Das Interesse, dem Dummheit zur Waffe wird

Es gibt Bücher, die man nicht deswegen lesen muß, weil sie einen in der Erkenntnis irgendeiner Sache voranbringen, also Wissen enthalten, das man sich durch ihr Studium aneignet. Die Sorte Veröffentlichungen, zu der Werner BECKERS „Die Achillesferse des Marxismus: der Widerspruch von Kapital und Arbeit“ (Hamburg 1974) gehört, verdient Aufmerksamkeit durch ihre Unwissenschaftlichkeit, durch die Anhäufung falscher Argumente, welche sie zu einem vorzüglichen Instrument der Rechtfertigung machen. An Beckers Pamphlet läßt sich studieren, wie der moderne Antikommunismus bei seiner Parteinahme für die kapitalistischen Verhältnisse zu Werke geht.

 

Mister Sogenannt

Die Veranstaltung beginnt damit, daß der Herr Professor den Widerspruch von Kapital und Arbeit, dessen Existenz bekanntlich Marxisten für diverse Phänomene der modernen Gesellschaft als Grund behaupten, zu einem „sogenannten Widerspruch von Kapital und Arbeit“ (11) verwandeln möchte. Es handelt sich, so meint er, „um, einen „Grundbegriff“, ohne den manche nicht „auskommen“, auf den andere sich „berufen“, dessen „Nennung eine Wirkung erzeugt“ und anderes mehr. Damit ist er fürs erste von seinem Vorhaben abgerückt, die Erklärungen von Marx über das Verhältnis von Kapital und Arbeit zu widerlegen, indem er sich unabhängig von dessen Argumenten die Frage vorlegt, ob dem „Grundbegriff“ auch wirklich, in der Welt, wie sie ein Werkeltagsphilosoph so kennt, etwas entspricht: „Ich skizziere zunächst den simplen und vordergründigen Bedeutungsgehalt“ (12). Offenbar hat er vor, sein Attribut „sogenannt“ als zutreffend zu erweisen, und das tut er mit einem Bericht von seinen Vorstellungen über den Sachverhalt, von dem er meint, daß Marx ihn falsch gesehen hat: „Unter dem Widerspruch von Kapital und Arbeit versteht man in der Regel den ökonomisch bedingten Interessengegensatz zwischen den Unternehmern und Unternehmensleitungen einerseits und den lohnabhängig Arbeitenden andererseits im Rahmen unserer kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Der Interessengegensatz wird bestimmt durch die Unterschiedlichkeit der Interessenlagen: während Unternehmer und Unternehmensleitungen vorrangig aus Gründen der Profitmaximierung an einem Niedrighalten der Kosten aller Art, vor allem auch der Lohnkosten, interessiert

sind, geht es den Lohnabhängigen naturgemäß um die Erhöhung ihres Anteils am Wertprodukt, welcher ihnen in Gestalt des Lohns gezahlt wird.“ (12) Noch bevor er seine geplante Konfrontation zwischen seiner Auffassung und der Marxschen Theorie fortsetzt, fühlt sich Becker jedoch veranlaßt, sich- selbst dem Zwang einer Erklärung zu entziehen, was er durch die Tautologie in seiner „Skizze“

„Der Interessengegensatz wird bestimmt durch die Unterschiedlichkeit der Interessenlagen“,

(wobei noch zu fragen wäre, ob denn jeder Unterschied auch schon einen Gegensatz macht) – längst vorbereitet hat. Er kritisiert das, was er soeben erzählt hat, damit, daß er auf andere Interessengegensätze hinweist, die es auch noch gibt. So als würden Marxisten durch das Hervorheben des „von niemand geleugneten Interessengegensatzes zwischen den Unternehmern und den Arbeitgebern“ (15) angreifbar mit dem Argument,

daß andere Phänomene auch noch existent seien. Es ist der Vorwurf des Simplifizierens, den Becker im Stil vorbringt, den der Wissenschaftspluralismus heutigentags in jedem Seminar pflegt, sobald einer an einer gefundenen Bestimmung festzuhalten gedenkt, und sie nicht gleich ins Verhältnis zu allem möglichem anderen Zeug auflöst:

„Nun wird man zugeben müssen, daß der auf diese Weise gekennzeichnete Klassengegensatz ein sehr grobkörniges Bild von unserer wirtschaftlichen Realität vermittelt. Er(!) ist in Wirklichkeit!) durchsetzt und überlagert von Gegensätzen erheblich differenzierterer Art: von Gegensätzen zwischen einzelnen Wirtschaftsgruppen, wie z. B. zwischen export- und importorientierten Industrien oder auch dem vielzitierten Gegensatz zwischen Industrie und Landwirtschaft. Aber auch innerhalb des Bereichs der sogenannten »Lohnabhängigen« treten Interessengegensätze auf, etwa zwischen Lohngruppen in einem Betrieb ...“ (13)

Wenn aber der Interessengegensatz durchsetzt ist, dann gibt es ihn¡ und wenn innerhalb der Lohnabhängigen Interessengegensätze bestehen, dann besteht noch lange kein Grund, mit Anführungszeichen und einem erneuten „sogenannt“ die Lohnabhängigen in eine Fiktion zu verwandeln!

 

Lesefrüchte über den nicht existenten Wert

Durch solchen vordergründigen Dilettantismus beweist Becker schon auf den ersten Seiten, daß es ihm um Wahrheit nicht zu tun ist. Seine eigenen Ausführungen zum Klassengegensatz, die diesen ja anerkennen, relativiert er sogleich, als ob er mit ihnen bereits seinem Gegner Marx Konzessionen gemacht hätte, die ihm bei der Vollführung seines Geschäfts hinderlich sind. Dabei haben seine Bemerkungen zu besagtem Interessengegensatz ohnehin nur den Zweck, darzutun, daß sich Marx gar nicht mit ihm befaßt, seine Argumente also ein sogenanntes betreffen:

„Bei Marx geht es um etwas ganz anderes, nämlich um den Wert der in der kapitalistischen Volkswirtschaft hergestellten Warenmasse. Es geht darum, wie dieser Wert zustande kommt, und um die Art und Weise, wie er verteilt wird.“ (15)

Mit dieser Feststellung kritisiert er allerdings nicht Marx, sondern sich selbst; wenn er nämlich den Marxschen Schriften entnehmen konnte, daß es ihnen „um etwas ganz anderes“ geht als um das, was er den Lesern zunächst suggeriert, dann ist seine Darstellung des Interessengegensatzes zwischen den Klassen auch für eine Kritik an Marx völlig belanglos! Weil er aber bemerkt hat, daß die Wert- und Mehrwerttheorie von Marx die Erklärung dessen intendiert, was er als Interessengegensatz beschreibt, versucht er in seiner Eigenschaft als Philosophieprofessor seinem Gegner vorzuwerfen, daß dessen Erklärung etwas anderes ist als jene matte Beschreibung des „von niemand geleugneten“ Interessengegensatzes - und dies trotz des Zugeständnisses, daß dieser „ökonomisch bedingt“ sei (vgl. Zitat S. 12). Und da die Entdeckung einer Differenz der Werttheorie zum konstatierten Interessengegensatz noch lange nicht das Verdienst einschließt, Marx widerlegt zu haben, sieht sich Becker nun berufen, die Variante des gelehrten Analphabetismus zur Schau zu stellen, der bei seiner Kapitallektüre in Funktion getreten ist. Das

1. Argument
besteht im Hinweis auf die „Diskussion im ersten Viertel dieses Jahrhunderts“, welche die Mängel der Marxschen Ökonomie hat „so drastisch deutlich hervortreten lausen, daß in der Gegenwart kein Wirtschaftswissenschaftler, der in seiner Wissenschaft ernst genommen werden will, sich auf die Arbeitswertlehre in der klassischen Form beruft“ (14) – womit gezeigt wird, daß die Gegner von Marx anderer Auffassung sind. Demgegenüber wirkt das

2. Argument
geradezu scharfsinnig:

„Wir wissen, daß Länge und (?) Höhe aller ausgedehnten Körper auf unserem Planeten sich einheitlich gemäß einem feststehenden Grundmaß bestimmen lassen. Dieses Grundmaß ist bekanntlich das in Paris aufbewahrte »Urmeter«. Es bestimmt die Normallänge eines Meters. Die Arbeitswerttheoretiker suchten nun nach einem ein für allemal bestehenden Grundmaß, mit dessen Hilfe man das wechselnde Auf und Ab der Güterpreise in den Griff bekommen konnte. Sie nahmen an, daß die Arbeit die Rolle eines solchen »Preis-Urmeters« spielt.“ (14)

– weshalb sie in London eine sogenannte „Urarbeitsstunde“ aufbewahren ließen. Noch treffender das

3. Argument

„Vor allem aber ist noch niemand auf den Gedanken gekommen, den Wert der produzierten Güter nicht vom Markt her, sondern durch die Arbeitsplatzbewertung bestimmt sein zu lassen.“ (16)

Ausgerechnet diesen schönen Einwand, der doch die von Marx so vernachlässigte Tätigkeit von REFA-Leuten deutlich als mit der Erklärung des Warenwerts unvereinbar entlarvt, nimmt der feige Philosoph selbst zurück:

„Der Arbeitswert a la Marx jedoch hat ganz andere Voraussetzungen und Implikate ... Er muß völlig unabhängig sein von irgendwelchen Gesichtspunkten einer subjektiven Betrachtungsweise. Deshalb kann er auch mit der modernen Arbeitsplatzbewertung nichts zu tun haben.“

Doch zeigt das

4. Argument
endgültig, daß Marx' Werttheorie selbst dann falsch wäre, wenn sie stimmen würde: „Macht man einmal die Unterstellung mit, es gäbe so etwas wie ein objektiv existierendes Einheitsmaß für alle Arbeitsvorgänge“ (das ist inzwischen dasselbe wie der Wert von Waren!),

„dann müßte man immer noch das Wichtigste zeigen, nämlich die Art und Weise, wie der Schritt von dem Einheitsmaß „Arbeit“ zur Ebene der Güterpreise bewerkstelligt werden soll. Marx hat diesen Übergang an keiner Stelle seines ökonomischen Hauptwerks „Das Kapital“ klarmachen können.“ (16f)

Leider sehen wir uns hier gezwungen, darauf hinzuweisen, daß die Erklärung des Werts, sofern sie stimmt, selbst dann stimmen würde, wenn die Behauptung von Becker zuträfe, daß in den, dieser Erklärung folgenden zweitausend Seiten des „Kapital“ nichts stimmt … Das

5. Argument
ist weder das nächstfolgende noch das letzte – und dennoch sei es hier als letztes angeführt, da es für Leute, die in der MSZ schreiben und deshalb weder ein Professorengehalt wie Becker beziehen, noch dessen Unsinn zu Demonstrationszwecken wiederzugeben in der Lage sind, auch noch Wichtigeres zu tun gibt. An der Analyse der einfachen Wertform, die Marx am Austauschverhältnis von Rock und Leinwand durchführt, moniert er die doppelte Formulierung von Marx und meint, zwischen „20 Ellen Leinwand – ein Rock“ und „20 Ellen Leinwand sind 1 Rock wert“ bestehe ein Widerspruch:

„Nach Marx sollen die beiden ohne Zweifel gegensätzlichen und in einem weiteren Sinn widersprüchlichen Formulierungen der Wertgleichung denselben Sachverhalt, die Struktur des Tausches zweier Gebrauchswerte beschreiben.“ |32)

Von Fehlern, die nur durch den Vergleich der Wiedergabe von Marx durch Becker mit dem Text des „Kapital“ adäquat zu charakterisieren wären, sehen wir in diesem Zusammenhang ab - hier interessiert nur die Unfähigkeit eines professionellen Denkers, der meint, die Formulierung einer Gleichsetzung zweier Größen widerspreche einer anderen, die zudem die Qualität benennt, die der Gleichsetzung beider Seiten zugrunde liegt. Denn sie liefert, den Vorwand für folgenden Angriff auf Marx:

„Er macht aus dem Gegensatz bzw. Widerspruch der beiden als synonym gedeuteten Formulierungen der Wertgleichung eine objektive Eigenschaft der Warenform.“ (32)

Weil er das Aussprechen der auf beiden Seiten einer Gleichung unterstellten Qualität („wert“) für unvereinbar mit der Gleichsetzung hält weil er sich weigert, das zu denken, was er ausspricht, wird Becker gleich ganz vorwitzig und gibt uns eine Kostprobe davon, wie man gegen Dialektik polemisiert, ohne daß man etwas von ihr weiß.

„Eine widersprüchliche Theorie wird dadurch gerechtfertigt, daß diese Widersprüchlichkeit in den Rang einer objektiven Eigenschaft des Gegenstandes der Theorie erhoben wird.“ „Die dialektische Methode besteht bei Marx demzufolge (!) in nichts anderem als in einer Projektion widersprüchlicher Aussagen auf den Sachverhalt der Theorie.“ (32)

 

Die Niedertracht der Dialektik

Nach diesem Schlag, den Becker der Dialektik versetzt hat, unterrichtet er seine Leser – sofern sie blöd genug sind, ihm noch weiter zu folgen – über all das, wozu dies Teufelswerk verwendet wird. Aus der Marx'schen Analyse der Ware folgt nämlich die Theorie des Warenfetischismus, durch die der Marxismus sich einreiht in die Tradition der „Entfremdungstheorien“, wobei er mit der ihm eigenen Projektion seiner Widersprüche in die Realität auch subjektive Wertvorstellungen als Notwendigkeiten zu kaschieren versteht, die der Verfassung der Gesellschaft entwachsen:

„Kennzeichnend für den dialektischen Entfremdungsbegriff aber ist dies, daß die in ihm liegende Wertung sich nicht als solche zu erkennen gibt … Die Dialektik – ob Hegel’scher oder materialistischer Marx’scher Version – kommt auf diese Weise in den Besitz eines in seiner theoretischen und praktischen „Fruchtbarkeit“ kaum zu überschätzenden Instrumentariums. Sie erreicht so, daß die Frage der Gültigkeit gesellschaftspolitischer Wertsetzungen zur Sache einer wissenschaftlichen Analyse von Tatsachen wird.“ (44)

Selbst die Argumentation für paritätische Mitbestimmung basiert, wenn man Becker glauben will – der offenbar die Abschaffung der Klassen mit der „Gleichberechtigung von Kapital und Arbeit“ verwechselt, womit er nur zeigt, daß der gängige Sozialquark für ihn eine Konsequenz der Marx'schen Theorie darstellt –

„auf einem Fehlschuß, der dem Fachmann(l) von der marxistischen Theorie her bekannt ist. Es wird dabei nämlich eine Wertung aus einer Faktenbeschreibung abgeleitet.“ (94)

Und dagegen hat Becker etwas, obwohl sein ganzes Buch nur aus Wertsetzungen besteht, die er in die Form von Schlüssen aus Fakten kleidet. Er beweist, daß der „naturalistische Fehlschluß“ (94), wie er den angeprangerten Hokuspokus nennt, nicht eine Erfindung von Dialektikern ist, sondern seine eigenen Wissenschaft auszeichnet – nur daß es sich bei Marx tatsächlich um Schlüsse, logische Folgerungen handelt, wo er durch Fehler zu seinen Werturteilen gelangt. Aus dem auch von ihm nicht geleugneten Interessengegensatz

„folgt: entweder es gelingt auf dem Kompromißweg, dem Gegensatz seine Schärfe zu nehmen, oder es kommt zu gewaltsamer Entladung.“ (13)

Und dann ergreift er mit den Fakten für die Fakten Partei:

„Es wäre mit Sicherheit unrealistisch und blind, wollte man z. B. für unsere Verhältnisse in der BRD den Schluß ziehen, Gewaltanwendung in größerem Stil bewirke mit Notwendigkeit eine Verbesserung der Verhältnisse im Sinne der Arbeitnehmer“ (13)

– und demonstriert, daß er die Existenz von Arbeitnehmern auch künftig für unerläßlich hält. Auf Seite 48 ein Aufatmen darüber, daß in demokratischen Verhältnissen, wie sie bei uns in der Bundesrepublik bestehen, Philosophie oder irgendeine andere Wissenschaft nicht eine ähnlich dominierende Rolle spielen können wie anderwärts. Was Becker für ein Faktum hält: daß Zwecke nicht wissenschaftlich begründbar sind, nimmt er dann flugs als Argument dafür, daß es bei uns so sein soll, wie es ist: „Und das ist nicht zuletzt deswegen gut (!) so, weil (!) Philosophie und Wissenschaft gar nicht die Mittel besitzen, langfristige (?) politische Wertorientierungen in rationaler Weise abzusichern.“ (48) Schließlich fußt auch das Prinzip der liberalen Demokratie und die Parteinahme Beckers für selbiges „auf der alten (!) philosophischen Erkenntnis, daß über politische Zielsetzungen in anderer Weise entschieden werden muß (!| als über die Tatsachen der Empirie . . .“ (79) usw., usw.

 

... und die Offenheit der demokratischen Vernunft

Daß es einer dummen Argumentation gegen die Marxsche Theorie nicht bedurft hätte, würde er sich nicht, auch gewisser Fakten als Grundlage seiner Entscheidung, seines vulgärwissenschaftlichen Wollens bedienen, leuchtet diesem Tropf ebensowenig ein wie das Faktum, daß seine Vorliebe für das

„Wissenschaftsverständnis der neuzeitlichen Wissenschaften, welches allein die empirische Überprüfbarkeit von Theorien und deren rationale Diskussion als Wahrheitsbeweis anerkennt“ (68)

einem jenseits aller Wissenschaft gefällten Werturteil entspringt. Nicht nur, daß er mit solchen Sprüchen keine Aussage über Wissenschaft trifft, sondern eine Vorschrift erläßt, fällt dem Leser seines Freizeitprodukts auf, sondern auch, daß er mit dieser Vorschrift Wissenschaft für überflüssig erklärt. Denn die Erklärung irgendwelcher empirischer Geschehnisse nimmt von diesen ihren Ausgang, gibt sich aber nicht durch die Rückkehr der wissenschaftlichen Tätigkeit zu ihnen auf. Das alte Mißverständnis, Experimente in den Naturwissenschaften seien nicht ein Mittel der Erkenntnis von Gesetzen, sondern Erkenntnis selbst, wärmt Becker in der Weise auf, daß er mangels Gelegenheit zum Experimentieren die Sozialwissenschaften glatt für unmöglich erklärt:

„Da dieses wissenschaftliche Verfahren in Sachen „Gesellschaft“ nur äußerst schwer anzuwenden ist, wird jeder verantwortlich denkende Sozialwissenschaftler sehr vorsichtig umgehen mit Behauptungen der Art, er habe wissenschaftlich gesicherte Beweise für das Funktionieren von ihm erdachter Vorschläge zur Veränderung der Gesellschaft.“ (64)

Ungeachtet des Eingeständnisses, daß er nur die gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse für wünschenswert erachtet – er findet in ihnen sogar „Vorteile“ (20), was doch immerhin einen Vergleich mit einem Zustand unterstellt, den er als notwendiges Experiment für die Marxsche Theorie nicht zulassen will, weil ohne das Experiment die Alternative ihre Vorzüge und Schwächen gar nicht unter Beweis stellen kann – will er der

„marxistischen Forderung nach einer Einheit von Theorie und Praxis gar nicht anders als kritisch gegenüberstehen“, weil sie „bloß auf eine unwissenschaftliche, d. h. eine durch unbewiesene Vermutungen geleitete gesellschaftliche Praxis hinauslaufen kann.“ (65)

Derjenige, der bereits in seinem Vorwort an der „wissenschaftlichen Machbarkeit der Politik“ (7) zweifelt, versteht es auch noch, so zu tun als ginge es ihm um rationale Politik. Dabei hofft Becker offensichtlich auf dieselbe, durch Parteilichkeit erzeugte Fähigkeit des Vergessens, die ihn selbst auszeichnet. Denn sein Urteil steht längst fest:

„Es existiert keine Wissenschaft, die es in der Hand hätte, zu sagen, daß eine Wertvorstellung die richtige bzw. wahre ist im Unterschied zu einer entgegengesetzten Wertvorstellung, die damit als falsch“ disqualifiziert würde.“ (133)

Und daß ihn solcher Skeptizismus bezüglich dessen, was zu wollen sei, nicht weiter beunruhigt, bekennt Becker mit dem naiven Fingerzeig darauf, daß die vernünftige Konsequenz seiner Erkenntnisse, ihr Sinn bereits wirklich ist:

„Demokratische Entscheidungsverfahren basieren in Wahrheit (!) auf der Grundüberzeugung, daß es so etwas wie ein garantiertes „richtiges“ Wissen in Sachen gesellschaftlicher Zielvorstellungen nicht gibt“. (134)

Somit hat unser Philosophieprofessor, der dem „neuzeitlichen Wissenschaftsverständnis“ huldigt, über die Widerlegung von Marx den Weg zu einer Rechtfertigung der Demokratie gefunden: Sie ist notwendig, weil die Wissenschaft Grenzen hat und davon weiß.

 

Die Logik des Apologeten

Daß die Schrift von Becker keine „Achillesferse des Marxismus“ entdeckt, sondern lediglich ein Bekenntnis zum Zustand unserer Gesellschaft darstellt, läßt sich im übrigen schon vor der Lektüre der sieben Kapitel klären. Verlag und Autor waren so freundlich, auf der Rückseite des Buches das Prinzip anzugeben, nach dem vorgegangen wird: „Becker zeigt, daß das Gesellschaftsbild des Marxismus von undemokratischen Voraussetzungen ausgeht.“ Und dies ist nicht nur keine Kritik am Marxismus und seinen Einsichten – das Argument würde im übrigen auch auf Einsteins Theorien ein schlechtes Licht fallen lassen –, sondern die explizite Aufforderung, in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit unserer Gesellschaft darauf zu achten, daß sie zu einer Theorie führt, die unserer Demokratie ein Lob zollt. Becker besitzt die Unverschämtheit, die er Marx andichtet, tatsächlich selbst: er verlangt von der Wissenschaft, sie solle sich als objektive Erkenntnis aufgeben und sich seinem Standpunkt akkomodieren. Seine Wertsetzung, Erkenntnis dürfe nicht zu Werturteilen übergehen, ist ein lupenreines Kritikverbot – Ausfluß einer Parteilichkeit, die nicht in wissenschaftlichen Argumenten gründet, sondern ihnen vorhergeht und sie vermeidet.

Hieraus erklärt sich die Albernheit seiner Argumentation, die er in der Auseinandersetzung mit dem Marxismus für notwendig hält trotz seiner Auffassung, daß in politischen Angelegenheiten Argumente ohnehin hinter Abstimmungen zurückzutreten haben:

„Die marxistische Position aber enthüllt sich auf beiden Ebenen als der Ausdruck einer irrationalen Überschätzung menschlicher Vernunft und Wissenschaft. Sie erweist sich als unfähig, den Sinn demokratischer Entscheidungsverfahren zu begreifen.“ (137)

Sein Engagement dafür, daß alles beim alten bleibt, zwingt ihn angesichts der von Marxisten formulierten und praktizierten Kritik, als Wissenschaftler gegen die Wissenschaft vorzugehen, sie durch Argumente für unmöglich zu erklären: und nachdem er das mit dem Absud skeptizistischer Floskeln von Erkenntnistheoretikern wie Popper belegt hat, kann er vergleichen:

„Für sie (die Marxisten) hat Wissenschaft einen anderen Stellenwert als für Menschen, die beruflich damit befaßt sind“ (80)

– womit er recht hat.

Beckers Verfahren leidet auch nicht daran, daß es an Marx scheitert. Er richtet ihn so zu, wie er ihn widerlegen möchte. So unterschiebt er ihm die Auffassung eines Widerspruchs zwischen „Wertbildung und Wertverteilung“ (15), die Forderung nach einer gerechten „Verteilung der Güter nach der Wertbildung, also (!) gemäß der allein wertbildenden Arbeit“ (18) und stellt diesem Unsinn seine Version der Ableitung einer ökonomischen Zwangsläufigkeit demokratischer Verkehrsformen gegenüber.

„Am Beispiel gegebener Güterknappheit läßt sich der Sachverhalt am ehesten klarmachen. Da (!) Knappheit an Wirtschaftsgütern aller Art bedeutet, daß nicht alle Menschen ihre Bedürfnisse in gleicher Weise befriedigen können, existiert unter diesen Bedingungen immer menschliche Ungleichheit.“ (108)

Einmal mehr offenbart hier unser vorwitziger Philosoph, daß er sich vor lauter Eifer, zu seinen Lobhudeleien über die bürgerliche Gesellschaft zu gelangen, Marx zu studieren erspart hat, Er reiht ihn in die Galerie jener Burschen ein, die das Ideal der Demokratie, die Gleichheit, verwirklichen möchten und fährt das Dogma einer ziemlich „neuzeitlichen“ Ökonomie auf, daß alles knapp sei. Dies tut er in der Hoffnung, daß seine Leser ebenso zufrieden mit den heutigen Zuständen sind wie er und die bürgerlichen Verkehrsformen als nützliche Einrichtungen begrüßen und deshalb seine Fehlschlüsse bis zu dem Fazit akzeptieren, daß die gesellschaftliche Ungleichheit in ihrer heutigen Gestalt auch nicht kritikabel sei. So leistet er auch einen neuzeitlich-wissenschaftlichen Beitrag zu einer Erklärung des eingangs von ihm konstatierten Interessengegensatzes zwischen den Klassen. Lohnarbeiter und Kapitalisten lösen sich auf in Leute mit unterschiedlichen Möglichkeiten der Verwirklichung ihrer Bedürfnisse, die Anführungszeichen sind plausibel und jeder, der daran zweifelt, verfällt dem Verdikt der Metaphysik:

„Die Marxschen Kategorien passen nicht auf unsere Realität, deshalb lassen sie sich auch nicht in die Praxis umsetzen.“ (20)

Weil Marx angesichts der Feststellung, daß nicht alle gleichviel kriegen, nicht auch schon mit Entzücken die Knappheit der Güter dafür verantwortlich macht, sondern der bestimmten Form, in der gesellschaftliche Unterschiede auftreten, auf den Grund gegangen ist und die Veränderung der Produktionsverhältnisse als den Weg der Beseitigung jener ominösen Interessengegensätze erkannt, beschimpft ihn Becker. Aus der Planung der Produktion macht er schnell eine „vollständige Planung der Bedürfnisse“ (!) und sagt ein weiteres Mal, daß dafür eine Wissenschaft vonnöten sei, die es nicht gibt.

 

Einer, der es sich gerichtet hat ...

In seinem Schlußplädoyer für den Zweifel an der Wissenschaft räumt er nochmals alle Zweifel an der Herkunft seines Standpunkts aus.

„Demokratische Vernunft ist im Gegenteil der institutionalisierte Ausdruck einer wohlbegründeten Skepsis, in solche verallgemeinerungsfähigen Gewißheitsansprüche. Und dies vor allem im Rahmen gesellschaftlicher Verhältnisse, die es nicht gestatten, den Widerspruch von Freiheit und Gleichheit unter Knappheitsbedingungen zu suspendieren.“ (138)

Das Verbot, durch wissenschaftliche Anstrengungen zu Wissen über den Grund für die Mängel in unserer Gesellschaft zu gelangen, die diversen Vorschriften des Methodologen, die Wissenschaft nicht befördern, sondern in Frage stellen seine Skepsis ist in der Tat wohlbegründet. Seine Sicherheit im Kampf gegen den Marxismus entspringt keinem Wissen, sondern dem praktischer Interesse des Mannes, der sich in unserer Gesellschaft eingerichtet hat und auf seine Weise mithelfen will, zu verhindern, daß sich etwas ändert.

 

aus: MSZ 4 – MAi 1975

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