Unsere Medien und die Kämpfe für eine gerechte Herrschaft in Kairo und anderswo:

Berechnende Grußadressen an die Aufständischen

Zunächst hat man die Unruhen in Tunis und dann in Kairo eher irritiert als Störung aufgenommen, die man noch nicht richtig ins eigene Weltbild einordnen konnte. Inzwischen kriegen sich die Berichterstatter aus Kairo, Tunis und anderen Schauplätzen in Nordafrika und Nahost gar nicht mehr ein, so klar und leidenschaftlich ist ihre Parteinahme für „Revolution“ und „Tyrannensturz“:

Ja, endlich wehren sich die Volksmassen gegen ein Leben in Armut, gegen ihre Unterdrückung durch finstere Herrscher, die sich in einem System von Günstlingswirtschaft und Korruption persönlich bereichert haben – auf Kosten der kleinen Leute! Eine Riesenheuchelei! All die Jahre  haben unsere Meinungsprofis als landesübliche Normalität abgebucht, was sie jetzt, ab dem Moment, wo die Volkserhebung bereits eine neue politische Lage herbeigeführt hat, die nicht mehr so leicht rückgängig zu machen ist, als „unerträgliche Zustände“ qualifizieren, gegen die mit vollem Recht aufbegehrt wird. So lange diese Regime fest im Sattel saßen und ökonomisch und politisch nützlich waren, fanden sie es gut und sinnvoll, dass die hiesigen Regierungen mit den „Autokraten“ Handel und Wandel trieben, sie mit Geld und Waffen ausstaffiert und sie als Garanten von „Stabilität“ hofiert haben. Jetzt, wo alles ins Kippen kommt, sind sie unzufrieden und fordern entschiedenes und rasches Umdenken in Berlin, Paris oder Washington. Sie bringen es aalglatt fertig, ihre eigenes Bejahen der Regime im arabischen Raum im Nachhinein damit zu kaschieren, dass sie ihren Regierungen vehement Versäumnisse vorwerfen, mindestens einen Mangel an vorausschauender Außenpolitik attestieren oder gleich eine glaubwürdigkeitsschädigende Kumpanei mit unwürdigen Verbündeten nachsagen.

Bei alledem ist und bleibt die Parteilichkeit – nicht für die Aufständischen, sondern - für ihre Regierungen und deren Erfolgsaussichten in der aufgewühlten Region – der klare Maßstab ihres Nachdenkens. Dass das so ist, merkt man gerade auch an der Besprechung der Volkserhebungen. So sehr man sie neuerdings begrüßt und den gerechten Zorn des Volkes feiert, das sich seine alten Herrscher vom Hals schaffen möchte, so klar und deutlich wird die Sorge ausgedrückt, dass es beim Chaos auf den Plätzen nicht bleiben darf. Stattdessen muss schnell eine neue Ordnung errichtet werden, und zwar eine Ordnung, die im westlichen Sinne funktioniert. Arschklar ist unseren Revolutionsfreunden aus den Redaktionsstuben, in welche Richtung eine Volkskritik an verkehrter Herrschaft gehen soll und welche Überlegungen nicht aufkommen dürfen, wenn das Volk sich für einen Moment lang so benimmt, als sei es das Subjekt seiner Verhältnisse.

Hinter der Pose der Unterstützung einer gerechten Revolte steckt nichts als der Wunsch, sie im gewünschten Sinne zu beeinflussen. Fürs erste verlegt man sich darauf, sie im gewünschten Sinne zu interpretieren und die eigenen Forderungen an den Aufstand in diese Interpretation mit hineinzupacken. Was die Aufständischen denken und wollen sollen und was nicht, geben die Berichterstatter jederzeit kund und krallen sich jeden, dessen sie habhaft werden können, als Beleg dafür, dass die „Kämpfer für ihre Träume“ schon mehr oder weniger auf dem richtigen Weg sind.

• Keinesfalls dürfen die Massen aus ihren gerade in letzter Zeit immer elender werdenden Lebensumständen den Schluss ziehen, dass diese eine Folge der importierten Marktwirtschaft sind, deren Geltung inzwischen dafür gesorgt hat, dass in Nordafrika Gemüse für Europa angebaut wird und nicht mehr Getreide für den heimischen Bedarf, dass mit den wachsenden Geschäften europäischer Konzerne und der Bereicherung einiger Partner mit Firmensitz in Sfax oder Alexandria die Arbeitslosigkeit und die Lebensmittelpreise nach oben schießen. Gut gelitten hingegen ist die Deutung der Lage, nur den Kontrast zwischen der Verarmung der Leute und der Verschwendungssucht seiner Herrscherclique und der Günstlinge zum Skandal zu erklären. Diese Kritik am Elend und der Perspektivlosigkeit auch gut ausgebildeter Bürger hat den Vorteil, dass man nicht mehr verlangt als eine neue saubere Herrschaft, die kein Geld auf ausländische Konten schafft, sondern sich ernsthaft ums allgemeine Wohl, also um ihr Volk kümmert. Die Protestler sollen sich also partout den Irrglauben halten oder zulegen, ein Staatschef, der keine Millionen beiseite schafft, sondern wirklich alles in seiner Macht Stehende tut, um sein Land und die dort lebenden Menschen auf Vordermann zu bringen, würde unter den Bedingungen des kapitalistischen Weltmarkts etwas anderes zuwege bringen als die Bereicherung einiger und die bleibende Armut der vielen.

• Neben Gerechtigkeit sollen die Massen nach Freiheit und Demokratie streben, als wäre eine andere Regierungsform das Allheilmittel gegen alle ihre Sorgen. Dabei gäbe es jede Menge Anhaltspunkte für den Verdacht, dass die Demokratie, auf die sie die westlichen Unterstützer als Ziel aller Träume festlegen wollen, womöglich nur eine neue Herrschaftstechnik ist, um sie und ihre Interessen unterzuordnen. Sie sollen nicht argwöhnisch werden, auch wenn die hundertprozentig demokratischen westlichen Politiker bis gestern staatliche Repression gegen jede unerwünschte Opposition in ihrem Land politisch und materiell unterstützt haben. Es soll ihnen auch nicht zu denken geben, wie sich diese Demokraten aus den westlichen Hauptstädten demokratischen Fortschritt in Kairo und Tunis allenfalls vorstellen mögen: Falsche Fuffziger aus Sicht des Westens wie Islamisten oder Kommunisten dürfen ja wohl auf gar keinen Fall profitieren, egal, wie viel Wählerstimmen sie sich demnächst auf die Fahnen schreiben dürfen – von wegen Volkes Wille geschehe! Dass sich westliche Beobachter seit langem den Kopf zerbrechen, ob arabische Durchschnittsmenschen überhaupt „reif“ für eine Demokratie sind, in der man die gewählten Politiker zwar mit Vertrauen ausstatten, aber nie daran messen darf, ob ihre Taten nur der Nation oder auch den eigenen kleinlichen Interessen gut tun, wäre auch so ein Verdachtsmoment. Oder das gerade sehr im Kurs stehende Argument, die Demokratie dafür hochzuhalten, dass sie mit ihren Sitten und Gebräuchen, von der wohlorganisierten Meinungsfreiheit bis zur Betätigung des Volkswillens im staatskonstruktiven Sinn, die „stabilere“ Herrschaftsform darstellt – verglichen mit patriarchalischen Diktaturen: Nein, daraus hat man nichts zu lernen. Man soll umgekehrt froh und zufrieden sein, wenn einem mehr Demokratie die altbekannten Formen der Bespitzelung oder Schikanierung erspart, mit denen die bisherigen Statthalter der großen Demokratien im freien Westen den Alltag in Nordafrika versüßt hatten.

Die Massen, die jetzt gerade ihre Köpfe hinhalten, sollen – wenn es nach unseren Journalisten geht – einen interessanten Spagat hinlegen: Sie sollen sich ihre Wut und Unzufriedenheit aus dem Leib schreien. Sie sollen, falls unumgänglich, auch ihre Regierungen hinwegfegen, sich dann allerdings schnell und unauffällig wieder mit denselben sozialen Verhältnissen wie vorher zufrieden geben. Wenn Meinungsfreiheit und Wahlen dafür taugen – okay! Wenn darüber aber Feinde der Freiheit (unserer, versteht sich!) ans Ruder kommen, geht das natürlich zu weit. Unsere Journalisten wissen da genau Bescheid und drücken den Völkern die Daumen, dass sie ihren komplizierten Part richtig machen.

Den Rest sollen ihrer Weltsicht zufolge eh die eigentlichen Zuständigen aus den freien Hauptstädten der zivilisierten Welt erledigen: Sie müssen den Volksaufstand zu Ende bringen, indem sie eine passende neue Herrschaft installieren helfen.

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Vertrauen fehlt, Angst grassiert, schlechte Zeiten kommen ...

„Sämtliche Regierungen der Welt reden vom Vertrauen, das wiederherzustellen es gelte, und geben damit ihre Angst vor einer weltweiten Angstepidemie preis. Düster klingt das alles und ein bisschen nach Weltuntergang, wenn schon der Spiegel »Angst vor Apokalypse« hat.“ (WAZ, 8.10.08)

„Einem Geld-Gott, der grausame zehn Prozent nimmt, aber dafür die Anlagen sicher macht, würde die Finanzwelt in der jetzigen Lage sofort huldigen.“ (WAZ, 8.10.08)

„Finanzminister Steinbrück meint: Die Welt wird nach der Krise eine andere sein. Man wüsste schon gerne: welche denn?“ (WAZ, 11.10.08)

„Angesichts der Rezession hat Bundeskanzlerin Angela Merkel die Bürger auf schlechte Zeiten eingestellt. Derzeit könne niemand die Konjunkturentwicklung für das nächste Jahr voraussehen, so die Kanzlerin in der »Welt am Sonntag«.“ (DW-online, 8.12.08)

„Dies ist bei Börsianern wie bei Sparern eine Angst vor dem Unbeherrschbaren.“ (WAZ, 8.10.08)

„Zahl des Tages: 40 000 Menschen versuchen jeden Tag, die Finanzkrisen-Hotline der Bundesagentur anzurufen.“ (WAZ, 11.10.08)

So wird im Jahr 2008 geredet und nachgedacht. Zeitalter der Aufklärung? Moderne Wissensgesellschaft? Fehlanzeige. Stattdessen offenes Bekenntnis zur Irrationalität. Was ist los, wenn die „Angst vor dem Unbeherrschbaren“ grassiert, „schlechte Zeiten“ in der Art einer unabwendbaren Naturkatastrophe auf uns zukommen, nur eine höhere Macht noch helfen kann?

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Davon, dass diese Gesellschaft ihr ökonomisches Leben im Griff hat, kann wohl keine Rede sein. Das gilt – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß und mit unterschiedlichen Konsequenzen – für alle: Sowohl für die Nutznießer der Marktwirtschaft (Kapital und Staat) wie für die Masse der Menschen, die als „abhängig Beschäftigte“ ohnehin immer die abhängige Variable der Kalkulationen anderer sind. Der Grund dafür liegt darin, wie die Marktwirtschaft funktioniert – als Konkurrenz privater Eigentümer um Geld. Zwar behaupten die Befürworter dieser Wirtschaftsweise gerne, dass der Markt letztlich besser als jeder bewusste Plan wie eine „unsichtbare Hand“ die Aktivitäten sämtlicher Wirtschaftssubjekte zu einem sinnvollen Ganzen vereinigt. Tatsächlich läuft die Sache etwas anders. In der hoch spezialisierten arbeitsteiligen Gesellschaft sind alle aufeinander angewiesen, sind sozusagen „Teile eines Ganzen“. Gleichzeitig aber existiert dieses Ganze gar nicht anders, als dass dabei alle um denselben Stoff konkurrieren: Alle wollen Geld gegen- und aneinander verdienen. Das bringt notwendigerweise jede Menge Rücksichtslosigkeiten und Gegensätze hervor. Keiner lässt seine Geschäftsidee sausen, nur weil es längst genug andere gibt, die die Menschheit damit versorgen – er versucht eben, die Konkurrenz aus dem Feld zu schlagen. Unternehmen und Händler brauchen Käufer – haben andererseits aber überhaupt nichts dafür übrig, dass die Zahlungsfähigkeit der Menschheit durch Löhne erhöht wird, die sie zahlen müssen. Banken versorgen sämtliche Unternehmer mit Kredit – wohl wissend, dass genau das dafür sorgt, dass einige ihrer Kunden ihre schönen Autos nicht mehr absetzen können und dann von ihrer Bank den Geldhahn zugedreht bekommen ...

Im Endeffekt ist dann das Ergebnis des „Marktgeschehens“ regelmäßig etwas, was so keiner wollte und keiner erwarten konnte. Die Gesellschaft steht dem Resultat ihres eigenen ökonomischen Treibens gewissermaßen fasziniert gegenüber und schaut sich an, was sie da wieder zustande gebracht hat. Jeden Abend lässt sie sich von notorisch aufgeregten Berichterstattern erzählen, welche Kapriolen die Börsenkurse heute mal wieder geschlagen haben. Ob die Zukunft eine traditionelle „Oktober-Rallye“ bringt, das Jahr mit einem Kursfeuerwerk endet oder aber – wie jetzt – mit einem Riesencrash, wer will das schon so genau vorhersagen?

„Ihre eigne gesellschaftliche Bewegung besitzt für sie die Form einer Bewegung von Sachen, unter deren Kontrolle sie stehen, statt sie zu kontrollieren.“ (Marx, Kapital, 1. Kapitel)

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Volksaufstand in Tunesien

Haben wir nicht bestellt!

Das ist schon bemerkenswert: In Tunesien regiert ein Diktator mit eiserner Hand. Mehr als 170.000 Sicherheitskräfte stehen ihm – neben der Armee! – zur Verfügung, um alle Gegner seines Regimes auszuschalten. Seit 23 Jahren werden unliebsame Gewerkschaftler, Kommunisten oder politische Islamisten entsprechend traktiert, in den Knast gesteckt oder außer Landes gebracht. Auch sonst hält er von demokratischen Spielregeln wenig: Von Pressefreiheit kann keine Rede sein, oppositionelle Parteien sind weitgehend verboten, Wahlen eine Farce Farce – nach allen Maßstäben der demokratischen Nationen, die auf diesem Globus das Sagen haben, also kein Fall von „good governance“.

Nun hat ein Volksaufstand diesem Regime den Garaus gemacht, den bösen Diktator und seine für die schamlose Ausplünderung des Landes berüchtigte Familie in die Wüste geschickt. Mit weniger als 100 Toten ist die Erhebung („Jasminrevolution“) in der Bilanz der bei so etwas allemal fälligen Gewalt eher gemäßigt über die Bühne gegangen. Insgesamt also fast eine Bilderbuch-Revolution – und trotzdem kommt keine rechte Freude auf in den europäischen Hauptstädten. Keine Glückwunschtelegramme aus Berlin nach Tunis, keine Euphorie über diesen großen Sieg der Demokratie über eine üble Diktatur! Man stelle sich hilfsweise einmal vor, das Szenario hätte in Teheran, Havanna oder Pjöngjang stattgefunden!

Was ist da los?


Diktator schon, aber verdammt nützlich!

In ihren Berichten teilen die deutschen Journalisten die simplen Berechnungen ziemlich offenherzig mit. Klar wusste man in Paris, Berlin und Washington, dass Ben Ali sein Regime mit beinharter diktatorischer Gewalt ausgeübt hat. Genau dafür hatte man allerdings etwas übrig:

„So konnte er seinem Land ein Wirtschaftswachstum von jährlich vier bis fünf Prozent sichern, nicht zuletzt, weil er für ausländische Investitionen die Türen weit öffnete. Noch wichtiger war, dass er die Islamisten rigoros unterdrückte.“ (SZ 12.1.2011)

Das verschafft einem Arschloch also die Sympathie des Westens: 1. wirtschaftliche Öffnung und 2. die rigorose Unterdrückung der richtigen Gegner. Die wirtschaftlichen Abkommen Tunesiens mit der EU haben übrigens dazu geführt, dass Tunesien inzwischen immer mehr Lebensmittel importiert und die Lebensmittelpreise seit einigen Jahren massiv  steigen – insofern hat die EU-Politik natürlich durchaus zu den Unruhen beigetragen. 3. hat sich Ben Ali auch mit seiner tätigen Mithilfe beim Fernhalten unerwünschter Flüchtlinge aus Afrika bei der EU beliebt gemacht. Kein Wunder, dass die französische Außenministerin Alliot-Marie Ben Ali noch am Dienstag, unmittelbar vor seinem Sturz, polizeiliche Hilfe angeboten hatte:

„Das in der ganzen Welt anerkannte Wissen der französischen Sicherheitskräfte könnte helfen, solche Sicherheitsprobleme zu lösen.“ (Alliot-Marie vor der französischen Nationalversammlung)

Und jetzt?

„Für die EU sind die Vorgänge auf der südlichen Seite des Mittelmeers peinlich.“ (SZ, 12.1.2011)

Eine treffende Kennzeichnung einer imperialistischen Gefühlslage: Offenbar waren die EU-Staaten nicht vorbereitet auf diese Rebellion. Ihre diplomatischen Hilfstruppen, Parteistiftungen, NGOs waren zwar vor Ort, haben sich aber gar nicht um geeignetes Nachfolgepersonal gekümmert (Warum auch? Man war ja ziemlich zufrieden mit Ben Ali und seiner Politik, auch wenn man von Tunesien diplomatisch immer mal wieder Fortschritte bei der Einführung "demokratischer Verhältnisse" verlangt hat – schließlich ist man in den westlichen Hauptstädten ja nicht ganz zu Unrecht der Ansicht, dass die Demokratie einfach die stabilste Herrschaftsform ist). Jetzt steht man jedenfalls da und ist bei der Einrichtung der neuen Herrschaft nicht richtig dabei. Die tunesischen Oppositionsgruppen, so überhaupt vorhanden, sind Amateure. Keine Gelder, keine Apparate, mit denen sich eventuell die nächsten Wahlen gewinnen ließen. Schöne Auskünfte sind das, die man bei der Gelegenheit über die Funktionsweise der Demokratie bekommt: Von wegen Volkswille und so! Der muss passend organisiert werden, dazu braucht man schon die entsprechende Gewalt und das entsprechende Geld – dann läuft die Kiste!

Stattdessen weiß man nicht so recht, wie es weitergeht. Droht vielleicht sogar die Rückkehr von „Islamisten, Kommunisten, Gewerkschaften“ (SZ-Titelzeile, 20.1.2011)? Schöne Scheiße, die einem der verjagte Diktator da eingebrockt hat.


Kontrollverlust im europäischen Hinterhof

All das besorgte Räsonnieren darüber, wie die politische Zukunft in Tunis aussieht, verrät: Die EU sieht sich einer Lage gegenüber, die sie so nicht bestellt hat und die sich für sie als zumindest für einen Augenblick als Kontrollverlust darstellt. Das darf es offensichtlich nicht geben! Die europäischen Staaten, allen voran natürlich die ehemalige Kolonialmacht Frankreich und Deutschland als Führungsmacht, sprechen sich wie selbstverständlich ein Entscheidungsrecht über alle tunesischen Angelegenheiten zu. Tunesien ist für sie ein Teil ihres europäischen Hinterhofs – und der Volksaufstand macht deutlich, dass sie diesen für sich beanspruchten Hinterhof nicht wirklich im Griff haben. Das ist für sie „peinlich“.

Und ihre freie Presse macht die dazu passenden Vorwürfe. Jetzt, wo das Kind in den Brunnen gefallen ist, hätte man das alles natürlich im Vorhinein bedenken müssen. Man ereifert sich seitenweise über die Kurzsichtigkeit der Politik, die stets über die Exzesse von Geschäft und Gewalt in Tunis hinweggesehen hätte. Ganz so, als hätten Süddeutsche, Frankfurter und Die Welt sich in den letzten Jahren mit anklagenden Artikeln gegen Ben Ali hervorgetan, und ganz so, als hätten sie etwas gegen seine nützliche Funktion für die EU-Interessen gehabt!

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Volksaufstände gegen Diktatoren des freien Westens

Tunesien und Ägypten

Im Maghreb und rund um die arabische Halbinsel versuchen die Völker, ihre alten Machthaber zu verjagen. Ihre Lebensumstände, bei meist kargem Verdienst und steigenden Preisen über die Runden kommen zu müssen, haben sie satt. Die Herrschaft, die ihnen diese Lebenslage auferlegt und sie gewaltsam absichert, die seit Jahrzehnten regierende Staatspartei und deren Repräsentanten, wollen sie loswerden. Die soziale Frage eskaliert damit zur Machtfrage.

Objektiv haben es die Rebellierenden mit gleich zwei Adressen zu tun: Direkt mit ihrer Staatsgewalt, die ihr Land kapitalistisch „modernisiert“, die Bevölkerung dafür eingespannt und wegen der daraus resultierenden Verarmung und Unzufriedenheit unterdrückt hat; indirekt aber auch mit jenen auswärtigen Mächten, die in und an diesen Staatswesen „vitale Interessen“ haben. Deutsche Firmen nutzen Billiglöhne für ihren Profit, Multis aus USA oder Frankreich widmen sich geschäftsmäßig den reichhaltigen Rohstoffvorkommen, die nordafrikanische Landwirtschaft wird ganz nach den Maßgaben europäischer Importbedürfnisse hergerichtet, die „Festung Europa“ schätzt die Hilfe lokaler Potentaten zur Unterbindung unerwünschter Flüchtlingsströme nach Spanien und Italien. Auf den Dienst an diesen weltmächtigen Interessen haben sich die Präsidenten in Tunis und Kairo aus eigenem Kalkül, zur Stärkung ihrer jeweiligen Nation, festlegen lassen. Aus ihm beziehen die Ben Alis und Mubaraks, ergänzt um Milliarden Dollar oder Euro für Militärhilfe, die Ressourcen für ihren nationalen Aufbruch und die Pfründe ihres Machtsystems. Die Regierungen in Tunesien und Ägypten wollen ihre Staaten zu regionalen Machtbastionen ausbauen, an denen keiner vorbei kommt.

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Jetzt ist die ganze Region in Unordnung. Die Massen fordern nicht nur „Gerechtigkeit“, sie rufen auch nach „Freiheit und Demokratie“, weil ihr Leben und Überleben in allen Fragen von der persönlichen Macht eines „Diktators“ abhängig war. Sie eint in ihrem Protest die Parole „Verschwinde!“ (mit der sie nicht die Person allein meinen) – über all ihre politischen und sozialen Unterschiede und Gegensätze hinweg.

In Tunesien haben sie einen Teil der Herrschaftsclique verjagt, arbeiten sich jetzt daran ab, wie verzweigt deren Machtsystem doch ist. In Ägypten wollen sie den Regierungswechsel erzwingen und verlangen seit längerem beharrlich den sofortigen Rücktritt Mubaraks. Die erfolgreiche Dauerokkupation eines wichtigen Platzes in Kairo ist sicher ein Schlag gegen die Legitimation dieses Regimes, dessen verbliebene Vertreter sich reformbereit geben, sich aber auch stur auf die „schweigende Mehrheit“ der Landsleute berufen, in deren Namen sie weiter Verantwortung für die Nation ausüben möchten. Wie sich die Armee zu dem Konflikt stellt, ob sie mit dem Staat auch Mubaraks Recht auf Amtsausübung verteidigen möchte oder zwischen ihm, seiner Entourage und den staatlichen Institutionen eine Trennungslinie zieht, ist die entscheidende Frage für Leben oder Tod der Demonstranten und den Ausgang ihres Aufbegehrens. Die immer noch existierende Rumpfregierung laviert zwischen Dialogversprechen und Drohungen mit dem großen Aufräumen; die Sicherheitskräfte schlagen mal zu, ziehen sich mal zurück und schießen einstweilen viele, viele Fotos von den Aufständischen – fürs Archiv.

In letzter Instanz entscheiden im Fall Ägypten die kapitalistischen Führungsmächte, allen voran die USA, kräftig mit, was aus der Rebellion wird und was nicht. Sie drängen den Machthaber zur Einführung von Reformen – „jetzt!“ oder „so bald wie möglich!“. Weil „viel auf dem Spiel“ steht, nämlich die „Stabilität“ der von ihnen eingerichteten Ordnung, wechseln sie angesichts der auf und ab wogenden Unruhen innerhalb von einer Woche die Seiten, ohne sich eindeutig hinter eine zu stellen. Sie ergreifen Partei gegen „Diktatur“ und „Korruption“ – und beauftragen ihre eigene Kreatur, den korrupten Diktator, sich selbst durch glaubwürdigeres Personal überflüssig zu machen. Mitten in einer „Revolution“ nehmen die amerikanischen und europäischen Aufseher Partei – und beide Seiten in die Pflicht: Das Volk soll „siegen“, wenn es sich seiner Anerkennung durch die auswärtigen Ordnungsmächte würdig erweist, auf Gewalt verzichtet und zusammen mit der verhassten Staatsmacht „Anarchie und Chaos“ verhindert. Wenn diese „Revolution“ sich auf einen reinen Führungswechsel begrenzen und die wichtigsten Funktionen des Staatsapparats unangetastet lässt, wenn das Volk bald wieder zurücktritt in seine Rolle als Haufen arbeitsamer und staatstreuer Bürger, dann ist der „Übergang zur Demokratie“ willkommen. Was das dann genau heißt, welche Reformen am „System Mubarak“ Amis und Europäer für notwendig erachten, wie lange der langjährige „enge Freund“ noch als Ansprechpartner gilt, all das wird jeden Tag neu erörtert und abgewogen in den Entscheidungsgremien in den Hauptstädten der freien Welt.

Mit einer irgendwie gearteten Infragestellung der in dieser Region durch EU und USA verfolgten Machtansprüche hat diese „Selbstkritik“, die im Moment angesichts der Ereignisse für fällig erachtet wird, nichts zu tun. Die Frage, wie denn das verarmte Volk, das seine materielle Lage nicht mehr aushält, in Zukunft – mit einem neuen Führer beschenkt - über die Runden kommen soll, stellen Politiker sowieso nicht. Die Öffentlichkeit aber genauso wenig. „Was haben wir falsch gemacht?“ wird aufgeregt debattiert, aber niemand denkt dabei an eine Korrektur der Interessen des Westens, die als Maßstab angelegt werden, wenn die „Zukunft Nordafrikas“ besprochen wird. Heute wie vor einem Jahr, als die gefälschte Wiederwahl Mubaraks durchgewunken wurde, gibt es dieselbe Sorge vor einem „Pulverfass Nahost“. Die Araber, Regierende wie Regierte, haben geradezustehen für die funktionalen Dienste in ökonomischer und politischer Hinsicht, auf die die Metropolen der „freien Welt“ ein Recht erheben. Damit die so weiter gehen wie bisher, erlauben europäische Freiheitsgeister glatt mal einen „Umsturz“, der mit einigem aufräumen darf, aber nicht mit den essentials der bisherigen Ordnung. Sie billigen den aufsässig gewordenen Menschen „das Recht auf Selbstbestimmung“ zu und beglücken das ganze freiheitsliebende ägyptische Volk mit genau dem Auftrag, den bisher die Diktatoren „für uns“ zu erledigen hatten: Die Terroristen klein halten, den Ölabtransport sichern, die strategischen Interessen und das Bündnis mit Israel gewährleisten sowie das Eigentum und die Gewinnansprüche der westlichen Investoren schützen.


Was ist da neuerdings los in Nordafrika und im Nahen Osten?

Die EU-Politiker haben Ben Ali, Mubarak und deren Kollegen anderswo jahrelang das Attest ausgestellt, ökonomisch alles richtig gemacht zu haben. Genau die Verhältnisse, die die Massen in Algerien und Tunesien, Marokko, Jordanien und Ägypten mal wieder nicht aushalten, gegen die sie gerade politisch anrennen, sind in engster Absprache mit unseren EU-Politikern und in Verträgen mit ihnen hergestellt und herbeiregiert worden.
Diese Verträge zielten darauf, die Ökonomie im westlichen Sinn zu normalisieren. Es ging darum, den als unzulässigen Ausnahmezustand deklarierten Sachverhalt aus der Welt zu schaffen, dass in Algerien, Ägypten und Tunesien lange Zeit noch ein paar Staatseingriffe ins Marktgeschehen praktiziert wurden, die eher zum Repertoire des eigentlich längst überwundenen „realsozialistischen Wirtschaftsmodells“ gehören als zum sachgerecht und mit aller Konsequenz freigesetzten Kapitalismus, wie er in Europa und fast überall in der Welt herrscht.

Die Anpassung Nordafrikas an EU-Anforderungen war erfolgreich, davon zeugen die Stellungnahmen der Investoren; die „Hungeraufstände“ haben diesmal nicht in irgendwelchen Ländern der Dritten Welt stattgefunden, sondern in den nordafrikanischen Musterländern der EU. Man kann sie deshalb auch nicht als Krisensymptome abtun, denn sie fallen ausgerechnet in die Zeit des „größten Wachstumsschubes“, den die Region je gesehen hat.

„Viele Firmen, die sich nach dem Fall des Eisernen Vorhangs aus Kostengründen in Osteuropa niedergelassen haben, setzen jetzt auf das nordwestliche Afrika. Die Karawane hat Tunesien, Algerien und Marokko entdeckt ... Der früher kaum beachtete Markt von 80 Millionen Menschen gilt als interessanter Standort: Seit 2003 sind 50 Milliarden Euro an ausländischen Direktinvestitionen in die drei Länder geflossen, wobei Marokko die Nase vorne hat ... Tunesien holt auf ... Im vergangenen Jahr ging es rund: Ausländische Bankinstitute wie BNP Paribas stockten lokale Beteiligungen auf. Handelsgiganten wie Carrefour eilten scharenweise nach Nordafrika. Energieriesen wie Gazprom unterzeichneten lukrative Explorationsdeals. Immobilienprofis aus aller Welt standen Schlange, um beim Bau von Hotelressorts, Shopping-Palästen und Bürokomplexen mitzumischen. Telekom-Firmen wie die französische Orange kämpften erfolgreich um Lizenzen. Schließlich sicherten sich Baukonzerne wie die österreichische Strabag fette Aufträge. Am laufenden Band siedeln sich internationale Industriekonzerne im neuen Dorado der Niedriglöhne an: Die französische Lafarge etwa investierte in ein Zementwerk in Algerien. Der indische Stahlkonzern ArcelorMittal erweiterte ebendort seine Produktion. Renault baut eine nagelneue Fabrik im marokkanischen Tanger. Die Modefirma Benetton weitet ihre Fertigung in Tunesien zügig aus. Erst Anfang Oktober eröffnete der Hutchinson-Konzern aus Hongkong in Sousse eine Niederlassung. Und wo regelmäßige Öleinnahmen sprudeln, sind nicht nur Verträge mit hiesigen Energieunternehmen interessant, sondern auch die Verwendung der Einnahmen verspricht gute Geschäfte. Bis 2014 will Algerien gemäß einem Fünf-Jahres-Plan 286 Milliarden Dollar in die Infrastruktur stecken – in Eisenbahnen, die Metro in Algier, Autobahnen, Spitäler, Wasseraufbereitung und -speicher, aber auch in den Bau von einer Million Wohnungen sowie in den Agrar- und Bildungsbereich. Die ehrgeizigen Vorhaben sollen laut Präsident Abdelaziz Bouteflika, der auf soziale Marktwirtschaft schwört, ohne Auslandskredite, sondern aus eigenen Mitteln finanziert werden.“ (Wiener Zeitung, 27.10.2010)

„Seit der Jahrtausendwende befindet sich das Land (Ägypten) unter der Präsidentschaft Mubaraks wirtschaftlich konsequent auf Modernisierungskurs. Es will sein früheres Image als »Tiger vom Nil« wiedererlangen. Auf dem afrikanischen Kontinent ist Ägypten nach Südafrika am stärksten industrialisiert, die Industrie hat inzwischen 35 Prozent Anteil am BIP. »Mit seinen umfassenden wirtschaftlichen und rechtlichen Reformen startete Ägypten einen sehr erfolgreichen Aufholprozess«, sagt Alexander Hoeckle, Außenwirtschaftsexperte der IHK in München. »Das macht das Land für die exportorientierte bayerische Wirtschaft wieder attraktiv.« Nach einem robusten Wirtschaftswachstum über mehrere Jahre von durchschnittlich sieben Prozent legte das BIP selbst im Krisenjahr 2009 noch um 4,7 Prozent zu. Für die Zukunft werden Wachstumsraten von über sechs Prozent prognostiziert. Auch in Hinblick auf die bevorstehende Präsidentschaftswahl im Frühjahr 2011 will die Regierung den erfolgreichen wirtschaftspolitischen Kurs halten und damit Armut und Unterbeschäftigung in den Griff bekommen. Mit rund 80 Millionen Einwohnern ist Ägypten heute die zweitgrößte Volkswirtschaft im Nahen Osten und Nordafrika – der sogenannten MENA-Region (Middle East and North Africa). Aufgrund seiner starken Binnenwirtschaft und seiner erfolgreichen Reformpolitik gewinnt das Land für ausländische Unternehmen dabei nicht nur als Vertriebsmarkt, sondern auch als Produktionsstandort immer mehr Bedeutung, betont Dr. Rainer Herret, Hauptgeschäftsführer der Deutschen Auslandshandelskammer (AHK) in Kairo: »Mit zunehmender Liberalisierung und Privatisierung öffnen sich die Märkte und schaffen neues Absatzpotenzial.«“ (Moderne Zeiten am Nil, IHK für München und Oberbayern, Wirtschaftsbericht Ägypten 12/2010).

Die Geschäftsaussichten in der Region und die Lebensbedingungen für die Mehrheit der Bevölkerung bewegen sich offenbar in diametral entgegengesetzter Richtung. Dabei beziehen die zufriedenen Investorenstimmen explizit die Landwirtschaft, von der eine Mehrheit immer noch lebt, was Einkommen und Konsum betrifft, in ihre positive Bilanz ein, denn in diesem Bereich lassen sich in Algerien und Tunesien glänzende Geschäfte machen. Diese Länder dienen als der ideale Erweiterungsmarkt der EU-Agrarunion, die sich selbst in den letzten Jahren aufgemacht hat, zum Global Player im Weltagrargeschäft zu werden.

„Positiv ist, dass sich der Bruttoproduktionswert in der Landwirtschaft von 200 bis 2007 (in Algerien) auf etwa zehn Milliarden US-Dollar verdoppelt hat und die jährlichen Wachstumsraten im Agrarsektor im Durchschnitt auf 6,5 Prozent gestiegen sind.“ (www.backnetz-eu, 16.2.2009)

Die europäischen Journalisten wissen, dass es die für die und mit der EU „liberalisierte“ Landwirtschaft ist, die den Leuten das Überleben schwer macht. Die absehbaren Folgen sind seit Jahren bekannt:

„Auswirkungen der Liberalisierung (in Tunesien) bedrohen den einheimischen Agrarsektor, verursachen Preisänderungen und erhöhen den Importbedarf an Nahrungsmitteln. Mehrere Faktoren machen gerade den Agrarsektor der Maghrebländer für die Folgen der Wirtschaftsliberalisierung besonders sensibel: Die Rolle der Landwirtschaft für die Sicherung der Beschäftigung, der Anteil der Agrarerzeugnisse an den Exportprodukten und die soziopolitischen Implikationen der Preise von Grundnahrungsmitteln. Die Liberalisierung wirkt sich in verschiedener Hinsicht auf den Agrarsektor aus: In der Verminderung bzw. Abschaffung der Subventionen der landwirtschaftlichen Produktion... und der Öffnung der Märkte für auswärtige Produkte (Reduzierung bzw. Verminderung der Einfuhrzölle etc.). Innerhalb der unterzeichneten Vereinbarungen haben Marokko und Tunesien wie auch die EU Sonderabkommen abgeschlossen, die spezielle Konditionen für den landwirtschaftlichen Sektor vorsehen. Vor allem die Getreide-, aber auch die Zuckerproduktion werden von der erhöhten Konkurrenz betroffen sein ...“ (http://inef.uni-due.de/page/documents/Houdret_Maghreb.pdf Uni Duisburg gtz Juni 2008)

„Die Landwirtschaft zeigte 2007 eine wenig zufriedenstellende Entwicklung. Die Konzentration auf bestimmte landwirtschaftliche Produkte für den Export, wie Olivenöl und Datteln, hat dazu geführt, dass der tunesische Agrarsektor gegenüber internationalen Preisschwankungen empfindlich geworden ist. Getreide, Fleisch und Milch müssen inzwischen in relativ hohen Mengen importiert werden und gerade bei diesen Produkten wurden 2007 starke Preissteigerungen registriert. Die Handelsbilanz für den Bereich Grundnahrungsmittel, die in den drei Jahren von 2004 bis 2006 einen Überschuss ausgewiesen hatte, ist 2007 ins Minus geraten.“ (Germany Trade & Invest 2008)

Jeder Versuch, die „heimische“ Landwirtschaft durch hohe Einfuhrzölle (üblich waren bis zu 30%) vor der Konkurrenz aus dem Ausland zu schützen, ist ein Angriff auf das wesentliche Geschäftsmittel von Agrarunternehmen, nämlich durch die freie Kalkulation von Ein- und Verkaufspreisen den Absatz der eigenen Waren zu sichern. Wenn sich die Ländereien in Nordafrika für Spekulation auf Rendite eignen, dann als Hinterland der EU: Schon wegen der Nähe zum potenziellen Absatzmarkt. Und genau so, als Nutzung eines benachbarten Marktes mit zahlungskräftigen Kunden, haben die Reformprogramme der nordafrikanischen Regierungen die Entwicklung ihrer heimischen Landwirtschaft ins Visier genommen.

Um den interessierten kapitalkräftigen Agrarunternehmen Perspektiven zu eröffnen, galt es, ihnen einen lukrativen Absatzmarkt zu schaffen, denn Export heißt die Devise, mit der das moderne Agrargeschäft voran kommt. Und dieser Weg eröffnet sich nur auf Gegenseitigkeit: Erst, wenn Tunesien, Ägypten und Algerien ihrerseits die Zölle auf industrielle und agrarische Produkte fallen lassen, öffnet die EU ihre Grenzen – diese „Anpassung“ und „Öffnung“ ist mittlerweile in allen drei Ländern weit fortgeschritten. Mit dieser Öffnung haben die nordafrikanischen Staaten es geschafft, eine gänzlich freie Sortierung durch die geschäftstüchtigen Unternehmen einzuleiten, was zu produzieren sich in ihren Ländern lohnt und was nicht. Wein und Olivenöl lassen sich auf den neuen EU-Märkten am besten absetzen – und hier finden sich auch am leichtesten europäische Partnerunternehmen, die Kapital und Kredit hereinbringen, um das nötige Land zu erwerben und die Produktion zu sichern. Weizen war ein Produkt, das man in Algerien, Tunesien und Ägypten gut anbauen konnte - in früheren Jahren sogar ein Exportartikel. Mittlerweile schrumpfen die Flächen, auf denen Getreide angebaut wird, die kostengünstigste Weizenproduktion braucht riesige Äcker, die nordafrikanischen lassen sich besser für den Anbau von Wintergemüse für Europa nutzen.

Ernährung der Bevölkerung mit Lebensmittelanbau auf den vorhandenen Böden – das ist jetzt kein selbstständiger Zweck des Staates mehr. Die hat in einer modernen Marktwirtschaft Abfallprodukt des internationalen Geschäfts mit der Herstellung sowie dem Ex- und Import von Lebensmitteln zu sein hat, also abhängige Variable des Weltagrarmarktes. So ist es sehr modern und systemgerecht, wenn in Tunesien, Algerien und Ägypten die Leute mitten in einem Wirtschaftsboom hungern. Nicht weil es keine Produkte gibt im Lande – das ist nur eine Frage des lohnenden Im- und Exports und der sachgerechten Spekulation mit den und auf die zu erwartenden Preise –, sondern weil sie sie nicht bezahlen können.

Die Befolgung des Gebotes, alle Schranken des Privateigentums niederzureißen, hat auch in den Bereichen Industrie und Dienstleistungen gewaltige soziale Gegensätze hervorgebracht. Algerien verfügte immerhin über eine relativ weit entwickelte Grundstoffindustrie (Stahl- und Zementproduktion), die in den 60er Jahren aufgebaut wurde. Tunesien glänzte mit einem hoch entwickelten Gesundheitssystem aus realsozialistischen Zeiten, das nun zur Privatisie-rung frei gegeben wird und vielen Medizinunternehmen zu neuen Geschäften verhelfen wird (schon jetzt gibt es einen Medizintourismus, der die günstigen Operationspreise diesem Land ausnutzt).

„Die Privatisierung staatlicher Unternehmen (in Tunesien) hat darüber hinaus in vielen Fällen zur Entlassung oder Frühpensionierung von Angestellten geführt; in Algerien hat so bereits eine knappe Million Arbeitnehmer ihren Arbeitsplatz verlassen müssen. ....überall laufen Privatisierungen der Betriebe an ...“ (ebd.)

Gerade weil die Musterschüler Europas ganze Arbeit geleistet und die Devise eingelöst haben, wonach nur geschäftlich lohnende Arbeitsplätze überleben dürfen und sollen, gibt es für die internationalen Investoren so viel zu jubeln: Nur wenn die „Unsitte“ aufhört, „marode Staatsunternehmen zu subventionieren“ und „künstlich am Leben zu halten“, eröffnet sich ein freies Geschäftsfeld für Anleger aller Art. Das andere Resultat, das Anschwellen der Arbeitslosigkeit, einer neuen Reservearmee aus teilweise gut ausgebildeten Menschen ohne Arbeit, wird dann allseits bejammert.


Korruption

Einen schönen Widerspruch bringt das Programm der Privatisierung in der Frage hervor, welche Subjekte denn in die Gunst kommen, das zum Verkauf gestellte ehemalige Staatseigentum zu erwerben. In der ägyptischen Landwirtschaft stößt das mit der EU beschlossene Programm der „Modernisierung“, auf großen Flächen Produkte für den Export anzubauen, auf die Resultate der von Nasser nach der Revolution von 1952 durchgesetzten Enteignung der Großgrundbesitzer: 1999 wurde das alte Pachtgesetz aufgehoben, nach dem Pachtzinsen über Jahrzehnte eingefroren und die Verträge unkündbar waren. Der IWF setzte eine Reform durch, nach der die alten Besitzer wieder in ihre Rechte eingesetzt wurden, die Festlegung der Zinsen von Beschränkungen befreit und der Bodenbesitz dem freien Markt unterstellt wurde. Viel Land war an Fellachen im Nildelta verteilt worden, die ihre kleinen Parzellen jahrzehntelang bebauten und recht und schlecht davon leben konnten.

„Die letzte Auseinandersetzung zwischen Bauern und Polizei im Nildelta forderte 60 Tote. Ursache des Streits ist die von der Regierung betriebene Reprivatisierung des Ackerlandes und das ist wertvoll in Ägypten: Das Land hat eine Million Quadratkilometer Fläche, von denen nur 4% landwirtschaftlich genutzt werden können ... Seit 1997 wird das von Nasser an die Bauern verteilte Land in immer größeren Parzellen an die Großgrundbesitzer zurück gegeben. Nur lässt sich nicht immer feststellen, wem was gehört hat vor Nassers Agrar-Revolution: Gesetze widersprechen sich, Papiere werden gefälscht, die ägyptische Bürokratie ist korrupt, die Bauern unwissend.“ (Aufruhr in Ägypten/Im Delta fließt Blut, SZ 15.6.2005)

Zu den Nutznießern dieser Politik gehören europäische Firmen, die sich um den Namen `Demeter´ scharen. Sie haben es geschafft, natürlich unter strenger Beachtung aller geltenden Gesetze und im Einvernehmen mit Polizei und Justiz, ein System von Biofarmen aufzubauen, die u. a. Gemüse ohne Chemie anbauen, drei Ernten im Jahr einfahren und diese erfolgreich in die EU exportieren. Ein schönes Modell, zumal diese Sekem-Vorzeige-Farmen auch noch Kindergärten betreiben, um ihre soziale Ausrichtung zu unterstreichen.

„Das Potenzial ist noch lange nicht ausgeschöpft. Bisher liefert Sekem in die Schweiz vor allem Bio-Baumwolle zur Herstellung von hochwertigen Teppichen. Der wichtigste europäische Absatzmarkt (vor allem Heilkräuter) ist Deutschland.“ (Swissinfo, 4.2.2009, Bio-Konzern in der Wüste)

Ägypten wurde von der Kolonialmacht England als Basis der Baumwoll- und Textilindustrie hergerichtet. Auch dieses Fabriksystem verstaatlichte Nasser nach 1952. Kein Wunder, dass die Umsetzung des Privatisierungsprogramms in diesem Bereich die schärfsten Auseinandersetzungen hervorrief.

„Misr Spinning and Weaving Co. ist mit 25 000 Beschäftigten der größte Industriebetrieb Ägyptens. Im Januar hatte das Streikkomitee angekündigt, die Arbeit am 6. April niederzulegen. Damit sollte die Firmenleitung zur Erfüllung der Versprechen gebracht werden, die man der Belegschaft nach den Streiks im Dezember 2006 und im September 2007 gemacht hatte. Die Mobilisierung führte zum Aufruf zu einem landesweiten Streik. Die Arbeiter wollten gegen die drastisch gestiegenen Preise insbesondere für Brot, das Hauptnahrungsmittel der Ägypter, protestieren, und sie forderten eine Erhöhung des nationalen Mindestlohns. Dem Aufruf schlossen sich unterschiedliche politische Gruppen an: die Bewegung für den Wandel namens Kefaya (»Genug!«, ein pluralistisches, vornehmlich aus Intellektuellen bestehendes Demokratiebündnis), die Islamistische Arbeitspartei, die Nasseristen der Karama-Partei und die Anwaltsvereinigung. Auch über die Internetplattform FaceBook rief eine Gruppe mit mehr als 60 000 Mitgliedern die Ägypter auf, am 6. April zu Hause zu blieben.“ (Le Monde Diplomatique, 2.5.2008)

Man hat hier Hinweise, wie ignorant die Vorstellung ist, die Demonstrationsbewegung Anfang 2011 in Kairo sei quasi „aus dem Nichts“ heraus entstanden, nur durch den Funken des tunesischen Vorbilds inspiriert. Schon lange waren die Menschen unterwegs, drangsaliert von Polizei und staatstreuer Gewerkschaft, um sich gegen die Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen zur Wehr zu setzen – und das System Mubarak war überall am Werk, wo die „Liberalisierung“ der Ökonomie auf Kosten der Leute Fortschritte machte.

„Im Zuge der Reform- und Strukturanpassungsprogramme, die Ägypten in den 1990er-Jahren mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank vereinbart hat, wurde 1991 das Gesetz 203 über die Privatisierung von 314 Staatsunternehmen verabschiedet. Bis Mitte 2002 waren bereits 190 der für die Wirtschaftspolitik wichtigen verkauft. Mit der neuen Regierung unter Ahmad Nazif trat im Juli 2004 in eine neue Riege von Akademikern und Managern an, die im Westen ausgebildet waren und aus der Entourage des ältesten Präsidentensohns Gamal Mubarak stammten. Die Clique von Mubarak junior privatisierte bereits im ersten Haushaltsjahr weitere 17 Staatsbetriebe. Die beschleunigte Umsetzung des neoliberalen Programms schürt nicht nur die Angst vor Arbeitsplatzverlust, sondern auch die Befürchtung, dass die neuen Investoren nicht gewillt sind, überfällige Leistungen ihrer Betriebe zu erbringen, also etwa Dividenden auf Belegschaftsaktien oder Beiträge zu den Betriebsrentenkassen zu bezahlen, die einige Staatskonzerne seit Jahren nicht mehr abgeführt hatten. In diesem Zeitraum sind die Reallöhne drastisch gesunken. (ebenda)

„Korruption“, heißt es jetzt, sei das Grundübel der ägyptischen Wirtschaft und der Beleg, wie undemokratisch es zugeht in diesem Land. Was dieses gescholtene Phänomen mit der Einrichtung EU-konformer kapitalistischer Verhältnisse zu tun hat, wird weniger an die große Glocke gehängt. Es geht um die Privatisierung von Staatsbesitz, ohne dass es im Land eine durchgesetzte Konkurrenz von Geldkapitalisten gäbe: Wer es unter diesen Bedingungen schafft, als Käufer aufzutreten, muss Verbindungen zur Staatsmacht haben. Wenn die neuen Eigner ihre Betriebe fürs Geschäft umbauen, kapitalistisch sanieren, werfen sie ganz sachgerecht alle sozialen Bedingungen über den Haufen, die noch aus der Zeit des Staatssozialismus stammen: Löhne senken, Leute entlassen, Beiträge nicht mehr zahlen, Betriebskantinen und Ausbildungswerkstätten schließen.

Jeder, der bei dem undurchschaubaren Transformationsprozess an ein Stück Lizenz zum Geschäftemachen kommen will, ist auf Kredit angewiesen, denn über Kapital aus früher gelaufenem Geschäft verfügen die wenigsten. Also muss man nicht nur die richtigen Beamten bestechen, um einen Gemüseladen aufzumachen, sondern auch noch bei einer der Staatsbanken vorsprechen. Und feststellen, dass auch die Vergabe von Kredit an Beziehungen und Kontakte zur herrschenden Kaste gebunden ist. Auch das bringt die Leute in Aufregung.

Der Kredit ist das effektivste Selektionsinstrument, das die Mitglieder der Staatsmacht nutzen können, um deren und ihren Reichtum zu vermehren. Und für den Schuldner ist er ein geeignetes Mittel, um das über Korruption erworbene Eigentum zu legalisieren. Denn wer den Kredit zurückzahlen kann, verfügt ja über ein unangreifbares Stück Reichtum und ist von dem Rest der Unternehmen nicht mehr unterscheidbar – all die neuen Supermärkte erzielen ganz legal Gewinne, egal, ob sie Frau Ben Ali oder jemand anderem gehören …

„Ein weiteres Problem ist die Verflechtung von Politik und Wirtschaft. Unternehmer mit guten Beziehungen wurden in der Vergangenheit bei Privatisierungen von Staatsunternehmen bevorzugt, bekamen günstig Grundstücke, konnten bei Investitionen mitreden. ‚Die Wirtschaftselite des Landes dürfte extrem viele Leichen im Keller haben’, sagt Roll. Er schließt deshalb nicht aus, dass manche Unternehmen nach einem Regierungswechsel zwangsverstaatlicht werden. Etwa Ezz-Industries, der Stahlkonzern von Ahmad Ezz. Ezz, der in den vergangenen Jahren auch im Parlament saß, zählt mit einem geschätzten Vermögen von mehr als einer Milliarde US-Dollar zu den reichsten Menschen des Landes. Er gehört zu den Unternehmern, die ihren Reichtum offensichtlich ausschließlich ihrer Beziehung zum Präsidenten zu verdanken haben: Ezz- Industries erreichte mithilfe öffentlicher Kredite in der Stahlbranche eine Monopolstellung.“ (Korruption und Vetternwirtschaft, Zeit-online, 2.2.2011)

Kein Industriezweig eignet sich so gut wie der Tourismus, um aus dem Nichts Gewinnquellen zu erschließen. Es ist allein die staatliche Verfügung, die aus herrenlosem Wüstenland an den Küsten Ägyptens blitzsaubere Profitmaschinen zaubern kann. Und hier ist es für die Bevölkerung mehr als offensichtlich, dass die Lizenz- und Landvergabe für neue Ressorts ein effektives System der Korruption darstellt. Sie bekommen es im Kleinen mit, wenn schon die Gelegenheit, in einem der neuen Hotels als Kellner oder Kameltreiber zu arbeiten, von Beziehungen abhängt, weil die Staatsbeamten alles tun, um ihre Familienclans in dieser Branche mit Reproduktionsgelegenheiten zu versorgen.


Nationale (Selbst)Kritik

Die geschilderten Folgen des Umbaus von Industrie und Landwirtschaft sind kein Geheimnis. Auch in Tunesien und Ägypten wurden sie strittig diskutiert und führten zu Auseinandersetzungen innerhalb des Parlaments und auf anderen Bühnen der politischen Eliten. Hin und her gewälzt wurde und wird hier die Frage, ob bzw. inwieweit sich der in Gang gesetzte Umbau des Landes denn auch in einer Stärkung der arabischen Nation niederschlägt, zu der ja nicht nur große und kleine Unternehmer, sondern Millionen von Menschen gehören, die darin ihre Perspektive sehen sollen. Als offenen Ausverkauf seines Landes an die EU und die international agierenden Finanzkapitalisten wollte ja gerade auch ein Mubarak seine Politik nicht verstanden wissen. Vielmehr trat auch er mit einem Projekt an, das alle Ägypter als Teil des großen arabischen Volkes einschoss und ihnen irgendwie eine Zukunftsperspektive geben sollte.

„Bereits in der letzten Parlamentsdebatte (in Ägypten am 7. April vergangenen Jahres 2002) hatten Abgeordnete sowohl der linken als auch liberaler Oppositionsparteien davor gewarnt, dass die Implementierung dieses Abkommens (zwischen EU und Ägypten) verheerende Folgen für die ägyptische Industrie haben würde. Sie befürchteten, dass der ägyptische Markt nur so von europäischen Industriegütern überschwemmt werden würde, ohne dass dem ägyptischen Exportsektor im Bereich Agrarprodukte ein „kompensatorischer“ Zugang zum europäischen Agrarmarkt gewährt worden wäre. Nasseristische Parlamentsabgeordnete wie Heidar Boghdadi kritisierten dagegen vor allem den zu erwartenden Wegfall von Importzöllen im Umfang von ca. 6 Mrd. LE. Er gab in diesem Zusammenhang seiner Sorge Ausdruck, dass damit der ägyptische Haushalt noch defizitärer würde als bisher.“ (Ägypten und die Europäischen Union, Länderberichte, Konrad-Adenauer-Stiftung, 5.5.2003)

Diesen Kritiken gegenüber zeigte sich die Regierung Mubarak immer wieder „einsichtig“: An der Notwendigkeit, eisern auf Modernisierung zu setzen, wie mit der EU und dem IWF abgesprochen, hielt sie immer fest. Gleichzeitig und parallel dazu betrieb sie jedoch eine Art von prophylaktischer Aufstandsbekämpfung, die zu den vereinbarten Regeln des Weltmarktes durchaus in einem klaren Gegensatz steht. Stellvertretend für alle anderen Maßnahmen (z. B. Steuersenkung für Lebensmittel in Algerien) sei die Brotpreispolitik von Mubarak angeführt:

„Rund 60 der 80 Millionen Einwohner Ägyptens kaufen das vom Staat subventionierte Billigbrot. Das Aish Balady, das Volksbrot, wird in staatlichen Bäckereien und auf offener Straße angeboten ... für die untere und Teile der mittleren Bevölkerungsschicht ewige Konstante auf dem Speiseplan (etwa 50% der Ausgaben für Lebensmittel!). Sie kosten weniger als fünf Cent (der Tourist kennt die dafür nötigen Münzen gar nicht). Ägypten, in der Antike die Kornkammer des römischen Reiches, ... ist inzwischen der weltweit größte Weizenimporteur.“ (SZ 21.9.2010)

Der Staat kauft den Weizen für eigene Rechnung auf dem Weltmarkt und gibt das Mehl umsonst an die Staatsbäckereien weiter. Die USA spenden dafür jährlich 700 Millionen USD in Form von Abgabevergünstigungen. Hier zeigt sich, dass ein Überleben für die Massen in Ägypten, würden alle Elemente der Lebensmittelproduktion nach den Marktgesetzen erledigt, nie und nimmer funktionieren würde.

Auch die europäischen Journalisten wissen um den Zusammenhang zwischen der Zurichtung der Wirtschaft in den nordafrikanischen Ländern für die EU und der Verarmung der Bevölkerung, also dem Anwachsen von „Protestpotenzial“.

„In Ägypten lebt die Hälfte der Menschen an der Armutsgrenze. ...Es fehlen (immer) mehr Jobs, die Preise steigen immer weiter ... als Folge von Mubaraks Wirtschaftsliberalisierung.“ (Avenarius, SZ, 27.1.2011)

„Das tunesische Wirtschaftswunder...beruhte auf Ansiedlung von Zulieferindustrie für Europa, Billigtourismus und Assoziierung mit der EU. Wie sich jetzt zeigt, war dieses Modell nicht die Lösung des Problems, sondern langfristig eine ihrer Ursachen …“ (Chimelli, SZ 13.1.2011)

Und was ist da zu tun? Wie der letzte Rettungsvorschlag des scheidenden Präsidenten Ben Ali zu beurteilen ist, dazu mussten sich die internationalen Kommentatoren ja nicht mehr äußern: 300 000 Arbeitsplätze zu schaffen, wäre das nicht gerade die Rücknahme des Reformprogramms gewesen, unerlaubte Subventionen zu streichen? Nur wegen der Hungeraufstände genau das wieder einzuführen, was als Todsünde eingesehen wurde – Arbeitsplätze schaffen, die nach dem Maßstab des Geschäfts gar keine sind –, dazu darf es ja wohl nach den Normen von IWF und EU nie wieder kommen. So hat der zuständige Mann von der SZ denn auch die eigentliche Ursache der Krise gefunden – sie liegt in einem Prozess namens „Bevölkerungsdruck“, der für ein unlösbares Dilemma sorgt:

„Als Tunesien 1956 unabhängig wurde, hatte es 5 Mio Einwohner, jetzt sind es gegen 11 Mio. So viele Jobs gibt es nicht.“ (SZ, Chimelli, 13.1.2011)


Die von der EU vorgesehene „Demokratisierung“ der arabischen Partnerstaaten

Was die Presse den Institutionen der EU und den Regierungen in Berlin und Paris jetzt vorwirft, sich „nicht genügend um die Entwicklung im Maghreb und in Ägypten gekümmert“ zu haben, ist ein Hohn. Was dort in Sachen „Wirtschaftsentwicklung“ passiert, ist ihr Projekt. Die Anpassung von Landwirtschaft und Industrie an den in Europa herrschenden Standard ist eingebettet in eine Reihe von Verträgen. Da gibt es die Union für das Mittelmeer, die den Barcelona-Prozess ersetzt, das Europäische Partnerschaftsabkommen, (das für ganz Afrika vorgesehen ist) und bilaterale Verträge zwischen Marokko, Algerien, Tunesien, Ägypten mit der EU: Assoziationsabkommen, Festlegung von Freihandelszonen.

Einfach die Erpressbarkeit der nordafrikanischen Staaten zu nutzen und ihnen Bedingungen abzuhandeln, die dem europäischen Kapital Freiheit in der Region verschaffen, sie aber ansonsten in Ruhe zu lassen, kommt für EU-Politiker nicht in Frage. Sie arbeiten an einem Ordnungsprogramm, das die ganze Region unter politische Vorgaben stellt. Sarkozy hat die Parole „ Europas Zukunft liegt im Süden“ ausgegeben und gleich den großen Wurf einer „Union für das Mittelmeer“ hingelegt. Europa lässt alle Anrainerstaaten in Paris zur Unterschrift antreten. Jetzt gilt ein Vertrag, der beides schafft: Den südlichen Staaten des Mittelmeeres mit ihren nationalen Ambitionen ein Angebot zu machen, das diese nicht ausschlagen können, und ihnen die Erfüllung eines Aufgabenkatalogs aufzudrücken, der zeigt, wie eine moderne politökonomische Subsumtion Nordafrikas unter die Ordnungsmacht EU voranzubringen ist, die den Kolonialismus wirklich weit hinter sich lässt.

„Europa und die Mittelmeeranrainer sind durch ein gemeinsames Ziel verbunden: gemeinsam eine Zukunft des Friedens, der Demokratie, des Wohlstands und des sozialen und kulturellen Verständnisses zu bilden.“ (Präambel UfMM)

Nur Gaddafi weigert sich, zu unterschreiben, weil er, obwohl von Wohlstand die Rede ist, alte imperialistische Pläne am Werk sieht.

„Alt“ sind die Pläne sicher nicht, denn die verlangen etwas nie Da-Gewesenes von den südlichen Anrainerstaaten – die Staaten am Nordrand des Mittelmeers müssen sich ja nicht ändern, sie sind bestimmende Subjekte der Ordnung, die die südlichen erst noch herausbilden müssen.

Nicht von ungefähr heißt der Obertitel der UfMM, deren Vorsitzender immer noch Mubarak ist, und auch der Assoziationsverträge „Demokratisierung“. Und daran, wie dieser Forderungstitel mit Inhalt gefüllt wird, kann man ersehen, was die EU an „Umbau“ der Gesellschaften bestellt hat und was nicht, warum sie also auch von den derzeitigen Volkserhebungen erstmal kalt erwischt wurde: An erster Stelle steht in den Assoziationsverträgen neben der Festlegung auf Zollfreiheit die von der EU verlangte Anpassung der Rechtssysteme, wobei es insbesondere um die Eigentums-, Investitions- und Bankenrechte geht.

„In den letzten 20 Jahren hat Ägypten erhebliche Fortschritte beim Wiederaufbau der inneren und äußeren Sicherheit und beim Vorantreiben von wirtschaftlichen Reformen gemacht, zunächst langsam, aber dann während der 90erJahre ehrgeizig und seit Juli 2004 mit erneuter Intensität.“
„Das Assoziationsabkommen EU-Ägypten das jetzt im dritten Jahr seiner Durchführung ist – ordnet die bilateralen Handelsbeziehungen in das Gefüge der Partnerschaft Europa-Mittelmeer ein....Die ägyptische Regierung verfolgt das Ziel, gerechtes Wachstum im Wege der Beteiligung herbeizuführen, und zwar durch die Förderung des Privatsektors und die Schwächung der Rolle der Regierung bei der Lenkung der Wirtschaft.....Nach seinen Bestimmungen über der Zollabbau wird bald die Hälfte der gewerblichen Ausfuhren der EU nach Ägypten vollständig liberalisiert sein, während in der Landwirtschaft bilaterale Präferenzregelungen den Marktzugang in erheblichem Umfang geöffnet haben, so insbesondere für ägyptische Erzeugnisse. Mit durchschnittlich €10 Milliarden an bilateralem Handelsvolumen seit 2000 und einem stetigen Aufwärtstrend seit Inkrafttreten des Assoziationsabkommens (€11,5 Milliarden im Jahr 2004 und €13,3 Milliarden im Jahr 2005) steht die erweiterte EU für fast 40% des gesamten ägyptischen Handels mit der Welt. Auf der Ebene der Europa-Mittelmeer-Partnerschaft verhandelt Ägypten derzeit mit der EU über die Liberalisierung der Dienstleistungen, des Niederlassungsrechts und der Landwirtschaft.“
„Eines der Hemmnisse besteht in der Unmöglichkeit, das neue Wirtschaftsrecht wirkungsvoll durchzusetzen, und zwar oftmals aufgrund der Tatsache, dass die mit der Regulierung der Wirtschaft befassten Institutionen dazu zu schwach sind. Die private Wirtschaft ist mit einer vagen Systematik des Wirtschaftsrechts konfrontiert, in der die Transparenz, der freie Wettbewerb und die Durchsetzbarkeit von vertraglichen Ansprüchen bei Weitem nicht hinreichend gewährleistet sind. Die Verbesserung der Unternehmensverfassung ist somit eine wichtige Herausforderung, um Investitionen anziehen und halten zu können.“
„Besonders wichtig ist die Unterstützung der Reformen im Bankensektor und der Verbesserung der Aufsicht über finanzielle Dienstleistungen ganz allgemein. Andere wichtige Herausforderungen, die als Anreiz für inländische und ausländische Investitionen gelten, betreffen die Verbesserung der Unternehmensverfassung, die Durchsetzung des Konkursrechts und die Lösung der handelsrechtlichen Streitigkeiten vor Gericht.“ (Ägypten, Länderstrategiepapier 2007-2013)

Hier rekurriert die EU auf ihre Weise auf das Problem der Korruption: Wer die Kredite nach welchen Kriterien vergibt, ist entscheidend. Und noch anderes:

„So muss ein Investor (in Ägypten) bei der Gründung eines neuen Unternehmens nicht nur 17 verschiedene Genehmigungsschritte erfolgreich hinter sich bringen, was sowohl zeit- als auch kostenaufwendig ist, er muss sich zudem noch der als eher restriktiv geltenden ägyptischen Arbeitsgesetzgebung unterwerfen, die zwar momentan revidiert wird jedoch viele Investoren von einem investiven Engagement abschreckt. Für viele Interessenten erscheint deshalb in vielen Fällen die Akquisition eines existierenden ägyptischen Unternehmens anstelle der Gründung eines neuen Unternehmens als der einfachere, wenn nicht sogar kostengünstigere Weg. Hier bietet die Privatisierungspolitik der ägyptischen Regierung Ansätze zum Engagement ausländischer Investoren, sei es in Form von Betriebsübernahmen oder entsprechenden Beteiligungen.“ (Konrad Adenauerstiftung, s.o.)

Mit dieser Festlegung auf Einführung von Demokratie, von den Anrainerstaaten unterschrieben, verschafft sich die EU einen bleibenden Einspruchtitel und eine politmethodische Verpflichtung jedes einzelnen Landes gegenüber den europäischen Institutionen. Es sollen keine anderen Ziele für die Politik gelten als die abstrakten Normen, die im Acquis Communautaire der EU festgeschrieben wurden. Das heißt durchaus etwas Materielles und da überlässt der unterschriebene Assoziationsvertrag nichts mehr dem Zufall:

„Das vorliegende Länderstrategiepapier (LSP) legt einen strategischen Rahmen für die Zusammenarbeit der EU mit Tunesien im Rahmen des Europäischen Nachbarschafts- und Partnerschaftsinstruments (ENPI) für den Zeitraum 2007-2013 fest (nationale Zuweisung). Im Nationalen Richtprogramm (NRP) wird die operationelle Antwort der Kommission für den Zeitraum 2007-2010 dargelegt, wobei insbesondere die Ziele, die erwarteten Ergebnisse und die in den wichtigsten Bereichen der Zusammenarbeit einzuhaltenden Bedingungen behandelt werden.“
„Tunesien verzeichnet seit 15 Jahren ein jährliches Wirtschaftswachstum von 4 bis 5% und führt unter Wahrung des sozialen Zusammenhalts Wirtschaftsreformen durch. Die wirtschaftlichen und sozialen Erfolge haben zur Herausbildung einer bedeutenden Mittelschicht geführt, die eine größere Beteiligung an den Entscheidungsprozessen sowie eine höhere Transparenz und politische Verantwortlichkeit wünscht (wachsende Bedeutung von Zivilgesellschaft und Privatsektor). Diese Entwicklung wird für eine dynamischere Staatsführung in einem offeneren Umfeld von entscheidender Bedeutung sein. Des Weiteren setzt eine Steigerung der privaten Investitionen, die unabdingbar ist für die Aufrechterhaltung des raschen Wirtschaftswachstums, eine Verbesserung des Geschäftsklimas und des Justizapparates voraus. ...Tunesien hat im politischen Bereich Nachholbedarf, auf manchen Gebieten erheblichen– etwa auf dem der Meinungs- und Versammlungsfreiheit.“ (EU-Assoziations-Vertrag Tunesien, 2007)

Wohlgemerkt: Das ist alles andere als eine Aufforderung an die Massen, auf die Straße zu gehen. Hier bekommen die amtierenden Regierungen eine Road-Map vorgelegt, wie sie für „Stabilität“ zu sorgen haben – und zwar angeleitet durch die und kontrolliert von den Institutionen der EU. Das ist die politische Absicherung des in Gang gesetzten ökonomischen Umbaus – Europa ist darauf bedacht, eine „Bürgergesellschaft“ zu schaffen, die sich als stabile Stütze der Herrschaft erweist.

Die Elemente dieses Acquis sind Vorgaben in Sachen good governance, die die Herrschaftsmethode betreffen: Die „größere Beteiligung der Menschen an den Entscheidungsprozessen“ ist dann freilich so vorgesehen, dass die Bürger ihre Regierung wählen dürfen. Damit diese dann ermächtigt ist und einige Jahre freie Hand hat, das Notwendige durchzusetzen. Statt auf der Straße Unruhe zu stiften, können die Bürger derweil ihre Sorgen einer im Parlament vertretenen Oppositionspartei überantworten – und ihre Entscheidungsmacht an das schöne System des Ausgleichs der Interessen abgeben. So ist gewährleistet, dass regelmäßig eine legitime Ermächtigung der Regierung herauskommt und sie ihre Gesetzgebung ohne Beeinträchtigung durch Widerstand fortsetzen kann. Was die EU an demokratischen Verfahren vorsieht und wo sie Reformbedarf einklagt, verrät sehr schön, dass sie gegen den Herrschaftszweck der amtierenden Diktaturen keinen Einwand hat. Sie machen ihre Sache schon recht gut, nur sollen sie die Bürger besser einbeziehen, um ihren Amtsgeschäften dann umso reibungsloser, weil besser legitimiert nachgehen zu können.

Dabei hat die EU freilich gleich mit daran gedacht, dass in Zukunft Staats- und Privateigentum besser getrennt werden müssen. Denn das Problem der Korruption ist ihr ja nicht unbekannt. Die angesagten Reformen betreffen hier ein weites Feld, nämlich das der Investitionsschutzabkommen, das Banken- und Gesellschaftsrecht, Steuerrecht, Konkursrecht usw. Das alles fällt unter das Stichwort: „wirtschaftspolitische Steuerung, Wettbewerbsfähigkeit und Konvergenz mit der EU“.

„Artikel 8 der tunesischen Verfassung gewährleistet Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Trotz dieser verfassungsmäßigen Garantie stellen Beobachter in der Praxis gravierende Behinderungen dieser Freiheiten fest. Internationale Beobachter und internationale Organisationen haben regelmäßig die Praxis der Belästigung von Menschenrechtsaktivisten verurteilt und machen auf die Notwendigkeit aufmerksam, 13 dass auch im Kampf gegen den Terrorismus die Meinungsfreiheit gewahrt bleiben muss.“ (Assoziationsvertrag Tunesien 2007)

Angesichts der Ereignisse bekommen die hier niedergelegten Gebote einen neuen Akzent: Ben Ali hätte sich Demonstrationen, Protestversammlungen und böse Kundgaben abweichender Meinungen ersparen können, wenn er sie erlaubt hätte. Denn der einzig aus den Assoziationsverträgen herauslesbare Grund für Opposition ist schließlich der, dass man den Bürgern eine solche nicht als Recht gewährt. Die oben abgehandelten materiellen Reformen haben Ben Ali und Konsorten ja aufs genaueste erledigt – so dass die EU als vorstellbaren Grund für Instabilität nur vermeidbare, der Sache nach und gemessen an den eigentlich grundguten Absichten der Regierung gar nicht nötige Einsprüche kennt. Hätte man die wachsende „Zivilgesellschaft“ also eingebunden, würde auch die gewünschte Stabilität einkehren – so sieht die EU die nordafrikanischen Völker.

Allerdings nicht ganz: Schon bei ihren Überlegungen, den Export von Demokratie zur Festigung der inneren Verfassung von Partnerstaaten betreffend, kann die EU Leistungen der nordafrikanischen Diktaturen nicht übersehen, die einen Aufschub der Bürgerbeteiligung rechtfertigen können: Terrorismusbekämpfung kann wichtiger sein als unkluges Beharren auf Einführung von freien Wahlen zur Unzeit. In Algerien hat die EU schon einmal vorgeführt, dass sie im Prinzip das Ausrotten einer islamistischen Partei (FISL) befürworten muss, wenn die bei den Wahlen doch glatt eine unerwünschte Mehrheit erhält. Einen zweiten Iran präsentiert zu bekommen, dieses Risiko wollte die EU nie eingehen – und das ist es auch, was sie die laufenden Ereignisse in Tunis und Kairo mit großer Skepsis betrachten lässt.

In Tunesien konnte sich die EU zudem noch auf einen Verfassungsparagrafen berufen, wenn sie dem mittlerweile per Haftbefehl gesuchten Ben Ali jedes Jahr aufs neue bescheinigte, Fortschritte auf dem Weg zur Demokratie gemacht zu haben:

„In Artikel 8 untersagt die tunesische Verfassung, dass sich eine politische Partei in ihren Grundsätzen, Zielen, Aktivitäten oder Programmen grundlegend auf eine Religion, eine Sprache, eine Rasse, ein Geschlecht oder eine Region stützt.“

Elegant, wenn in der Freiheitsgewährung der Islamismus gleich mitbekämpft wird. Im Fall Ägypten hat den EU-Politikern und den Kommentatoren immer schon eingeleuchtet, dass man Mubarak ein paar Zugeständnisse machen muss: Demokratie ist ja eine Form der Herrschaft und kein Selbstzweck. Schon Ende 2010, angesichts des genehmen Wahlergebnis-ses, schrieb der SZ-Reporter:

„Das Land ist ein unverzichtbarer militärischer und politischer Verbündeter in der notorisch instabilen Nahost-Region. Dafür, dass Ägypten selbst ruhig bleibt,...bekommt das Land Militär- und Wirtschaftshilfe in Milliardenhöhe aus den USA. Deshalb schweigen europäische Regierungen höflich, wenn Wahlen erwartungsgemäß gefälscht und jede Art von Opposition geschurigelt wird. Diese realpolitische Doppelmoral ist in Teilen nachvollziehbar.“ (Avenarius, SZ, 3.12.2010)

In einer der wichtigsten Menschenrechtsfragen gab es schon seit Jahren keinen Millimeter Differenz zur Regierung Ben Ali (und zu den anderen Staatschefs).

„Tunesien ist ein Land der Auswanderung und des Transits in Richtung Europa (Anhang 3 – Migrationsprofil). die tunesische Rechtslage weist ein rechtliches Vakuum hinsichtlich der Feststellung des Flüchtlingsstatus auf, was Staatsangehörige aus den afrikanischen Ländern südlich der Sahara daran hindert, sich in Tunesien niederzulassen. Obwohl Tunesien die Konvention von 1951 unterzeichnet hat, gibt es nur wenige Flüchtlinge im Land. Das Flüchtlingshochkommissariat führt ca. 100 Akten im Zusammenhang mit Asylbewerbern und Flüchtlingen. Die Landesgrenzen werden von der Polizei überwacht. Die tunesischen Behörden arbeiten eng mit den italienischen Behörden zusammen und führen immer effizientere Patrouillen an der Küste durch.“ (Assoziationsvertrag 2007)

In dieser Frage ist Tunesien, wie Marokko und Algerien, eine Dependance europäischer Innenpolitik geworden. Und das ist doch auch ein trefflicher Beweis für die im Sinne der Auftraggeber gelungene „Demokratisierung“!

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Die Selbstverpflichtungen, auf die sich der tunesische Staat und die anderen nordafrikanischen Staaten in Assoziationsverträgen eingelassen haben, enthalten nicht nur Maßstäbe, an denen die amtierende Regierung sich zu bewähren hat und in regelmäßigen Überprüfungsverfahren messen lassen muss. Es sind Verpflichtungen, die der ganzen Gesellschaft auferlegt sind und vor denen alle politischen Wünsche und Ideen, die in solchen Ländern aufkommen können (Islamismus, arabischer Nationalismus und so weiter), im Zweifel zurückzustehen haben.

Die EU ging immer davon aus, dass ihr Verfahren zur Überprüfung, wie weit Ben Ali dem Acquis der EU nachgekommen ist, indem er zum Beispiel Freiheitsrechte zugelassen hat, immer auch zu berücksichtigen hat, ob er das auch konnte: Nur, wenn die politische Klasse ein Volk vor sich hat, das sich des demokratischen Zugeständnisses würdig erweist, am Verfahren der Herrschaft beteiligt zu sein, so viel Pragmatismus gehört sich für die beurteilende EU, kann man in dieser Sache ein Vorankommen verlangen.

Und da konnten Ben Ali und Mubarak bis gestern immer noch auf Hindernisse für die strikte Beachtung der EU-Demokratie-Normen verweisen, die auch für den `Administrator´ aus Brüssel einen Notstandsfall rechtfertigen: Wenn und solange Islamisten, arabische Nationalisten oder Kommunisten eine gewichtige Rolle in der Gesellschaft spielen und solche unliebsamen politischen Tendenzen anders nicht wirksam unterbunden werden können, konzediert die EU jeder Partnerregierung sämtliche Formen der Gewaltausübung, willkürliche Verhaftung und Folter inbegriffen, als `notwendige Übel´. Der Zertifizierung, auf einem guten Weg hin zur Demokratie zu sein, stehen solche Praktiken nicht im Wege.

Gerade jetzt wird ganz praktisch sichtbar, inwieweit Ben Ali und Mubarak es in den vergangenen Jahren geschafft haben, genug Kommunisten und Islamisten aus dem Weg zu räumen und dem Volk klarzumachen, dass es sich nicht lohnt, in ihnen eine erfolgreiche Alternative zu sehen. Denn der Volksaufstand in Tunis und Kairo, den die EU wahrlich nicht bestellt hat, ist aus ihrer Sicht ein Test mit offenem Ende – ein Test, dem die Völker dort unterzogen werden, ob sie das wissen und wollen oder nicht. Es ist ein Test darauf, ob diese Völker schon „reif“ sind für eine Demokratie, wie sie der Westen dort möchte, oder noch nicht.

Von der frohgemuten öffentlichen Feier der mutigen „Freiheitsbewegung“, an der man angesichts ihrer praktischen Relevanz eh nicht vorbeikommt, lässt sich jedenfalls kein westlicher Politiker (und auch kein affirmativ mitdenkender Journalist) blenden. Sie beharren voller Skepsis auf der für sie entscheidenden Frage: Ist die Verfasstheit und die Konkurrenz der neu antretenden Gruppierungen und Parteien Gewähr für „Stabilität“? Also dafür, dass diese Revolution zwar einiges umwälzen darf, aber nicht das wirklich Wichtige, worauf wir nach wie vor setzen müssen: Wenn alle in der letzten Zeit `geklärten´ Fragen von Eigentum, von EU-Recht in Sachen Bewegungsfreiheit fürs Kapital nicht mehr neu aufgeworfen werden, wenn der Umsturz also an der ökonomischen Lage der Massen, die ja gerade erst von staatlicher-sozialistischer Gängelei befreit wurden, nichts ändern möchte, so dass die Investoren des Auslands weiter auf gute Geschäfte hoffen können, und wenn auch sonst alle politischen Koordinaten dieser Länder von unseren Gnaden eingehalten werden, dann wird der Aufstand von der EU mitgetragen werden können. Sonst aber sicher nicht. Und ob das eine oder das andere vorliegt, das obliegt ihrem Urteil - und dem der USA.

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Vom Gespenst zur Geisterdebatte

Der Antikommunismus kommt auch ohne Kommunisten aus

Linken-Parteichefin Gesine Lötzsch darf auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz eine Rede halten. Sie will die links-idealistische und gerade deshalb stets etwas enttäuschte Wählerschaft umwerben. Lötzsch veröffentlicht im Vorfeld einen Artikel in der Jungen Welt und spricht da, wie jeder gute Parteivorsitzende bei einer solchen Gelegenheit, über die hochgesteckten Ideale, die der schnöden praktischen Politik – die bei allen möglichen, auch weltverbessernden Nuancen nun mal Verwaltung und Förderung des Kapitalismus und seiner Opfer heißt! – irgendwie zugrunde liegen und diese deshalb adeln sollen. Zwar ist es schon ein wenig komisch mit diesen Idealen, denn die sind ja qua Definition Ziele, die man nie erreicht – das soll aber nach allgemeinem Verständnis gar nicht gegen sie sprechen, sondern macht sie gerade so beliebt.

Was für Westerwelle der „Liberalismus“, für Seehofer die „christliche Werte“ sind, ist für die gute Gesine im Kontext dieser linken Konferenz der „Kommunismus“ – die über allem schwebende schöne Idee. „Wege zum Kommunismus“ seien es, die ihre Partei noch immer suche – das Treiben der Linken in Regierung und Opposition also „eigentlich“ als Weg in eine glücklichere Zukunft ohne Klassen und Herrschaft zu begreifen.

Der Zweck der Chose ist ebenso abgefeimt wie klar: Die Linkenchefin will ein Deutungsangebot liefern, das man sich zur Politik ihrer Partei dazu denken kann.

„Seht es doch mal so, dass wir alle vom besten Willen zur Verbesserung der Welt beseelt sind. In diesem Ideal sind wir uns doch alle einig!“

Mit der Berufung auf die doch immer noch gültige schöne Idee will sie sich eine Art Generalabsolution einholen und so dafür werben, dass ein linkes Publikum ihre Partei auch dann wählt, wenn es sich über deren „Realpolitik“ in Berlin oder sonst wo erbost. Koalitionäres Gekungel, Regierungsbeteiligungen und das Mittragen „unsozialer“ Entscheidungen sind im Lichte eines höheren Ziels zu sehen, als mögliche (und unbedingt auszutestende) „Wege zum Kommunismus“ eben. Kritik daran verbaut diese interessanten Wege nur, ist falsch, dogmatisch, parteischädigend.

Genau so verlogen berechnend wie Gesine Lötzsch daherkommt, fallen die Reaktionen der anderen Parteien und der freien Presse aus. Zwar wissen die gewieften Parteitaktiker und noch viel besser natürlich die professionellen Meinungsmacher sehr genau, dass die Linkspartei keine Systemkritik im Programm hat, sondern allenfalls an „neoliberalen“ (also für gar nicht systemnotwendig, sondern schlicht überflüssig gehaltenen) „Auswüchsen“ herumreformieren will und dass Lötzsch parteiintern in diesem Spiel noch besonders für den „Realismus“ ihrer Mannschaft gegen alle linksmoralischen Phantasien kämpft. Voll gespieltem Entsetzen „entdecken“ sie aber alle mit viel Begeisterung eine Wölfin im Schafspelz. Hat man es nicht immer gesagt? Die Linkspartei tut nur demokratisch, marktwirtschaftlich und reformerisch – in Wahrheit aber glaubt selbst ihre biedere Vorsitzende an den Teufel.

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Man könnte lachen über eine solche Geister-Debatte, die nun schon fast einen Monat lang mit schöner Regelmäßigkeit aufgewärmt wird. Das Lachen vergeht aber angesichts des totalitären Inhalts, mit dem da auf die Neuauflage der alten Tante SPD eingedroschen wird. Von wegen Gespenst! Kommunisten braucht es offenbar gar keine, um gegen sie zu kämpfen. Antikommunismus ist schlicht Staatsräson in Deutschland!  Also kann man damit auch prima Stimmung machen gegen die „Linke“ und die lästige Konkurrenz, die überall partout verbessernd mitmachen will, nach Strich und Faden ausgrenzen. Über Kommunismus zu faseln, ohne ihn nach Strich und Faden zu verurteilen – das geht in der deutschen Bollwerk-Republik nicht. Das desavouiert ein für allemal, und wer das nicht begreift und sich auch noch auf Meinungsfreiheit oder ähnliche Mätzchen beruft, ist ein Fall für die Stasi, pardon: den Verfassungsschutz.

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