätzungen“ bleiben lassen!)

– „Wie sind hier nationale Widersprüche einzuschätzen?“ (Um die geht es tatsächlich, bloß haben das Kapital und seine Staaten tausend Widersprüche, die jedermann ,,einschätzen“ darf, dafür aber auch aushalten muß!)

– „Welche innenpolitischen Konsequenzen ergeben sich aufgrund eines Protestwählerpotentials bei den Europawahlen (durch Fortschreibung alternativer Wahlbündnisse der Landtagswahlen)?“ (keine)

– „Gibt es eine Liberalisierung aufgrund verstärkter Integrationstendenzen?“ (1980!?) (Ihr spinnt wohl! Seit wann gebraucht ein Staat, wenn er auf andere losgeht, die Unterwerfung seiner Bürger in milderem Maße als vorher? Ganz schön integriert!)

– „Die Perspektive des Bürgerprotestes über die Europawahlen hinaus? Die Rolle der Linken in diesem Zusammenhang? Beteiligung an parlamentarischen Wahlen – eine Taktik anläßlich verschärfter Repression?“ (In den Europawahlen keine Perspektive, daher hinterher und durch sie doch eine? Eure Euro-Fragen sind doch eure Rolle, und eine Taktik hat nur einer, der auch etwas will gegen die Macher!)

– „Krise der außerparlamentarischen Bewegung und Krise der marxistischen Linken?“ (Wetten, daß ihr keinen Marxisten von wegen Dogmatismus zu Wort kommen laßt in euren Einschätzungsdiskussionen ?)

– „Antikapitalistische Strategie? ... Sozialistische Perspektive ...? ... “ (Ihr haltet noch nicht einmal Europa für ein Mittel des Kapitals, der Staat hier und auswärts erscheint euch als mehr, vielleicht auch weniger günstige Anstalt – und ihr nennt eure Perspektive „sozialistisch“? Sozialismus als Ideal des Kapitalismus und als Lebenshaltung? – Wenn ihr uns fragen würdet, nein danke!)

– „Soll man hier die DKP, auswärts die Eurokommunisten wählen?“ (Nein, weil sich nicht einmal ihre Sprüche von der restlichen Wahlwerbung unterscheiden!)


5. Worauf wollen die Linken mit ihren Fragestellungen hinaus?

Sie vermeiden auf alle Fälle, daß sie sich zu Europa „gar nicht verhalten“, und sie werden sich völlig einig darüber, daß Europa „nicht der Reaktion überlassen werden darf“-, während es den Jungs von der DKP und kritischen SPD vorbehalten bleibt, die Menschheit für ein alternatives Europa im Namen auch der ausländischen Staatsbürger zu begeistern und insgesamt für „Völkerverständigung“ zu werben, braucht die restliche Linke keinen einzigen' richtigen Satz loszuwerden, um ihr Ziel zu erreichen: mit Sicherheit schafft sie es, auf jede ihrer Fragen eine Antwort zu ermöglichen!

 

aus: MSZ 30 – Juli 1979

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