„Das Island-Drama nimmt noch kein Ende“ (Handelsblatt)

Eine brave Volksempörung in Island. Wogegen sie sich (nicht) richtet und wem sie (nicht) nützt …

Während in Griechenland einige zigtausend Gewerkschafter und andere Demonstranten es für höchst „ungerecht“ halten, dass „der kleine Mann“ für die Finanzprobleme der upper classes und des Staates her halten muss, und sich bei ihren Protesten seitens der Ordnungskräfte Papandreous ein blutige Nase holen, hat in Island ein ganz offizielles Volksreferendum über die Rückzahlung von Auslandsschulden stattgefunden. Ergebnis: 93,5 % der Isländer lehnen eine Entschädigung ausländischer Bankkunden auf Staatskosten ab. Weil sie selbst Einschränkungen befürchten wegen Vergehen anderer und/oder ihren Staat gegen Anfeindungen in Schutz nehmen wollen.

So oder so – ein für Demokratien, denen Volkseinmischung prinzipiell ein Greuel ist, ungewöhnlicher Fall. Was ist da los?

Der Hintergrund ist der folgende. Island ist seit der Finanzkrise pleite, kann nur mit Hilfe internationaler Kredite (IWF, einzelne staatliche Kreditgeber) überleben. Entsprechend teuer für den isländischen Staat ist eine solche „Hilfe“ von außen: hohe Zinsverpflichtungen bzw. Auflagen an die künftige Wirtschaftspolitik. Alle Blütenträume isländischer Politiker, die eigene Unabhängigkeit aufrechterhalten und wirtschaftlichen Aufschwung durch Florieren als Finanzplatz auf die Insel zu holen, sind geplatzt. Seither liebäugelt die Regierung mit einem Wegschmeißen ihrer Währung und Unterordnung unter die Euroländer und deren Ordnung, weil sie anders nicht mehr kreditwürdig zu werden glaubt (die Auslandsschulden liegen 2009 etwa beim Zehnfachen des BIP).

Die privaten ausländischen Geldgeber der kaputtgegangenen isländischen Banken forderten überdies lautstark eine Entschädigung, für die der kleine isländische Einlagensicherungsfonds natürlich nicht gemacht war. Die Regierungen von Großbritannien und den Niederlanden, deren Bürger besonders viel in Island angelegt hatten (bei der Internetbank Icesave 3,8 Mrd. Euro), entschädigten diese – zur Stützung ihres eigenen einheimischen Geld- und Kreditkreislaufes – ohne Absprache mit der isländischen Regierung und legen dieser, die mit dem Rücken zur Wand steht, jetzt die Rechnung vor (incl. 5,5 % Zinsen auf die Forderungen). Um ihre Glaubwürdigkeit als Schuldnerin und Verwalterin des isländischen Kapitalstandorts zu sichern, war und ist diese Regierung zu allem bereit.

Die Parlamentarier in Reykjavik , die entsprechende Beschlüsse im Namen des Volkes absegnen wollten, bekamen allerdings unliebsamen Besuch. Demonstranten belagerten symbolisch das Tagungsgebäude und machten ihrem Ärger mit Rauchbomben Luft. Nach einer Phase der Empörung reagierte die Regierung interessanterweise – nach der Weigerung des Präsidenten, das unpopuläre Schuldenabkommen zu unterzeichnen – damit, dass sie ein Volksreferendum zuließ, statt die Protestler zu kriminalisieren. Und dieses Referendum hat jetzt sein deutliches Nein erbracht. Die Regierung versucht infolgedessen, die ausländischen Gläubigernationen zu beschwichtigen:

„Ministerpräsidentin Johanna Sigurdardottir und Finanzminister Steingrimur Sigfusson beharren darauf, dass die Ablehnung ihres Gesetzentwurfs keine Konsequenzen haben werde. Das Referendum sei »sinnlos«, kommentierte die Regierungschefin.“ (Handelsblatt, 8.3.10)

Offensichtlich ist, wer hier international von wem abhängig, also zum Einknicken verpflichtet ist; im Zweifel auch gegen die Meinung des eigenen Volks, das sich gegen die Subordination auflehnt.

Andererseits ist der Protest der Bevölkerung, der die Regierung ja nur auf ein nationalistisches Nein zu als unberechtigt empfundenen Forderungen des Auslands verpflichten will und keineswegs in irgendeiner Form darauf, den Leuten in Island die Abhängigkeit von Finanzgeschäften zu ersparen, ein gar nicht so unerwünschtes Unterpfand für die Staatsmacher in Reykjavik bei den Verhandlungen mit GB und NL (und dann auch mit EU und IWF). Dass sich allerdings die zwei – selbst in Finanzproblemen größeren Kalibers steckenden – Gläubigernationen zu irgendwelchen Zugeständnissen bereit erklären, bloß weil eine Regierung Probleme mit ihrem Volk hat, ist nicht zu erwarten. Schließlich sind das demokratisch verfasste Staaten: Die erwarten umgekehrt, dass eine souveräne Regierung „dem Druck der Straße standhält“ und darauf verweist, dass sie regelgerecht an die Macht gewählt wurde; und dass sie dem Pöbel klarmacht, dass er auf Gedeih und Verderb vom Erfolg seiner Staatsgewalt und dem ihres kapitalistischen Standorts abhängt – also gefälligst die Schnauze halten und alle materiellen Einschnitte hinnehmen soll.

Was man so hört, muss das isländische Volk derlei »Einsichten« gar nicht gewaltsam eingebleut bekommen. In Interviews geben die Protestler in Reykjavik zu Protokoll, dass sie die Abhängigkeit ihrer Politiker vom stärkeren Ausland und ihre Abhängigkeit von diesen Repräsentanten Islands einsehen und letztlich auch akzeptieren. Ein bisschen bessere Konditionen beim Schuldendienst waren und sind das Endziel ihrer Einmischung.

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Frankreichs Finanzministerin kritisiert deutsche Wirtschaftserfolge

Wie Konkurrenz den Blick schärft

In Deutschland zeichnen Politiker und Medienfritzen ein positives Bild von unserem Gemeinwesen. Deutschland ist in dieser Optik, die wir alle bitteschön übernehmen sollen, ein tüchtiges Land voller findiger und fleißiger Menschen, wo man die Ärmel schon mal hochkrempelt und sich auch bitteren Notwendigkeiten stellt. Entsprechend hat Deutschland aber auch berechtigte Erfolge zu verzeichnen, an denen die Bewohner irgendwie alle teilhaben und auf die sie stolz sein dürfen. Andere Nationen könnten sich da eine Scheibe abschneiden. Im Moment fällt allen Griechenland ein, morgen sitzt Spanien oder Irland auf der Anklagebank.
Mitten hinein in diese Propaganda daheim platzt eine Botschaft aus Paris. Finanzministerin Lagarde, eine Frau des offenen Worts, geht auf „uns“ los. Deutschland habe die Misere in Griechenland selbst mit verursacht, unter der jetzt die Griechen und wegen der Kosten der Hilfe auch andere Europäer leiden. Die griechischen Schulden seien nicht nur hausgemacht, sondern durchaus auch die Kehrseite notorischer einseitiger Exporterfolge der Deutschen. Diese Erfolge seien keineswegs Ausdruck einer besonderen Tüchtigkeit, sondern wesentlich auf Lohndumping zurückzuführen. In Deutschland würde eine aggressive Lohnpolitik betrieben, von Unternehmen und vom Staat, die nur auf Lohndrückerei und Lohnkostensenkung ausgerichtet sei, um andere Nationen bei den Produktionskosten an die Wand zu drücken. Dass Löhne auch steigen könnten, um die Konsumnachfrage im Land zu fördern und so auch Importe aus dem Ausland zu ermöglichen, werde in Deutschland verächtlich ignoriert. Deutschland wähne sich im Sachzwang der Lohndrückerei, treibe aber in Wahrheit die Globalisierungskonkurrenz mit solchen Methoden immer weiter voran und spalte damit Europa in Gewinner und Verlierer, gefährde die Einheit, auch unsere gemeinsame Währung …

Die Frau ist als Nationalistin, als Repräsentantin der französischen Nation und der französischen Lesart von Europa empört. Aus Frust über Ärgernisse, die die deutsche Konkurrenznation mit ihren Erfolgen und so manchen Wirkungen dieser Erfolge für ihre Nation zu verantworten hat, spricht sie Wahrheiten an, die in Deutschland keiner anspricht und auch keiner hören will:
• Dass in Europa kein Wettbewerb der Länder um den Lorbeerkranz größter Tüchtigkeit stattfindet (und am Ende Deutschland wie früher im Fußball gewinnt), sondern mit den Waffen kapitalistischer Konkurrenz, also mit allen Bandagen, um Märkte und Erlöse gekämpft wird bis hin zum Ruin des Konkurrenten, deckt sie auf.
• Dass die Tüchtigkeit deutscher Exporteure zu einem großen Teil mit der Rücksichtslosigkeit gegenüber den Arbeitern zu tun hat, die mit Arbeitslosigkeit bedroht und zur Hinnahme von Lohnverlusten erpresst werden, diesen Gegensatz von Nationalerfolg und Wohlergehen der arbeitenden Bevölkerung nennt sie beim Namen.
Es ist eben so, dass beim Konkurrenten, hier Deutschland, genau die Lügen und Beschönigungen entlarvt werden, die man zu Hause selber pflegt. Konkurrenz schärft den Blick: aber nicht auf die von allen verfolgten Prinzipien, sondern auf die Machenschaften des Konkurrenten, der einem gerade in die Quere kommt. Dort gelten die Geschäftsmethoden als ungerechtfertigtes und unvernünftiges Konkurrenzmittel, die man zu Hause selbstverständlich genau so einsetzt.

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Der deutsche Blick auf die Welt

Beispiel Gewaltexzesse in Thailand

Unsere Medien berichten über alles, was auf dieser Welt passiert, aus einem interessierten Blickwinkel. Alles betrifft „uns“ irgendwie, alles geht „uns“ irgendwie an. „Wir“ sind nämlich eine Nation, deren Macher überall in der Welt praktische Interessen haben – andere Nationen und deren Bewohner sind also gefragt. Sie haben diese Interessen zu bedienen. Das ist die Anspruchshaltung, die von den Medien gepflegt wird. Und der hiesige Normalo, dessen Interessen eher bloß lokale Reichweite haben, wird als ideeller Parteigänger mit eingemeindet in die Interessenlage „seiner“ deutschen Nation.

Wie dann berichtet wird, wie sehr irgendein Ereignis Aufmerksamkeit auf sich zieht und welche Bewertungen in die Berichterstattung eingehen, das hängt dann davon ab, wie wichtig die Sache für „uns“ ist.

Beispiel Thailand. Seit Wochen eskaliert dort ein Bürgerkrieg. Ein Teil der thailändischen Bevölkerung demonstriert mit Vehemenz gegen die Regierung. Alle möglichen Methoden werden ausprobiert: Von der Belagerung von Regierungsgebäuden über Hungerstreik bis zu Angriffen auf Sicherheitskräfte. Die Regierung fürchtet um ihre Macht und schlägt mit allen Mitteln zurück. Auf Demonstranten wird geschossen, das Militär geht rigoros gegen die Aufständischen vor.

Nichts von alldem bleibt dem deutschen Publikum verborgen, Schreckensbilder inbegriffen. Aber die Berichterstattung ist bemerkenswert cool. Ein Aufschrei der Empörung über die „menschenverachtenden“ Übergriffe der dort herrschenden Macht bleibt aus; aber auch Gewalt auf Seiten der „Rothemden“ wird nicht rundheraus verurteilt. Ganz anders als z. B. im Fall China: Das „Massaker“ auf dem Tianmen-Platz gegen als prowestlich betrachtete Studenten 1989 wird noch heute als abscheulicher Beweis für die Verkehrtheit eines Regimes beschworen. Oder im Fall Griechenland: Hier geht die Regierung unserer Öffentlichkeit zufolge zu Recht gegen Krawalle vor, weil die harte Sparpolitik „ohne Alternative“ ist; die militanten Volksfreunde dagegen werden moralisch ins Abseits gestellt. Offenbar ist es so, dass die hiesigen Beobachter erstmal keinen Grund sehen, warum sie in Thailand für die eine oder die andere Partei Partei ergreifen sollen. Der Held der Aufständischen war schon mal Präsident und hat nichts verkehrt gemacht aus deutscher Sicht. Die jetzige Regierung, die ihn weggeputscht hat, gilt auch nicht als besser oder schlechter. Also wartet man ab, was aus dem Aufstand bzw. seiner Niederschlagung wird. Und erst, wenn sich der Bürgerkrieg länger hinzieht, eine dauerhafte „Destabilisierung“ der Verhältnisse droht, ist man ein wenig parteilich – für die Kraft, die am stärkeren Hebel sitzt. Damit wieder Ruhe einkehrt und alles wieder so funktional wird in unserem Sinne wie es zuvor war.

Wann „wir“ moralische Werte, Menschenrechtsgesichtspunkte, geltend machen, wann nicht, hängt eben davon ab. Ebenso bei wem. Werden Proteste niedergemacht, die „wir“ mit unseren Interessen parteilich begleiten, ist das nicht hinnehmbar. Geht´s knallhart gegen Leute, die aus unserer Sicht keine bessere Alternative für das jeweilige Land parat haben – natürlich in Hinblick auf unsere deutschen Ansprüche an dieses Land! –, dann ist das vielleicht schade, ansonsten aber für’n Arsch. Und manchmal kann man nicht gleich zwischen den „Guten“ und den „Bösen“ unterscheiden …

Man merkt, wie Moral und Interessiertheit zusammengehören. Unsere Medien mit ihren intellektuellen Saubermännern und -frauen führen es uns vor.

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Lichtblick beim Zeitunglesen

Da kämpft man sich durch den ganzen Krampf von Sorgen, die man nicht teilt

- ob der Wendlandprotest friedlich bleibt, ob Merkel in Krafft eine Rivalin kriegt, ob Künast das Zeug hat, Berlin zu regieren, ob Schalkes Abwehr endlich gefestigt ist, ob die Integration für Ausländer am fehlenden Geld für Deutschkurse scheitern könnte, ob Amerika nach Obamas Abstrafung noch handlungsfähig ist, ob wir Deutschen immer nur griesgrämig sein können und und und –,

und dann stößt man plötzlich auf eine Frage, die einen wirklich gefangen nimmt: „Kann es sein, dass Libellen, diese kleinen Insekten, jedes Jahr 18.000 Kilometer zwischen Afrika und Europa hin und her fliegen?“

Auch ohne diesen Artikel weiter zu lesen, tritt Entspannung ein. Für Momente kann man das Frühstück wirklich genießen.

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Frau Merkel spricht zu uns

Neujahrsgrüße an die Indianer

Angenommen, jemand, der unsere Verhältnisse gar nicht kennte, hätte die Neujahrsansprache unserer Kanzlerin mitverfolgt. Und irgendwer hätte ihn eingeweiht, dass die Frau die Anführerin von 80 Millionen Deutschen ist.

Er hätte eine Frau mittleren Alters gesehen, die in einem unbequemen Kostüm dasitzt und bemüht deutlich zu ihren potenziellen Zuhörern spricht, ein bisschen so, als hätte sie Kinder vor sich.

Zu Beginn teilt sie ihren Landsleuten mit, wo sie mit ihrem Gemahl Silvester vor 20 Jahren verbracht hat, nämlich in Hamburg. Das kann unser fremder Beobachter nicht verstehen. Er müsste wissen, dass Merkel aus der DDR kommt und bis November 1989 gar nicht nach Hamburg hätte fahren können. Aber warum ist das jetzt wichtig? Ach ja, gerade war 20-Jahr-Feier des Mauerfalls und da kriegt die Chefin eine kleine Kurve hin: Mit dem Elan der Freiheitsbewegung damals verpacken „wir“ auch alle Probleme des Jahres 2010 irgendwie. Wenn wir diese Einstellung nochmals mobilisieren können, ist alles Dräuende halb so wild. Aber unterschätzen dürfen wir unsere Situation nicht:

„Es kann alles noch mal schlechter werden, bevor es dann wieder besser wird!“

Dieses merkwürdige „es“ könnte unserem Beobachter vielleicht ein Rätsel sein. Merkels Zuhörern oder Nicht-Zuhörern ist es sicher keins. Allen ist klar, dass wir alle in einen Zwangszusammenhang verstrickt sind, der „Wirtschaft“ heißt. Und dieses Ding hat so seine unberechenbaren eigengesetzlichen Aufs und Abs, die man mit noch so viel Macht, wie die Chefin, die Herrin über Steuern und Schulden, sie zweifellos hat, nicht wirklich in den Griff kriegt. Aber egal: Es gilt, auf einiges gefasst zu sein, aber die Zuversicht in den guten Ausgang der Rutschpartie nicht zu verlieren. Jetzt lächelt die Frau vor den Kameras – etwas gekünstelt, ein bisschen gewollt spitzbübisch, aber sie lächelt ihre Adressaten an. Ja, mit Ihrer und Gottes Hilfe könnte das Jahr 2010 am Ende vielleicht doch gar nicht so schlecht werden.

Unser Beobachter kriegt noch mit, wie die Anführerin am Ende ihres Auftritts sich aufs Wünschen verlegt – sie wünscht ihren Leuten ein gutes Neues Jahr. Dann ist das Zwiegespräch zu Ende. Er mag sich fragen, was die Ansprache eigentlich thematisiert hat und was eigentlich rausgekommen ist über die Lage und Zukunftsaussicht der 80 Millionen. Vielleicht fragt er sich auch, worin das Vertrauensverhältnis zwischen dieser Chefin ganz ohne Kriegsbemalung – ach ja, auf die Soldaten des Landes, die fern der Heimat den Jahreswechsel feiern müssen, ist sie auch noch zu sprechen gekommen! – und ihren Gefolgsleuten eigentlich besteht, das sie zu diesem feinen, bei aller Verkrampftheit irgendwie entspannten Lächeln des Zutrauens animiert hat.

Wir kennen diese Zustände und Gepflogenheiten demokratischer Herrschaft nun schon etwas länger. Aber immer mal wieder kommen sie uns merkwürdig und rätselhaft vor. So wie unserem Fremdbeobachter.

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Karlsruhe verlangt „Nachbesserung“ bei Hartz-IV

Was ist, wenn Kläger vom Verfassungsgericht Recht bekommen?

Das Bundesverfassungsgericht verkündet sein Urteil: Die Hartz-IV-Gesetze der Regierung sind „verfassungswidrig“. Wow, das sitzt!

Und was passiert jetzt? Muss die Regierung als verfassungsfeindliche Gruppierung abtreten? Oder muss sie wenigstens die Hartz-IV-Gesetze in die Mülltonne kloppen? Vielleicht Wiedergutmachung leisten an denen, deren Grundrechte jahrelang mißachtet wurden? Werden umgekehrt die Verfassungsrichter als Putschisten verhaftet oder wenigstens als Miesmacher beschimpft, weil sie in einem wichtigen Programmpunkt des Regierens stören?

Natürlich nichts von alledem. Regierungsvertreter kommentieren den Urteilsspruch, der die bisherige Hartz-IV-Rechtspraxis immerhin mit dem in einem Rechtsstaat härtestmöglichen Attribut „verfassungswidrig“ versieht, „erleichtert“. Sie hätten mit Schlimmerem gerechnet, die Folgekosten des Urteils blieben höchstwahrscheinlich auf einen einstelligen Milliardenbetrag begrenzt. Und es hagelt Vorschläge, wie man die Gesetzesregelungen schnellstmöglich so abändern könnte und sollte, dass der Verfassungsfrieden wieder gewahrt und alles in Butter ist.

Was also hat es mit dem höchstrichterlichen Spruch auf sich?

I.

Wenn jemand in unserer modernen demokratischen Ordnung der Meinung ist, dass er beschissen dran ist und dass das so nicht geht, wird er von unserer Rechtsordnung nicht im Stich gelassen. Er muss sich nicht, wie früher mal üblich, vor dem obersten Chef auf das Pflaster werfen und um Gnade winseln. Nein, er hat offizielle Ansprüche. Er muss nur vor Gericht ziehen und Klage einreichen, also nachweisen, dass seine miese Lage einem gültigen Gesetz oder einer Rechtverordnung widerspricht. Und selbst dann, wenn er über mehrere Instanzen erfolglos klagt, weil die jeweiligen Gerichte sein Ansinnen als unberechtigt ablehnen, hat er noch eine letzte großartige Chance: Er kann – Inbegriff der modernen Hochachtung der Rechtsordnung vor dem Bürger – das Bundesverfassungsgericht anrufen und versuchen, die Verfassungswidrigkeit der ihn negativ betreffenden Rechtspraxis feststellen zu lassen.

Genau dies haben drei von Hartz-IV lebenden Familien, die der Meinung sind, dass man davon nicht leben kann, unternommen. Und: Sie sind – man denke nur! – nicht etwa abgewiesen worden, sondern haben von den höchsten Richtern Recht bekommen. Ein Sieg also!

Was für einer eigentlich?

Der Sieg besteht natürlich nicht darin, dass den armen Familien ab sofort ihre Finanzprobleme abgenommen werden. Auch nicht darin, dass ihre sowieso schon bescheidenen Wünsche nach ein bißchen mehr Geld zum Überleben erfüllt werden (ob sie einen Cent zusätzlich erhalten, steht noch nicht fest, wird noch ausgeknobelt). Vielmehr besteht er in dem, was der Sache nach nur möglich war und ist: Das Gericht gibt den Klägern dahingehend Recht, dass die bisherige Regierungspraxis Unrecht ist, dass das bisher gültige Recht nicht in Einklang steht mit den höchsten Rechtsprinzipien, die in unserer demokratischen Verfassung verankert sind. Und das ist die Aufforderung an die Regierung, Abänderungen ihrer Gesetze so vorzunehmen, dass die Verfassungsvorgaben erfüllt sind. Mit anderen Worten: Nicht die materiellen Interessen der Kläger kriegen Recht, sondern ihr Verdacht (den sie mit Hilfe von Rechtsanwälten in einer Klageschrift „justiziabel“ formuliert haben), dass die Rechtsbescheide, die ihr Leben ausmachen, rechtlich nicht in Ordnung sein könnten. Wenn ein Bürger vor dem Verfassungsgericht Erfolg hat, dann kriegt er also zunächst nicht mehr als die Genugtuung, dass er darin Recht hat, dass der Staat, unter dessen Gesetzen er leidet, seine eigenen Prinzipien verletzt hat.

Der Sieg geht also an den Rechtsstaat, der Bürger hat ihn bloß eingefädelt.

II.

Und was heißt dieser Bürgererfolg jetzt genau? Das Verfassungsgericht hat festgestellt, dass die Hartz-IV-Gesetze in ihrer bisherigen Gestalt nicht mit dem „Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums“ übereinstimmen, es also verletzen.
Für sich schon sehr aufschlussreich, wie so ein Grundrecht auf ein „menschenwürdiges Existenzminimum“ beschaffen ist: Es geht, das zeigt die Begriffsformulierung, sowieso nur um die pure Existenz, ums Überleben, dabei dann auch nur um ein Minimum, und dafür gilt das ungemein präzise Kriterium, wieviel nicht der Mensch, sondern seine Würde braucht, damit das Minimum nicht unterschritten ist.

Nähere Erläuterungen zu diesem Grundrechtsanspruch gab das Gericht:

„Eine Anhebung der Leistungen folgt nicht unmittelbar aus dem Urteil. Die geltenden Regelleistungen seien jedenfalls nicht »evident unzureichend«, stellte Gerichtspräsident Hans-Jürgen Papier bei der Urteilsverkündung fest. Damit sei der Gestzgeber nicht unmittelbar von Verfassungs wegen verpflichtet, höhere Leistungen festzusetzen.“ (SZ, 10.2.)

Das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum ist als keineswegs dadurch verletzt, dass 359 Euro plus gewisse sonstige Leistungen nicht ausreichen. Dafür sieht der oberste Richter keine „Evidenz“ gegeben. Man kann damit also durchaus in Würde leben, ist der Bescheid an die Klägerfamilien, den die ruhig als Zurückweisung ihres Anliegens zur Kenntnis nehmen sollten.

Worin ist dann das Grundrecht verletzt worden?

„Das Gericht missbilligt aber viele Details der Berechnung. Künftig muss der konkrete Bedarf »realitätsgerecht« ermittelt werden. Defizite sieht das Gericht vor allem bei den Regelsätzen für Schulkinder: Anstatt den »spezifischen Bedarf« von Kindern zu ermitteln, seien hier pauschale Abschläge gemacht worden, ohne beispielsweise die notwendigen Kosten zur Erfüllung schulischer Pflichten in Rechnung zu stellen.“ (SZ)

Das Grundrecht der Hartz-IV-Empfänger ist also insofern missachtet worden, als die Festlegung eines Geldbetrags, von dem man dann leben muss, zu wenig begründet worden ist. Es ist zwar eine verlogene Vorstellung, dass es eine Beweisführung geben könnte, dass ein bestimmter Regelsatz „realitätsgerecht“ sei, einen ermittelbaren Bedarf tatsächlich abdecke. Es geht notwendig immer umgekehrt ab: Der Empfänger darf in der Realität beweisen, dass er mit einem festgelegten Betrag auskommt (und wenn nicht, hat er eben über seine Verhältnisse gelebt). Umso mehr legt das Gericht auf den Anschein wert, dass man vorrechnen könnte, welcher Betrag realistisch sei, um nicht unter ein Minimum zu fallen. Insbesondere an einem Detail hat die Urteilsbegründung das dann festgemacht: Dass pauschal einem Kind 70 % der Eltern zugestanden wird, sei Willkür und nicht hinreichend begründet, weil auf jeden Fall ein Bedarf konkret abgedeckt werden müsse, nämlich der auf einen Schulbesuch mit dem dafür nötigen Schuhwerk und vor allem mit dem benötigten Lernmaterial.

Wo kämen wie schließlich hin, wenn die Armut der Eltern automatisch die spätere Armut der Kinder nach sich ziehen würde, bloß weil die keinerlei Schulbildung genießen dürfen?! Man sieht hier, wie ein Verfassungsgericht die „Realität“ der ansonsten gebilligten Massenarmut in den Blick nimmt: Folgt daraus ein Schaden für die Allgemeinheit? Und wenn ja, wie könnte man den möglichst billig eingrenzen?

An der Frage, ob man den Bedarf der Hartz-IV-Schüler durch Sachleistungen oder durch einen zusätzlichen (?) Geldbetrag, den die Eltern auch versaufen könnten, decken sollte, scheiden sich einen Tag nach dem Urteil bereits die Geister der streitenden Parteipolitiker …

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