Bahro-Kongreß:

Brandt, Carter & Schmidt konnten leider nicht teilnehmen


„Aber diese Breite, die wir erreicht haben – von Demokraten, Sozialisten, Christen –, das ist eine Breite, die – glaube ich – bisher noch nie erreicht worden ist.“ (Rudi Dutschke)

Der Kongreß „für und über Rudolf Bahro „fand an der Rudolf-Bahro-Solidaritäts-Kirche, pardon, an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche seinen würdigen Abschluß. Würdig, weil dieses Gebäude mit seinem alten Turm an Zeiten erinnert, da noch keine Mauer das deutsche Reich dividiert hatte; weil der neue Turm extra zu dem Zwecke gebaut wurde, zu bekräftigen, daß „Deutschland unteilbar bleibt“ – und die fortschrittliche Variante dieser Losung hieß ja auf dem Bahro-Kongreß: „Demokratie und Sozialismus sind unteilbar“. Eine wahrlich würdige Stätte für den vorläufigen Abschluß der Solidarität mit Bahro, weil der doppelt getürmte Gebäudekomplex weniger zum Gebet, denn als vertikal geformtes Symbol des freiheitlichsten Westens, den es je gab, gegen die undemokratische Unfreiheit des östlichen Horizonts gedacht ist.


Lebbare Alternativen und denkbare Möglichkeiten

Natürlich kann es sein, daß der aktive Kongreßteilnehmer und ehemalige Redakteur der IG Metall, Heinz Brandt, trotzdem nicht darauf verzichtet hat, einen kurzen Abstecher in die Kirche zu machen, um den Herrgott zu bitten, auch seinerseits etwas zu tun für die denkbare Möglichkeit des demokratischen Sozialismus bei den bösen Nachbarn drüben. Hat Heinz Brandt doch selbst gesagt, daß er den „Sozialismus nicht aus Büchern“ ableiten will, sondern an die Stelle „wunschlosen Unglücks wunschhaftes Träumen und Handeln nach vorn“ setzen möchte, weil „das Leben eine Ganzheit und nicht nur Produktion“ sei. Andererseits ist kaum anzunehmen, daß der OSI-Professor Elmar Altvater die Hilfe des Gebets in Anspruch genommen hat. Dieser ausgesprochene Polit-Ökonom beschäftigt sich nämlich weiterhin mit einem gewissen alten Buch, hat – wohl daraus abgeleitet – beteuert, daß es doch darum gehe, „nach denkbaren Möglichkeiten der Abschaffung des Staates“ zu suchen, was durchaus keine Heuchelei sein muß, da für ihn die Abschaffung des Pankow-Regimes denkbar notwendig ist, wohingegen ihm die westdeutsche Demokratie schon die halbe Wirklichkeit der Möglichkeit des „Demokratischen Sozialismus“ bedeutet. Und auch die COURAGEierte Sybille, die als Frau an dem Kongreß teilnahm und in ihrer solidarischen Kritik an Bahros Alternative“ „nur drei Seiten“ Weibliches entdecken konnte, dürfte ihre Erfindung: „Produktivkraft Sexualität“ kaum in der Freiheitskirche weiterentwickelt haben. Das hat sie längst nicht mehr nötig, seit sie einen „anderen Politikbegriff“ lebt, nämlich den Sozialismus „gelebter Alternativen“, die dadurch, „daß sie lebbar und wie sie gelebt werden, gesellschaftsverändernd wirken“ – einen Politikbegriff also, „der sich nicht ständig mit dem Staat anlegt, sondern im Schneeballsystem – die eine sagt es dann der anderen weiter“ – (wörtlich Sybille) sich breit und sozialistisch macht.


Nur nicht nach drüben!

Es wäre müßig, auf die Besonderheit der Vielen in ihrem Eintreten für „Freiheit und Sozialismus“ im einzelnen einzugehen. Sie reicht von der Begrüßung der für das deutsche Kapital so nützlichen Ostpolitik –

„Es ist das Verdienst Bahros, die Analyse der Sowjetunion vom »Freund-Feind-Denken« weggeführt zu haben.“ (Rabehl) –

über die Forderung nach einer härteren Gangart gegen die DDR, welche CDU/CSU schon immer verlangen –

„Ich fordere meine Partei auf, sich stärker für Bahro einzusetzen,“ (v. Oertzen) –

bis zu einem Vorschlag „gesamtdeutscher“ Politik, der „kein kalter Krieg“ sein will, weil er Kriege „verhindern“ möchte:

„Um Kriege zu verhindern, dürfen wir es nicht beim etablierten Kapitalismus und Etatismus (ist der von drüben) belassen, sondern müssen eine neue Synthese zwischen Demokratie und Sozialismus, zwischen Freiheit und Gleichheit (!) schaffen.“ (Prof. Ossip K. Flechtheim)

– man beachte die feinen Unterschiede: Am Sozialismus drüben fehlt die Freiheit, dem Kapitalismus hier geht noch die Gleichheit ab!

Denn auf die Einheit kommt es an. Und die hat dieser Kongreß eindeutig bewiesen, war doch jede Diskussion, jede Veranstaltung, jedes Wort ein Ausdruck der Solidarität mit Rudolf Bahro. Ist ja auch klar, die Veranstaltung hieß ja Bahro-Kongreß. Zwar war man schnell von Bahro weg, und niemand unternahm den Versuch, dessen „Alternative“ einer Kritik zu unterziehen, so daß immer wieder der moralische Appell aufkam, es gehe doch um Bahro. Doch sollte man nicht zu sehr auf die offensichtlichen Feinheiten schauen: es ging um Bahro nur, weil es um die „Sozialismus-Debatte“ ging, deren Geheimnis darin offenbar wird, daß sie zunimmt, während der antikapitalistische Widerstand gegen den westdeutschen Staat abnimmt. Es ging und geht um Bahro nur, weil mit ihm die Linke die Chance ergreifen will, klipp und klar zu demonstrieren, daß ihre linken Vorstellungen weder etwas mit der Oktoberrevolution noch erst recht etwas mit dem „unmenschlichen“ realen Sozialismus zu tun haben, um sich mit solcher Nicht-Kritik im demokratischen Westen dem Zeitgeist anzupassen, den Antikommunismus der Bevölkerung zum Argument für sich zu machen und so gesellschaftsfähig zu werden. Es ging und geht um Bahro nur, weil die Entdeckung des Hauptfeinds im Osten für die Linke, die sich weigert (anders als mit dem vehementen Wunsch nach offizieller Anerkennung der Staatsdienlichkeit linker Gesinnung) dem demokratischen Staat im Westen praktisch entgegenzutreten – der ja über den falschen Vergleich mit drüben „menschlicher“ sein soll –, ein neues politisches Betätigungs-, besser: Diskussionsfeld bedeutet. Und es geht um Bahro nur, weil einer so geeinten Linken ein „mutiger Held“ (den die DDR einsperrt, weil sie nicht fähig und willens ist, ihn zu kritisieren) gerade recht ist, um ihn für die eigene Feier linker Einheit und die Selbstbespiegelung einer sog. linken Bewegung vereinnahmen zu können.


Solidarisch heraus aus dem Abseits

Insofern – nicht weil Bahro etwas davon hätte – war dieser Kongreß eine erfolgreiche Veranstaltung. Alles, was links fühlt, war irgendwie vertreten, um den altbekannten Spruch „Geh doch nach drüben!“ fortschrittlich zu interpretieren und so für heutiges Links-Sein nützlich zu machen. Auch die Öffentlichkeit ist ziemlich breit hergestellt, wie es der Kongreß bezweckte:

„Sein Ziel war erst einmal, internationale, nationale Öffentlichkeit zu erreichen. Und diese Öffentlichkeit haben wir erreicht – soweit es möglich ist.“ (Rudi Dutschke)

Und wie es möglich ist. Die Presse braucht ihrer Genugtuung über den Zustand des linken Widerstands in der BRD und Westberlin nicht einmal durch Lügen Ausdruck zu verleihen:

„Bahro-Kongreß vereint Westeuropas Linke. Nur DKP und SEW stehen im Abseits.“ (Süddeutsche Zeitung)

„Harte Kritik am sowjetischen Staats- und Gesellschaftssystem“ (Berliner Tagesspiegel)

„Eurokommunist verteidigt »bürgerliche Demokratie«“ (Frankfurter Rundschau)

„Eine irritierende Einigkeit beinahe aller bestand jedoch in der Behauptung, daß es im Sozialismus wirkliche Meinungsfreiheit geben müsse, und daß der Sozialismus die bürgerlichen Freiheiten nicht beseitigen, sondern ernstlich wahr zu machen habe.“ (Frankf. Allgemeine Zeltung)

„Wir demonstrieren und diskutieren für und über Rudolf Bahro, weil wir für den Sozialismus sind. Sozialismus und Demokratie sind untrennbar.“ (Resolution des Kongresses, abgedruckt in der FR)

Leider konnten Willy Brandt, Helmut Schmidt und Jimmy Carter nicht am Kongreß teilnehmen. Willy, weil er krank war (er schrieb deshalb eine Grußadresse), Helmut, weil er damit beschäftigt war, die Kasse des Staats und der Unternehmer durch Steuererleichterungen aufzubessern, Jimmy, weil er gerade zusammen mit dem Schah die Realität der Menschenrechte in Persien verwirklicht. Natürlich hat man sie auch gar nicht eingeladen, weil das vielleicht dem einen oder anderen doch noch peinlich gewesen wäre. Es war auch nicht nötig, denn ihr freiheitlich-demokratischer Geist ist und war eh unter allen Teilnehmern des Kongresses, ganz zu schweigen von den vielen inoffiziellen Vertretern dieser drei hohen Persönlichkeiten, die anwesend waren und in ihrer Person bewiesen, wie gut sich demokratische Gewalt und sozialistische Utopie (= demokratische Ideale der demokratischen Gewalt) vereinbaren lassen. Allen voran Rudi Dutschke („Wiedervereinigung ?! Warum eigentlich nicht, meint Rudi Dutschke“), der seinen Mythos aus einer Zeit, da er und seine Studentenbewegung der Autorität des demokratischen Staates wenigstens antiautoritäre Protestaktionen entgegensetzten, voll in den Kongreß einbrachte, um die Entwicklung einer „neuen Solidarität in der westeuropäischen Linken“ vorwärtszubringen. Sein Beitrag zum ersten antikommunistischen Kongreß der Linken in der BRD und Westberlin und Europa bestand darin: 1. ungeachtet der schwachsinnigen erfahrungs- und moralgeschwängerten und der Argumente entbehrenden theoretischen Beiträge mit seiner Figur für eine solidarisch-straffe Diskussion zu sorgen; 2. allzu offene Antikommunismen mit radikalen Sprüchen von den „Unterdrückten und Beleidigten“ solidarisch fruchtbar zu machen, und 3. die Solidarität und Einheit in den Vordergrund zu rücken. „Wir machen die Solidarität so breit wie nur möglich“, sagte er und brachte Sätze zustande, in denen Subjekt, Objekt, Prädikat und auch noch das Attribut aus dem einen Wort „Solidarität“ bestanden.

Es stimmt also nicht, was Professor Elmar Altvater anläßlich einer der täglichen Sammlungen für die Unkosten des Kongresses sagte: „Solidarität ist immer teuer.“ – auch wenn die Linke die Kosten eines Kongresses wie diesen noch selbst tragen muß. Solidarität ist im Gegenteil billig zu haben – man muß nur den richtigen Ansatz finden. Welcher das ist und daß der Kongreß ihn gefunden hat, verriet „Genosse“ Boris Weil, wohnhaft in Wien, mit seinem Urteil über seine frühere Heimat, das allen Kongreßteilnehmern aus dem Herzen gesprochen war:

„Das Volk ist des Kommunismus müde.“

 

aus: MSZ 26 – Dezember 1978

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