Kleiner historischer Abriß zur Reaktortechnik

Der nationale Kern der Atomspaltung


Der dornenvolle, aber konsequente Eintritt ins Atomzeitalter ist ein Lehrstück dafür, wie Naturwissenschaftler und Techniker mit bestem Wissen, Unwissen und Gewissen sich um das verdient machen, was die Grundlage der immergrünen Phrasen des scheidenden Bundespräsidenten und ganzer Staatsbürgergenerationen über „Fluch und Segen der Technik“ bildet. Die MSZ-Redaktion hat deshalb beschlossen, mit einem ihrer üblichen historischen Exkurse einen längeren Artikel über die strahlenden und anderen Leistungen der heutigen Naturwissenschaftler und Techniker vorzubereiten. Auch aus der Geschichte läßt sich schließlich etwas lernen.


„Kernenergie – eine Forderung der Zeit“

„Als um die Jahreswende (1938/39) aufgrund der chemischen Ergebnisse von Prof. Hahn die Aufspaltung des Atomkerns Gewißheit wurde, stellten wir uns sofort die Frage: Wenn nun bei der Spaltung durch ein auftreffendes Neutron einige Neutronen freigemacht werden, was geschieht dann weiterhin mit diesen Neutronen?“,

um die Antwort auf diese naturwissenschaftliche Frage in einem Artikel „Die Ausnutzung der Atomenergie“ schleunigst zur Propaganda der ungeahnten Möglichkeiten auszugestalten:

„Damit ist das erreicht, was bisher nie gelungen war: Mit einem einzigen Neutron, das »zündet«, wird eine wägbare, ja beliebig große Menge von Uran umgesetzt und dabei Kernenergie freigemacht. Man kann ziemlich genau angeben, wieviel Energie man so gewinnen kann. In der Natur kommt Uran in der Verbindung Uranoxyd vor ... wie es etwa in den Gruben von Joachimsthal im Sudetengau gewonnen wird ...“ (welcher ja glücklicherweise kurz vorher reichsdeutsch geworden war).

Diese nüchterne Schwärmerei zeigt alles andere als das ernsthafte Bemühen, die Wirkungen der entdeckten Prozesse zu erörtern, und sich Gedanken über die Voraussetzungen, Bedingungen und Folgen ihrer Anwendung zu machen. Eine mögliche Wirkung wird hier angepriesen mit der selbstverständlichen Unterstellung, daß dieser Effekt staatliche Aufmerksamkeit und Forschungsgelder verdiene. Kaum stand also fest, daß durch Hahns Experimente einige Urankerne zum „Zerplatzen“ gebracht worden waren, da richtet sich schon das Forscherbemühen zielstrebig darauf, unabhängig von den noch fehlenden Kenntnissen über die Natur der Kernspaltung – von dem was da passierte, hatte man noch so gut wie keine Ahnung, ganz zu schweigen von der Frage nach der Beherrschbarkeit der Reaktion – dem Staat ein brauchbares technisches Mittel zur Freisetzung von Energie an die Hand zu liefern. Und weil in schwerer Stunde der menschliche Geist bekanntlich am erfindungsreichsten ist und außerdem der Kern der ,,internationalen Gemeinschaft“ von Atomphysikern unter den stürmischen Zeitläuften in nationale Teilchen gegensätzlicher Ladung gespalten worden war, machten sich die Nationalmannschaften schleunigst daran, den Wettlauf um den ersten „kritisch“ werdenden Reaktor und mehr zu gewinnen. Während jenseits des Großen Teiches emigrierte Physiker und Einstein den Ami-Präsidenten drängten, die Bombe in die richtigen Hände gelangen zu lassen, und schließlich bis zu 120.000 Leute antifaschistische Atomrüstungsarbeit leisten durften, bei der alle möglichen Erkenntnisse über Kernspaltung und Reaktorbau geradezu zwangsläufig abfielen, informierten kernige Deutsche erst einmal das Heereswaffenamt über die förderungswürdigen Möglichkeiten der Energiegewinnung –

„Das Land, das als erstes Gebrauch davon macht, besitzt gegenüber den anderen eine nicht mehr einzuholende Überlegenheit“ –

und „einer der führenden Köpfe unter den deutschen Kernphysikern“, Heisenberg, machte in einem Artikel „Die Möglichkeiten der technischen Energiegewinnung aus der Uranspaltung“ gezielte Angaben, was technisch erreicht werden müsse und was damit an Energie zu gewinnen sei:

„Die Anreicherung von Uran 235 ist die einzige Methode, mit der das Volumen der Maschine klein gehalten werden kann. Sie ist ferner die einzige Methode, um Explosivstoff herzustellen, die die Explosivkraft der bisher stärksten Explosivstoffe um mehrere Zehnerpotenzen übertreffen.“

Ein Jahr später, inzwischen ist er „beherrschende Figur im »Uranverein«“, steht sein Konzept für „Bau und Arbeit eines Kernreaktors“. So einfach ist das eben, wenn man sich bloß darum kümmert, in Windeseile eine kleine Maschine zu konstruieren, die Kernenergie freisetzt, ohne gleich zu explodieren, damit aber auch technische Anleitungen und Herstellungsmaterial für Explosionsmaterial liefert. Und irrt sich mal ein vom Kernphysiker zum Möchte-Gern-Reaktorbauer fortgeschrittener Naturwissenschaftler mit seiner Feststellung, Graphit sei doch untauglich als Moderator, so fährt gleich nach der Eroberung Norwegens ein anderer im Wehrmachtsauftrag in die dortige Wasserstoffabrik, um als alter wissenschaftlicher Kunde

„die Herstellung von schwerem Wasser auf die Tonnenzahlen zu bringen, die von den deutschen Kernforschern für den Betrieb eines Uranreaktors benötigt wurden“.


„Kontrollierte Kettenreaktion“

Die nationale Pflichterfüllung gebietet also, alle theoretischen Lücken geflissentlich zu übersehen, das Machbare so schnell wie möglich zu machen und das Wissen um die Gefährlichkeit der eiligen Versuche sowie der Reaktoranlagen überhaupt zurückzustellen, und sich lediglich ein paar Überlegungen zum Strahlenschutz der Anlagenbauer auf Basis der vorliegenden unvollständigen Kenntnisse über deren Wirkungen zu machen. Die einen schustern einfach einen Riesenhaufen Uran (52 Tonnen) mit Graphitziegeln und Cadmiumstäben zusammen, „um eine unkontrollierbare Kettenreaktion zu verhindern“, lassen das Ganze kritisch werden und produzieren schon zwei Jahre später Uran 235 und in sechs Reaktoren Plutonium für Atombomben. Die andern beklagen sich über die mangelnde Förderung durch den faschistischen Staat und experimentieren noch im zerfallenden Großdeutschland in leeren Schulen und Felsenkellern, bevor sie schließlich das Uran im Kartoffelacker und das Schwere Wasser in einer Mühle vor den Alliierten verstecken und selber vor dem Zugriff der Russen in einem britischen Sonderinternierungslager versteckt werden, wo sie „fassungslos“ vom Abwurf der ersten Atombombe Kenntnis nehmen.

Während ein Mann der ersten Stunde und späterer Hoechst-Aufsichtsratsvorsitzender und Leiter des Deutschen Atomforums noch heute davon schwärmt, daß es damals keine Probleme mit den schon bekannten Wirkungen der Kernspaltung gab –

„Im Zeichen des Krieges entzogen solche Maßnahmen sich jeglicher Kritik. Geld spielte keine Rolle. Die militärische Geheimhaltung schützte vor öffentlichen Diskussionen wie vor jeder Art von Störung des gewaltigen Vorhabens ... Trotz der Gefahren, die das Projekt mit sich brachte, gab es wenig Unfälle im Verhältnis zu der großen Zahl der Personen, die daran mitwirkten. Die fertige Bombe mußte schließlich nur noch exakt in das gewählte Ziel geworfen werden. Damit würde die Aufgabe erfüllt sein. Die Gewalt der Explosion konnte unter militärischen Gesichtspunkten nicht groß genug sein. Auch die beträchtlichen Mengen an Zerfallsprodukten und die lebensbedrohende Strahlung waren ja »erwünscht« ... Was nicht unbedingt zur Erreichung des Ziels notwendig war, z.B. die Handhabung und Beseitigung radioaktiver Rückstände beim Zerfall des Urans und bei der Gewinnung des Plutoniums, das alles hatten die Militärs und Politiker ( natürlich nicht die Wissenschaftler!) auf später (!) verschoben.“ –,

notierte ein anderer – späterer Karlsruhe-Mann, Atomsperrvertrags-Experte und Atomforumsmitglied – offenherzig den damaligen Willen deutscher Forscher, die nationale Gunst der Stunde zu nutzen, den Fortschritt im Geheimauftrag voranzutreiben:

„Ein Zwiespalt trat ... in bezug auf die Isotopentrennung niemals in den Herzen der Wissenschaftler auf. Mit großer Offenheit konnte über die Möglichkeiten (!) der Atombombe auf Basis von Reinuran 235 diskutiert werden. Das Ziel war während des Krieges definitiv unerreichbar (!). ... Für die meisten der deutschen Kernphysiker hatte sich die Frage, ob Bau einer solchen Bombe oder nicht, in der Praxis noch gar nicht gestellt.“ (Wegen der „begrenzten Vorstellungen“ Hitlers, dem „jüdische Wissenschaftler“ „die Kernphysik suspekt“ erscheinen ließen!)


„Schöne Physik“ mit „Gewissensbissen“

Es ist diesen Wissenschaftlern, die dann nach 45 tatkräftig mitgemischt haben, daß ,,deutsche Naturwissenschaftler wieder als wissenschaftliche und technische Wettbewerber auftraten“ und im Verein mit dem demokratischen Staat und seiner Industrie der strahlende „Aufbruch in eine neue Zeit“ möglichst rasch vonstatten ging, nicht vorzuwerfen, sie hätten ungewußt leichtfertig gehandelt, oder es umgekehrt nur auf den Bau der Bombe abgesehen. Die wissenschaftlichen Kraftanstrengungen, auf Kosten gesicherten Wissens und sicherer Techniken das theoretisch Mögliche auch praktisch machbar zu machen, ohne Rücksicht auf gewußte oder nicht gewußte Voraussetzungen und Folgen, verdanken sich dem selbstverständlichen eigenen Bemühen, dem Staat – der nationalen Dringlichkeit entsprechend möglichst schnell – seine Anwendung technischer „Möglichkeiten“ zu ermöglichen.

Daß sie deswegen in den Jahren der nationalen Entscheidung ihre ganze Anstrengung darauf richten, mit dem Wissen, daß Kernspaltung geht, als erste einen Reaktor zu bauen (Man selbst und die wissenschaftliche Konkurrenz war schließlich inzwischen Geheimnisträger!), und die Versuchsanlagen dann gleich für die praktische Anwendung für das Kriegsmaterial benutzen, gehört dabei ebenso zu ihrer selbst- und staatsauferlegten Verantwortung, wie die Beurteilung von Krieg und Politik als mehr oder weniger günstige Mittel zur Beschleunigung ihrer Wissenschaft.

Während Enrico Fermi scheinbar gewissenlos Gefallen an der gewissenhaften Erfüllung seiner Bombenaufgabe findet –

„Laßt mich in Ruhe mit euren Gewissensbissen, das ist doch so schöne Physik“ –,

andere die Mitarbeit durch eine persönliche Meinung bereichern –

„Ich persönlich halte es für ein Unglück, daß die Atombombe entwickelt worden ist.“ –

beschweren sich dritte, wie besagter ehemaliger Professor und Hoechst-Manager Winnacker, der außer seinen Facharbeiten auch noch ein Buch „Nie den Mut verlieren. Erinnerungen an Schicksalsjahre der deutschen Chemie“ und eins über „Das unverstandene Wunder. Kernenergie in Deutschland“ geschrieben hat, darüber, daß Krieg und Atombombe unbegründeten „Argwohn genährt“ haben, „wo Kernenergie als Grundlage unserer Volkswirtschaft in Betracht gezogen wird.“


„Ideen“–„Explosion“

Weniger Probleme hat dieser Mann damit, daß der strikt auf die Erarbeitung staatsnützlicher Resultate beschränkte Fortschritt der Wissenschaft auch mit naturwissenschaftlicher Redlichkeit nur bedingt zu tun hatte. Im Gegenteil! Er schätzt die wissenschaftlichen Proportionen so ein, wie es sich für einen deutschen Unternehmensmanager gehört, und belegt dabei zugleich, daß neben Militärs und Politikern auch die Wissenschaftler selber alles, „was nicht unbedingt zur Erreichung des Ziels notwendig“ ist, „auf später verschieben“:

„Die läge ist hier jetzt (nach dem Krieg in Göttingen) ganz und gar anders. Arbeiten, die auf Atomenergie im Hinblick auf ihre Entwicklung als Waffe gerichtet sind, werden selbstverständlich (!) nicht in Betracht gezogen. Die Alliierten haben ohnehin(!) jede Art von Betätigung auf diesem Gebiet verboten. Die erste Aufgabenstellung für die Göttinger Physiker ist bescheiden(!). Zunächst bemühen sie sich u.a. um den Abschluß einiger theoretischer Arbeiten (Die waren in den wissenschaftlichen Kriegswirren liegengeblieben!) und um die Vorbereitung der Atomenergiegewinnung für friedliche Zwecke.“

Da lobt er sich doch die vorbildliche Verbindung von Theorie und Praxis in Amerika, wo 1950

„Teller ... auf seine Berufung an die Universität von Kalifornien verzichtete und sich in die Arbeit stürzte. Nicht zuletzt ging es ihm auch darum, zu sehen, ob seine Ideen über den Fusionsprozeß richtig oder falsch waren.“

Sie waren offenbar richtig, wie das Experiment bewies:

„Doch am 1. November 1952 war es soweit: auf der kleinen Insel Elugaleb im Eniwetok-Atoll ereignete sich die erste vollständige Explosion einer Wasserstoffbombe.“


„Willensfreiheit“ und „Determinismus“

Zum Glück ist inzwischen auch hierzulande die Lage wieder ausgezeichnet, nachdem sich deutsche Naturwissenschaftler und Ingenieure durch den 10jährigen Vorsprung der ehemaligen Alliierten und mit staatlicher und industrieller Hilfe anspornen ließen, auch die unbescheideneren Arbeitsfelder wieder fleißig zu beackern – zur friedlichen Nutzung der Kernenergie. Die geistige Auslegung ist in allen notwendigen Wandlungen immer noch dieselbe, wie einer der alten Haigerlocher Kellergeister (späterer Mitunterzeichner der »Göttinger Erklärung« gegen atomare Bewaffnung der Bundeswehr, Friedens- und Lebensumweltforscher und schließlich Fast-Präsidentenkandidat) beweist.

Wenn v. Weizsäcker in treulicher Besinnung auf seine allzeit geübte Verantwortung einen hippokratischen Eid für Naturwissenschaftler vorschlägt – Motto: Das Gute wollen, das Böse meiden! –; wenn sich dieselbe naturwissenschaftliche Ex-Größe gerne daran erinnert, daß sich ihr bei der ersten Kenntnisnahme der Heisenbergschen „Unschärferelation“ blitzartig die scharfe Möglichkeit eröffnete, sein „naturwissenschaftliches Weltbild“ „seinem ,,Menschenbild“ anzugleichen –

„Aha, also ist der Determinismus der klassischen Naturwissenschaft gar nicht wahr. Also könnte es sein, daß das, was meine Mutter sehr eindrucksvoll für mich vertritt, die Willensfreiheit, auf eine ganz geheimnisvolle Art und Weise vereinbar ist mit der Geltung der Physik auch im menschlichen Körper, der unverbrüchlichen Geltung der Naturgesetze, weil die Naturgesetze selber nicht so sind, wie wir gedacht haben ... (Es eröffnete sich für mich die) Hoffnung auf ein Ganzheitsbild, in dem sich nicht gegenüberstehen ein Subjekt, das sozusagen keinen Leib hat, und ein Leib, der sozusagen nicht subjektiv ist“ –;

dann repräsentiert dieser exakt spekulierende Philosoph relativ genau die heutige Weite der staatsbürgerlichen Gedanken, die sich die Naturwissenschaftlerzunft neben ihrer und über ihre wissenschaftliche Tätigkeit zu machen pflegen. Zu der absoluten Gewißheit, daß eine moderne Wirtschaft und ein aufgeklärter Staat auf die Nutzanwendung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse nicht verzichten können, gesellt sich einerseits die idealistische Phrase, die experimentierenden Diener des Allgemeinwohls sollten sich aus den verheerenden Wirkungen dieser Nutzanwendung offiziell ein arbeitsförderndes Gewissen machen. Andererseits tobt neben der gezielten Anwendung der unverbrüchlich geltenden Naturgesetze ein leibhaftiges Subjekt seine Willensfreiheit aus, vom Determinismus wissenschaftlichen Denkens Abstand zu nehmen und – ganz im Stile östlicher Materialismusfanatiker, aber mit entgegengesetzter Ladung – aus den Ergebnissen der Quantenmechanik den alten leib-geistigen Adam neu zu erschaffen.


„Vernünftige Ökonomie“

Ebenso wie lange vor der Formel ∆x∙∆p ≈ h das klassische Moralgesetz von der Freiheit durch Selbstbeherrschung Gültigkeit besaß, ebenso unbestreitbar beherrscht der Geist des geforderten Eides nicht nur die Köpfe derjenigen, die aus ihrer „friedlichen“ Forschertätigkeit „hochgeschreckt“ zu Friedensmahner geworden sind, sondern leitet auch die Anstrengungen derer, die fern der Öffentlichkeit im Labor über Formeln und Experimenten brüten, Probleme der technischen Umsetzung wälzen, Anlagen entwerfen und ihren Betrieb überwachen. Wie sich die friedlichen Prinzipien, die z.B. in einem Fachbuch über Reaktortechnik wie ein roter Faden die naturwissenschaftlichen Darlegungen durchziehen –

„In einer vernünftigen Ökonomie wird sich aber ein technisches System nicht allein deshalb durchsetzen, weil es irgendwann in der Zukunft helfen könnte, die Versorgung sicherzustellen. Es muß immer auch einen deutlichen wirtschaftlichen Anreiz bieten und die abgegebene Nutzenergie zu einem geringeren Preis erzeugen als die konventionelle Konkurrenz“ –,

auf die Naturwissenschaft niederschlagen, behandelt die nächste MSZ.

 

aus: MSZ 30 – Juli 1979

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