Bilder aus der Wissenschaft

Ein Besuch in der reformierten Universität


Wer heute seinen Fuß über die Schwelle einer deutschen Hochschule setzt, befindet sich nach Auskunft der politisch Denkenden dieses Landes auf gefährlichem Gelände: wo „linksradikale Studentengruppen in der Übermacht“ ... „zur eigentlichen Bedrohung unserer rechtsstaatlichen Ordnung“ (RCDS) angetreten sind, liege die Demokratie in schweren Abwehrkämpfen.

Der Kriegsberichterstatter wird indes vergeblich nach Pulverdampf schnuppern. Stattdessen empfängt der Hausherr mit souveräner Geste – hat er doch gerade (so jüngst an der Münchner LMU) einem gegnerischen Trupp, der sich zur Besprechung seiner Lage in einen Hörsaal gesetzt hatte und sich dort sicher wähnte, das Schlachtfeld unter den Füßen weggezogen. Durch bloßes Vorzeigen eines Transparents stellt er klar, auf wessen Terrain man sich befindet und was unerwünschten Besuchern blüht:

Verlassen Sie diesen Hörsaal binnen 5 Mi. Danach liegt Hausfriedensbruch vor. Strafantrag wird gestellt.“


Der geistige Nutzen von Verbotstafeln

Dieser Staat hat seinen Hochschulbetrieb im Griff, was sich gerade daran zeigt, daß Regierung und Opposition seit Wochen über die aufregende Frage streiten, wie ungeheuer die Herausforderung des Rechtsstaats durch linke Studenten eigentlich sei. Diese Diskussion führen Politiker in dem sicheren Gefühl, daß die bloße Drohung mit dem Schild: „Achtung, Sie verlassen den Boden der FDGO!“ bei den Studenten ihre gewünschte Wirkung tut. Die antiintellektuellen Kraftparolen, die die staatlichen Störer tagtäglich in die stillen Hallen der Hochschule schleudern, drücken also nicht Angst und Hysterie der Herrschenden vor Studenten aus, wie die revisionistische Linke sich schulterklopfend versichert, um so ihrer eigenen Existenz Anerkennung zu verschaffen („Viel Feind‘ viel Ehr'!“), sondern sind die ideologische Offensive eines Staats, der sich seines praktischen Erfolgs an der Intellektuellenfront längst gewiß ist.

Einem gelernten Staatsschützer ist vollends klar,

„was über 100.000 Feinde der bürgerlichen Gesellschaft unter den Studenten bedeuten“ (Nollau): „Das ist ein erschreckender Prozentsatz.“

Der Schreck läßt aber nach, wenn man bedenkt:

„Wer mit 20 nicht Kommunist ist, hat kein Herz; wer mit 40 noch Kommunist ist, hat kein Hirn.“

Damit der Intelligenz beizeiten der Staat ins Hirn kommt, hat dieser sich zum ideologischen Nachfassen an seinen Kaderschmieden entschlossen. –

Aus der Lüge, der Rechtsstaat werde von Studenten aus den Angeln gehoben, zieht der Staat nicht nur gegenüber Studenten Nutzen; instinktsicher gewählt, verschafft sie den Politikern auch den Zuspruch eines Volks, das sich über die Züchtigung staatstreuer Intellektueller an seiner eigenen ideologischen Disziplinierung und sonst nichts auf der Welt begeistert. –


Das hohe Preislied der Disziplin

Die lärmende Agitation, die der Staat um seine geistigen Zuchtstätten entfacht, bleibt dem Hochschulbesucher als ein fernes Grollen allgegenwärtig, wenn er die Flure durcheilt und im Hörsaal Platz genommen hat. Der Mann am Katheder läßt unterdessen keinen Zweifel aufkommen, daß er die Gunst der Stunde zu nutzen gedenkt, um seinen Studenten den rechten Schliff zu geben. Als professioneller Scharfmacher des Geistes hat er Erfahrung bei seinem Geschäft. So wählt er zunächst die feinen, leisen Töne und begrüßt sein studentisches Publikum, das unter so häßlichen Umständen zu ihm gefunden habe. Damit ist der psychologische Rattenfänger schon beim Thema seiner Einführungsvorlesung. Schwierig sei das Studieren heute geworden: „Die Lage ist bekannt“. Und damit dem letzten klar wird, daß kein trostspendender Menschenfreund vor ihm steht, schiebt der Professor die rhetorische Frechheit nach: „Ist sie bekannt?“ und entwickelt genüßlich, was er für's Studium („Möge es Ihr Studium sein!“) in petto hat: „Wagnis und Risiko stehen allerdings der Geisteswissenschaft nicht schlecht an.“ Mit dieser unverschämten Verwandlung der vom Staat verschärften Auslese seiner künftigen Akademiker in ein Problem von deren Einstellung hat der Mann des Geistes nicht ein idealistisches Kunststückchen zu vollbringen, sondern einbläuen wollen, daß die Gewinnung dieser Einstellung zum Studium die Leistung ist, die er sich von seinen Studenten erwartet.


Die drei Lektionen ...

Die idealistische Besinnung auf den Sinn des Studiums gedenkt dieser Staatsagitator natürlich auch durchzusetzen; an radikalen Gedanken mangelt es ihm nicht: „ein Merkmal hochindustrialisierter Gesellschaft“ sei es, daß die Menschen immer weniger „Willen zum Sinn“ mitbrächten. Mit solchen Schwachheiten räumt der Geisteswissenschaftler auf. Seine Fachrichtung (es handelt sich nebenbei um einen Germanisten) bilde schließlich „Fachleute“ für „Sinn“ aus, womit jedem Hörer, der zum Unwillen des Professors mit dessen Wissenschaft den „Anspruch auf Selbstfindung“ in Verbindung brachte, ein für alle mal gesagt ist, daß er „falsche Erwartungen“ hege und Wissenschaft nicht seinem, sondern dem Wohl des Staates diene. Ganz in seinem Element findet der triumphierende Wohltäter zu drohenden Tönen: „Wissenschaft ist Wissenschaft!“ Denn wie sie ist, soll sie bleiben.

Ein Blick in den ergriffenen Hörsaal bestätigt dem Redner, daß er verstanden worden ist. Vor ihm sitzen Studenten, die dankbar sind für das Versprechen des Professors, sie in die Pflicht seines den Staat hofierenden Denkens zu nehmen, dessen strenge Zucht sie gerade am eigenen Leib verspüren durften. Auf brutale Manier mit dem Preis vertraut gemacht, unter dem es der Staat bei seinen Ideologen nicht tut, bringen sie durch ihren Beifall ihr Einverständnis sogleich in ideologischer wünschenswerter Form vor: sie beklatschen ihr eigenes Opfer in der tröstenden Gewißheit, die ihnen ihr Ideal vom Katheder auf den Studienweg mitgegeben hat:

„Der Preis ist hoch!“


... vom Staat

Von der Politisierungswoge dieser Einführungsvorlesung erfaßt, spült es die künftigen Träger staatlicher Ideologie nun in den Übungssaal eines Meisters knochentrockener geistiger Zurichtung. Umstandslos gibt er den Anfängern zu verstehen, daß sie in seiner Vorlesung „Kritische Theorien zum System der Bundesrepublik Deutschland“ lernen werden, auf jeden Fall positiv zur Nation zu stehen; denn was immer man bei ihm über die deutsche Demokratie höre, stets sei zu beachten, daß dies nur theoretisch sei: keine der „Ideen“, was dieser Staat sei, dürfe so „verabsolutiert“ werden, daß man beanspruche, hiermit etwas bestimmtes über die BRD zu wissen. Beispielsweise gehe es nicht an, die Teilnahme („Partizipation“) der Massen am politischen Geschehen als „bestimmendes Moment der Demokratie“ festzuhalten, weil dies dem bestehenden Staat gegenüber eine unverantwortliche Kaprizierung auf Mitwirkung des Volks sei, die dieser Staat am Ende gar nicht gewähre. Die erste Lektion für ideologische Anfänger lautet also: Bringe dich nicht in ein „kritisches Verhältnis“ zum Staat, lege dich ihm gegenüber nicht auf etwas fest, was ihn in Verlegenheit bringen könnte. Damit ist der ärgste Schaden, den Intellektuelle im Staat anrichten können, von ihm gewendet. –


... vom Denken

In der ihnen im Staat zugewiesenen Ecke bekommen die angehenden Ideologen vom professoralen Staatsschützer ihre zweite Lektion: Sie müssen lernen, in ihrem Bereich darauf zu achten, daß die Selbstrelativierung des Geistes auch klappt. Zu diesem Zweck verpflichtet sie der Dogmatiker am Rednerpult auf den „gemeinsamen Willen“ aller Ideologen, untereinander geistige Linientreue zu beweisen, indem sie sich weigern, ihre unterschiedlichen Aussagen zu diesem Staat zu kritisieren. Es sei „Aufgabe der Wissenschaft“, die „Mißverständnisse“ der Chef-Denker des Staats zu bereinigen. Hierzu sei es nötig, „irgendwie“ „Gründe“ für einander widersprechende Argumente zu liefern. Widersprüche sollen also auf keinen Fall aufgelöst, sondern voreinander legitimiert werden. Man will einander schließlich verstehen; und dazu muß sich jeder an die Anschauungen des anderen anschleimen, bzw. diesen bei sich partizipieren lassen. Solange dieses Geschäft funktioniert, findet man einander „plausibel“ und ist sich einig gegenüber jedem Gedanken, der sich diesem Dogma nicht unterwirft. Vor solch kriminellem „Einbruch der Theorie in das politische Denken“ will der verantwortungsbewußte Beschäler der studentischen Jugend eindringlich gewarnt haben. –


... von geistiger Gefolgschaft

Da er sich seine Opfer gleich für eine Doppelstunde gegriffen hat, findet er Zeit, sie durch die dritte Lektion zu hetzen: „die großen Richtungen der Politikwissenschaft seit 1945“. Damit mündet die Vorlesung ins historische Durchexerzieren des dogmatischen Verbots, beim Denken zu denken. Das Gebot der Stunde lautet, zu lernen, daß es nur die Alternative gibt, sich zusammen mit dem ideologischen Latrinenputzer, in unappetitliche „Denktraditionen“ zu steilen (ich heiße Kurt und bin „normativ“) oder aber sich dessen wütender Verfolgung auszusetzen.

Der universitäre Besucher, von dem Gestöhn solch geistiger Inzucht vertrieben, findet sich unversehens in einem Raum wieder, in dem Historiker mit dem Rüstzeug ihres Fachs versehen werden. Ein professoraler Feldherr entwirft seinen studentischen Rekruten gerade ein wüstes Bild des geistigen Gegners, um sie für die anstehende Auseinandersetzung scharf zu machen.


Unter Wölfen

Wesentliches Feindmerkmal sei penetrante Borniertheit des Geistes, was bedeutet, daß er es an der notwendigen theoretischen Selbstrelativierung fehlen läßt. Da gebe es zunächst die unverdächtigen Spezialisten irgend eines Fachgebiets. Wachsamkeit sei schon hier geboten – „Skepsis“; denn vor dem hohen Zweck ihres ideologischen Schaffens könnten gerade sie sich besonders geschickt drücken, indem sie sich ausschließlich als forschende Biedermänner geben und dabei jene staatsgefährdende Vereinseitigung ihres Aspekts entwickeln, der alle Fanatiker auszeichnet. Wehret den Anfängen! – Auch Marx hat sich bekanntlich sein Leben lang mit Ökonomie beschäftigt. „Monokausale Erklärungen“ des Weltgeschehens sind das gefährliche Gift, das sein Geist ausgebrütet hat. Er schlage die scharfe Klinge eines „platten Determinismus“, mit der er sich die Realität nach seinen Vorstellungen zurechtklopfe: „teleologischer Geschichtsansatz“. So habe er in seinem Wahnsinn z.B. „die notwendige Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft“, kommandieren wollen, was die Geschichte dann doch noch – Gott sei Dank – verhindert habe, indem sie von sich aus zwanglos („offen“ für alles „Neue“) die bürgerliche Gesellschaft entwickelte.

Die Waffe der deutschen Ideologen im Kampf gegen solche gemeingefährliche Schwäche des Geistes ist also das Bekenntnis zu einem höheren Telos als Marx es hatte. Nicht ein aus subjektivem Interesse „wünschenswertes Ziel“, sondern die „komplexen“ Ziele der gesellschaftlichen Ordnung bewegen sie in ihrem Herzen. Und im Umgang mit ihrem eigenen jeweiligen Spezialistentum, das mit Determinanten und kausalen Plattheiten nicht eben sparsam ist, halten sie es mit dem faschistischen Spruch Ortega y Gassets, der moderne Barbar sei der Fachmann, und verstehen sich als „leider nur“ Historiker, Politologen, Germanisten etc., die sich somit samt ihrer Kollegen auf das gemeinsame Interesse verpflichten, bei aller geistigen Arbeitsteilung nur Positives zur Staatserhaltung beizutragen,

Derweil die Versammlung frisch gekeilter Staatsagenten ihrem Anführer diese heilige Eidesformel nachempfindet und sich innerlich dem Kampf mit dem ideologischen Gegner weiht, stiehlt sich gerade noch unbemerkt der MSZ-Korrespondent davon.

 

aus: MSZ 20 – Dezember 1977

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