Gaddafi bombardiert sein Volk

So geht´s nicht!

Angesichts der zugespitzten Lage in Libyen werden deutsche Journalisten fordernd. Was sie bisher mitgetragen haben an „Zynismus“ der europäischen „Realpolitik“, kann jetzt so nicht mehr fortgesetzt werde. In der „Wir“-Form, als berufene Interpreten eines europäischen Standpunkts, in dem für sie Politiker wie europäische Bürger ganz selbstverständlich zusammengeschlossen sind, geben sie kund, was ihnen gehörig erscheint und was nicht – in den dortigen Ländern und in Europas Stellung zu ihnen. In geschichtsträchtigen Augenblicken wie derzeit, wo die Nachbarvölker mit ihren Tyrannen aufräumen, die bislang „unsere“ bad guys vor Ort waren, und sich alle bisherigen Machtverhältnisse auflösen, werden sie auch mal brutal offen, wenn sie ihren Lesern erläutern, was für sie Sache ist:

Wie Gaddafi, dieser Verrückte aus Tripolis, sein Volk behandelt, ist uns – den Vertretern des aufgeklärten Europa – einerseits scheißegal. Wie er es an den Öleinnahmen des Staats, für den er seit 1969 stand, beteiligt oder auch sein Stillhalten erkauft hat, wie er es zu seiner eigenen Verehrung als Geistesgröße („grünes Buch“) verpflichtet und Aufmüpfige mit Geheimdienst und Gefängnis kujoniert hat, war und ist uns einerlei. Wichtig für uns ist nicht die Herrschaftstechnik eines benachbarten Wüstendiktators, sondern allein die berechenbare Erfüllung von nützlichen Funktionen seiner Herrschaft für uns. Dafür nehmen wir auch unwürdige Auftritte der Herrscherperson in Kauf. Nach dem Abschwören gegenüber terroristischen Aktivitäten, das wir im Verein mit Amerika durch militärischen, politischen und wirtschaftlichen Druck bei ihm erreicht haben, hatte er es leicht mit uns, solange er uns zu Diensten war: Mit der Belieferung mit Erdöl, mit der Eröffnung vieler Geschäftsgelegenheiten auf seinem Hoheitsgebiet und mit der Kooperation in Sachen Fernhalten afrikanischer Flüchtlinge von Europa. Dass viele dieser Elendsfiguren, die er in Absprache mit uns am Ausreisen gehindert und eingeknastet hat, nun im Zuge der Rebellion aus ihren Gefängnissen befreit werden, ist peinlich, aber eben auch gefährlich: Mit Wegfall der Machtausübung durch Gaddafi droht uns ein gigantischer Flüchtlingsstrom!

Wenn Gaddafi jetzt aber auf sein Volk schießen lässt – sogar seitens der Luftwaffe, wie man hört -, dann geht das entschieden zu weit. So etwas tut man nicht, wenn man ein guter Herrscher ist. Sein Volk hat man im Griff zu haben, es soll möglichst aus freien Stücken zu seinen politisch Verantwortlichen stehen! Wer sein Volk bedroht und es mit – auch noch militärischer – Gewalt niederhalten muss, ist kein Politiker, auf den es sich zu setzen lohnt; so einer ist schon fix und fertig und sein Ruf ist endgültig ruiniert, auch wenn er noch eine Zeit lang die Oberhand behalten sollte! Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, wo der Westen Farbe bekennen muss: Jetzt müssen wir den Verrückten, der trotz aller hohlen Durchhalteparolen und blutiger Taten seiner Soldateska nichts mehr vermag, bestrafen. Durch Entzug unserer moralischen Rückendeckung, durch mutiges Eingreifen:

„Eines aber darf Europa auf keinen Fall tun: abwarten. Ein Libyen, das zerbricht und in einem Bürger- und Stammeskrieg versinkt, kann die ganze Region in Brand setzen. Seit den Kriegen auf dem Balkan wissen die Europäer um den Wert des frühen Eingreifens. Damals haben sie den Zeitpunkt verpasst. In Nordafrika sollten sie diesen Fehler nicht wiederholen.“ (Martin Winter, „Libyen – Europas Nachbar“, SZ 24.2.)

Ob Europas Politiker diesen Ruf aus München erhören? Ist Guttenberg vorbereitet?

PS. Bundeswehrschiffe sind jedenfalls bereits unterwegs, vielleicht nicht nur zwecks Evakuierung der richtigen Personen aus der Gefahrenzone.

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Der Westen und der Bürgerkrieg in Libyen

Warum Gaddafi weg soll

Die USA und die EU haben eine UN-Sicherheitsratsresolution zur Ächtung des Gaddafi-Regimes erwirkt: Auf allen vormilitärischen Ebenen sollen diesem immer noch nicht vertriebenen „Tyrannen“ und seinem Anhang die Machtmittel aus der Hand geschlagen werden (Konten werden eingefroren, Sanktionen verhängt) – der diplomatische Respekt ist ihm aufgekündigt, eine Anklage vor dem internationalen Gerichtshof wird vorbereitet. Demonstrativ werden militärische Verbände in die Gewässer vor Tripolis verlegt und Einsatzmöglichkeiten erwogen. „Alle Optionen liegen auf dem Tisch“, lässt US-Außenministerin Clinton verlauten und auch die EU-Mächtigen debattieren verschiedene Möglichkeiten von Interventionen. Obama und Rasmussen, der NATO-Sekretär, drohen mit militärischem Eingreifen, falls Gaddafi sich weiter mit Gewalt – womit sonst? – gegen seine Gegner behaupten möchte. Damit hat sich der Westen offen als Partei in einem noch nicht beendeten Machtkampf innerhalb Libyens positioniert und den Sturz Gaddafis bzw. den vollständigen Sieg der Rebellen zu seiner Sache erklärt. Offen sind nur noch, sofern Gaddafi nicht klein beigibt, der Zeitpunkt und die Methode des Zuschlagens sowie das Ausmaß der erreichbaren diplomatischen Rückendeckung durch den Rest der Welt (UNO, Arabische Liga, Afrikanische Union).

Begründungen und Gründe

Die offizielle Begründung für diese eindeutige Parteinahme gegen Gaddafi, in der sich alle wichtigen Staaten des Westens einig geworden sind, lautet: Dieser Mann, der sein eigenes Volk bombardiert, hat damit alle Rechte verloren, sein Land zu regieren. Dass der libysche Staatschef nicht bereit ist, freiwillig die Macht aus den Händen zu geben und sich ins Exil zu verdrücken, stattdessen mit aller in solchen Fällen üblichen Gewalt gegen die Rebellen in seinem Land vorgeht, wird ihm zum finalen Vorwurf gemacht. Die Begründung ist verlogen. Dass es sich nicht gehört, wenn ein Staatschef auf sein „eigenes Volk“ schießen lässt, ist schließlich keine allgemein beherzigte Maxime des Westens – man denke nur einmal an das benachbarte Algerien, wo die per demokratische Wahl an die Macht gekommenen Islamisten gewaltsam niedergemacht wurden, unter lautem Beifall und mit voller Unterstützung der westlichen Regierungen. Würde Gaddafi seine beachtlichen Kampfmittel gegen antiwestliche Volksteile einsetzen, fände man das vielleicht bedauerlich, aber unvermeidlich und hilfreich. Umgekehrt geht ja auch der wenig zimperliche Gewalteinsatz der Rebellen gegen Gaddafianhänger (oder Leute aus anderen Ländern, die man für seine „Söldner“ hält) moralisch voll in Ordnung.

Was an Gaddafis Gewalttaten gegen die ihrerseits keineswegs friedliche Rebellion stört, ist der Selbstbehauptungswille eines Herrschers, der die „Zeichen der Zeit“ nicht erkannt hat, die die westlichen Staaten in die aktuelle Umbruchssituation in Nordafrika hineindeuten und praktisch zu machen versuchen. So wenig sie diese Aufstände vorhergesehen oder gar bestellt haben, sehen sie in ihnen mittlerweile Erfüllungsgehilfen des eigenen Interesses an stabilen Regimen mit prowestlicher Ausrichtung; sie setzen darauf, dass demokratische Reformen in den Machtstrukturen dieser Länder diesen Staatswesen mehr Verlässlichkeit implantieren, die Willkür von Autokraten ausschalten (auch wenn sie selbst einiges dafür tun müssen, dass die Revolten genau das zum Ergebnis haben). Gaddafis wirkliches Verbrechen ist, dass er sich diesem Erneuerungsprozess, den der Westen unter Instrumentalisierung der „Freiheitskämpfer“ intendiert, in den Weg stellt. Statt die Notwendigkeit von Reformen einzusehen und seine eigene Abdankung dafür in Kauf zu nehmen, kündigt er – in den ersten Tagen der Auseinandersetzung scheinbar schwer angeschlagen – einen unerbittlichen Kampf bis zum eigenen Tod an, um dann nach und nach mit immer größerem Erfolg die scheinbar schon sicheren Positionsgewinne der Rebellen wieder zunichte zu machen. Diese Impertinenz des „Diktators“ bestätigt für die Aufsichtsmächte des Westens einmal mehr, was sie immer schon an ihm und seinem Regime gestört hat: Ein nationales Programm, das alles andere als Unterordnung unter westliche Bedürfnisse und Ansprüche im Sinn hat, ein Nationalismus, der dagegenhält. Seitdem der Aufstand läuft, addieren sich alle Vorbehalte, die früher oder auch in den letzten Jahren noch gegen Gaddafis Regime geltend gemacht wurden zu dem eindeutigen Votum gegen ihn und zur Entschlossenheit, es auch nach Kräften wahr zu machen. Insofern wird der Bürgerkrieg in Libyen, der ohne westliches Zutun zustande gekommen ist, als ein „Fenster der Gelegenheit“ betrachtet – und behandelt! –, um einen Regimewechsel herbeizuführen.

Was für die Völker gut oder schlecht ist, ist für die westliche Beurteilung der Lage genau so scheißegal wie die Frage, was die selber eigentlich wollen. Als Großmächte, die ihre wirtschaftlichen, politischen und militärstrategischen Interessen auf jeden Winkel dieser Erde projizieren, nehmen sie es sich einfach heraus, jede Auseinandersetzung zwischen Oben und Unten irgendwo auf der Welt auf sich und ihre Ansprüche zu beziehen und entsprechend Partei zu ergreifen. Weil sie die Macht und deswegen das Recht dazu haben, tun sie das und reklamieren je nachdem, wie es ihnen passt, die Machthaber oder deren Gegner als ihre Partei. Oder verhalten sich auch mal gleichgültig dazu, egal was an Gewaltorgien abgeht.

Warum Gaddafi die Feindschaft des Westens nie wirklich los wurde

Gaddafi hat seinem Staatswesen vor einiger Zeit einen ziemlichen politischen Schwenk verordnet. Er hat sich von Verfehlungen früherer Jahre (insbesondere dem Lockerbie-Attentat) distanziert, seiner langjährigen Ächtung als „Terrorist“ und der westlichen Blockadepolitik entgegengearbeitet hat und ist in der Folge Interessen und Forderungen der westlichen Staaten in wichtigen Punkten entgegengekommen. Seit Gaddafi seine früheren antiimperialistischen Ambitionen (Unterstützung antiwestlicher Bewegungen in Afrika, Kampf für eine antiwestliche und antiisraelische panarabische Union, direkte einzelne Terrorattacken in Europa) unter dem Druck westlicher Sanktionen und auch angedrohter oder real gemachter Militärschläge demonstrativ zurückgeschraubt und auch sein Bemühen um eine atomare Bewaffnung seiner Streitkräfte aufgegeben hat, ist er von der schwarzen Liste der „Terrorstaaten“ gestrichen worden. Der diplomatische Kontakt seitens USA und EU wurde ein Stück weit „normalisiert“; es fanden Staatsbesuche statt, bei denen der Oberst mit allen – für den Geschmack der Medien eher mit zu viel – diplomatischen Ehren empfangen worden ist (Paris z. B. schämt sich jetzt nicht nur für seine Kontakte zum tunesischen Herrscher, sondern ganz besonders auch für den pompösen Auftritt Gaddafis mit seiner Entourage an der Seine). Öllieferungen aus Libyen (die ja auch in Zeiten der Ächtung nicht aufgehört haben) wurden natürlich genauso mitgenommen wie die Repatriierung der Petrodollars (libysche Beteiligungen am Kapital europäischer Konzerne und Banken) oder die wachsenden Geschäftsgelegenheiten auf libyschem Hoheitsgebiet (Autobahnbau, Plan eines Atomkraftwerkbaus etc.). Und es gab nicht nur wirtschaftliche Zusammenarbeit. Gaddafi hat auch auf anderen Feldern Punkte gemacht, etwa in der Kooperation seiner Geheimdienste mit der CIA in Sachen Terrorbekämpfung (Al-Kaida in Nordafrika) oder in der Kooperation mit der EU bei der gewaltsamen Fernhaltung afrikanischer Elendsflüchtlinge durch Abriegelung der Fluchtwege übers Mittelmeer. Und die EU berichtet auf ihren Online-Seiten über einige Erfolge beim Versuch, Gaddafi durch Kooperationsabkommen bilateraler Art, in denen sie ihr „Know How“ in Sachen Rechtsstaatlichkeit, Privatisierung der Wirtschaft oder auch Aids-Bekämpfung gegen Willfährigkeit zu tauschen bemüht war, auf sich und ihre Interessen auszurichten.

Trotzdem genügt all das den westlichen Ansprüchen offensichtlich nicht. All diese für den Westen durchaus nützlichen Funktionen seines Staates haben Gaddafi nämlich nie den Verdacht erspart, auch nach seiner `Bekehrung´ kein wirklich berechenbarer Partner des Westens zu sein und sein zu wollen. Das liegt nicht nur daran, dass imperialistische Staaten ein gutes Gedächtnis haben und sehr nachtragend sein können. Es liegt am Anspruchsniveau imperialistischer Mächte, an ihrem umfassenden Aufsichts- und Kontrollinteresse gerade gegenüber Staatswesen, die auf „ihren“, d. h. auf von ihnen beanspruchten, Rohstoffquellen sitzen. Und es liegt auf der anderen Seite daran, dass der libysche Führer seine nationalen Ziele nicht auf das Maß herunterschrauben wollte, das die Westmächte für ein Land wie das seine als passend ansehen – trotz aller Zugeständnisse, zu denen er sich unter Druck durchgerungen hat. Die Widerspenstigkeit seiner Art der Machtausübung zeigte sich an verschiedenen Indizien: Gaddafi lehnte die Mittelmeerunion, mit der die EU die nordafrikanischen Staaten wirtschaftlich wie politisch in ihren funktionalen Hinterhof verwandeln möchte, als unrechtes Dominanzstreben ab. Den Preis für die Hilfestellung in der Flüchtlingsbekämpfung wollte er hochtreiben und drohte mit Folgen, falls nicht gezahlt würde. Auch die demonstrativen diplomatischen Auftritte vor der UNO, das Sympathisieren mit „Outlaws“ der westlichen Weltpolitik wie Chávez, gaben und geben zu denken. Und selbst Kleinigkeiten wie das Beharren auf bestimmten Ritualen (Aufstellen des Beduinenzelts in Europas Metropolen statt Benutzen der Hotelsuite) – von der Presse zum Teil als folkloristischer Schnickschnack und bloße Eitelkeit des Wüstenherrschers eingestuft – belegen für die Westpolitiker einen eigentlich nicht hinnehmbaren Willen zur Eigenmächtigkeit, den sich der gute Mann nicht abschminken mag. Den Verdacht, alle Zugeständnisse an den Westen nur unter Druck und aus Berechnung, nie aus Überzeugung gemacht zu haben, wird er nicht los.

Gaddafi muss weg – fragt sich nur, wie

Der Westen hat immer alles Mögliche getan, um Gaddafis Unhandlichkeit (und bleibende politische Gefährlichkeit) einzuhegen und ihn zu domestizieren. Jetzt ist der gar nicht bestellte Aufruhr im libyschen Volk die willkommene Gelegenheit, das Problem an der Wurzel zu packen und ein für alle Mal los zu werden. Die Rebellen gegen Gaddafis Herrschaft werden, ohne dass man sie dafür zu befragen hätte, als Exekutoren des westlichen Umsturzwillens verbucht. Man erwartet von ihnen, dass sie – auch ohne Auftrag des Westens – die vorgesehene Rolle spielen, den „Diktator“ niederkämpfen und dann eine neue Staatsgewalt errichten, die zu nichts anderem da ist als dazu, die westlichen Interessen und Ansprüche besser zu bedienen. Dass sie dafür Sechzehnjährige, die von nix eine Ahnung haben und begeistert ihr Leben im Kampf riskieren wollen, in einen blutigen Krieg schicken, wird in diesem Fall nicht als Skandal genommen, sondern als Beleg für die Bösartigkeit des Tyrannen, gegen den einfach jeder antreten muss.

In dem Maße, wie die Aufständischen schon den ersten Teil der für sie vorgesehenen Mission nicht so recht hinkriegen und Gaddafis Kräfte sogar Terrain zurückgewinnen, wird der Westen unruhig und sieht sich selbst als Macht herausgefordert, um die Lage im eigenen Sinne zu entscheiden. Natürlich ist Krieg das letztlich entscheidende Mittel, um den Frieden herzustellen, den man möchte. Lieber wäre es dem Westen zwar schon, wenn die Rebellion auch ohne Militäreinsatz der USA bzw. der NATO, nur unterstützt durch die vom Sicherheitsrat verhängten Sanktionen und andere vormilitärische Angriffe auf Gaddafis Macht, vielleicht ergänzt um Waffenlieferungen, zum Erfolg käme. Aber Weltaufsichtsmächte lassen sich durch Risiken und Kosten aller Art, die so ein Einsatz mit sich bringt, nicht wirklich abschrecken – die derzeitigen Debatten in den USA und Europa zeigen, wie frei damit kalkuliert wird.

Wann ein eigenes kriegerisches Zuschlagen für passend erachtet und dann alle Bedenken, die derzeit noch in aller Öffentlichkeit hin und her gewälzt werden, beiseitegeschoben werden, das machen die Aufsichtsnationen unter sich aus. Die passende moralische Begleitmusik, dass es sich dabei um die aus humanitären Gesichtspunkten notwendige „Rettung des libyschen Volks“ vor seinem irren Schlächter handelt, wird jedenfalls schon auf allen Kanälen intoniert.

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Gewerkschaftliche Kampfkraft, die sich nicht lohnt

Verdi siegt vor Gericht

Verdi hat einen Sieg errungen. Nicht bei irgendwelchen Lohnkämpfen gegen die Arbeitgeber, sondern vor Gericht. Im Beschluss des Bundesarbeitsgerichts vom 14.12.10 wird einer Klage von ver.di endgültig stattgegeben und der Tarifgemeinschaft christlicher Gewerkschaften die Tariffähigkeit für die Leiharbeitsbranche wegen unzureichender „Sozialmächtigkeit“ abgesprochen: Auf Grund fehlender Mitglieder fehle ihr die Durchsetzungsfähigkeit gegenüber der Arbeitgeberseite. Die christlichen Gewerkschaften hatten „Gefälligkeitsabschlüsse“ für die Arbeitgeber getätigt und diesen damit ermöglicht, von einer Klausel des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes zu profitieren, die besagt,

„dass eine Firma Leiharbeiter nur dann schlechter bezahlen darf als die Stammbelegschaft, wenn dazu ein Tarifvertrag abgeschlossen ist“ (SZ, 17.12.2010).

Die equal-pay-Klausel des Gesetzes konnte durch den Tarifvertrag der christlichen Gewerkschaften aufgehoben werden und genau dafür war dieser Dachverband in der Zeitarbeitsbranche überhaupt nur gegründet worden.
Für einen solchen Abschluss braucht es natürlich keine gewerkschaftlich organisierte Kampfkraft der Arbeitnehmerschaft, denn zum Unterlaufen der equal-pay-Klausel müssen die Arbeitgeber nicht gezwungen werden.

Mit dem Richterspruch sind die Tarifverträge, die diese Gewerkschaften mit den Unternehmern abgeschlossen haben, hinfällig. Es gibt ab sofort nur noch den von ver.di und den anderen Branchengewerkschaften unter dem Namen „Tarifgemeinschaft DGB“ im März 2010 mit einem anderen Unternehmerverband abgeschlossenen Vertrag. Die darin ausgehandelten und bis 2013 festgeschriebenen Löhne liegen ebenfalls klar unter denen der Nicht-Leiharbeiter (wie billig die im Übrigen entgolten werden, tut hier nichts zur Sache!). Und den Aufschlag gegenüber den „Dumpinglöhnen“ der CGZP kann man mit der Lupe suchen. Zufrieden ist ver.di-Chef Bsirske mit diesem Niedriglohn auch nicht:

„ ... das Lohnniveau bleibt absolut unbefriedigend. Die Billiglohntarife der CGZP haben uns gezwungen, eine Lohnuntergrenze einzuziehen, die sicher nicht das Maß aller Dinge sein kann. Das ist ja der Grund, warum wir mittlerweile auf allen Ebenen aktiv werden.“ (Bsirske in BZ, 18.12. 2010)

Interessant, wozu die kampfstarken, also „sozialmächtigen“ DGB-Gewerkschaften sich von dem kleinen christlichen Konkurrenzverein haben „zwingen“ lassen: Nichts anderes anzustreben, als eine Untergrenze etwas oberhalb der „Billiglohntarife der CGZP“ zu ziehen. Offenbar ging es nur darum, den Christen das Feld der Leiharbeit nicht einfach zu überlassen und sich durch einen eigenen Abschluss mit Arbeitgebern selbst als Tarifpartner ins Spiel zu bringen. Probleme mit der eigenen Kampfkraft haben Bsirske und Co. jedenfalls nicht als Argument für den Verzicht auf mehr als „absolut unbefriedigende“ Ziele beim Tarifaushandeln angeführt. Dass wenige Leiharbeiter, die „modernen Tagelöhnern“ (Originalton IG Metall), in einer DGB-Gewerkschaft organisiert sind und mit ihnen allein sowieso kein richtiger Druck gegen die Arbeitgeber hätte ausgeübt werden können, wäre auch eine billige Ausrede gewesen für Vereine, die einiges könnten, wenn sie nur wollten. Nein, man ist stolz darauf, mit einem anderen Unternehmerverband als dem, der die Christengewerkschaft gegründet hat, eine „vernünftige“ Abklärung der Interessen beider Seiten herbeigeführt zu haben. Der herausgekommene „Kompromiss“ ist zwar „unbefriedigend“ (wie immer!), aber eben auch ein Schritt vorwärts: „Lohnuntergrenze“ immerhin!

Die „wirkliche Durchsetzungskraft gegenüber ihrem sozialen Gegenspieler“ (ver.di-Vize Gerd Herzberg), repräsentiert in der großen Zahl der Mitglieder, hat ver.di dann auf einem anderen Feld ins Spiel gebracht, wo es wieder nicht auf ihren wirklichen Einsatz ankommt. Per Klage hat diese Gewerkschaft jetzt ein gerichtliches Urteil erwirkt, um sich und den Rest der Tarifgemeinschaft vom Staat als alleinige legitime Vertreter der Kollegen in der Zeitarbeitsbranche inthronisieren zu lassen. Interessanterweise hat das Gericht nun das staatliche Interesse an einem kampfstarken Arbeitnehmerverband betont und die christliche „Pseudogewerkschaft“ wegen mangelnder „Sozialmächtigkeit“ ins Abseits gestellt. Starke Gewerkschaften braucht das Land – natürlich nur dann, wenn feststeht, dass diese Stärke nicht allgemeinwohlschädlich zu Klassenkampf, sondern allgemeinwohlnützlich für Ordnung und Stabilität an der Lohnfront genutzt wird.

Die Gewerkschaft jedenfalls feiert dieses Gerichtsurteil als ihren Erfolg. Unbeschadet dessen, dass dieser Erfolg auf der „Durchsetzungskraft“ ihrer Mitgliedslisten, also der Degradierung der potenziell lohnkämpfenden Mitglieder zu Karteileichen beruht.

„Die Feststellung der Tarifzuständigkeit ist erfreulich.“  (ver.di, Pressemitteilung vom 14.12.2010)

Erfreulich ist diese Zuständigkeit, weil die Tarifgemeinschaft ab jetzt in Abstimmung mit den Arbeitgebern allein kontrolliert, wie billig die Löhne in der Zeitarbeit sein dürfen, und wo die Untergrenze dessen liegt, was an Lohn in der BRD überhaupt gezahlt wird. Und das markiert für den ver.di–Vize

„einen wichtigen Schritt für die tarifpolitische Stabilität der Leiharbeitsbranche“:

Die Beschäftigten dort haben die schöne Sicherheit, dass ihr Niedriglohn – zumindest bis 2013 – nicht noch tiefer fallen kann, und die Arbeitgeber müssen die von ver.di durch die Klage angezettelte Unsicherheit, ob der Tarifvertrag mit der CGZP Bestand hat, nicht länger ertragen.
Die Arbeitnehmer, die ihren schäbigen Lohn jetzt konkurrenzlos von Verdi ausgehandelt kriegen, haben damit, wenn schon nicht mehr Geld, so doch eine neue Perspektive:

„Es ist ein Schritt auf dem langen Weg, Lohndumping zu verhindern.“ (Sommer in stern.de10.1.2011)

Denn merke: Billiglöhne, die Verdi und Konsorten „frei“ vereinbaren, also ganz nach eigenem Gutdünken und unter freundlicher Zurkenntnisnahme der Bedürfnisse der Gegenseite, sind keine Dumping-, sondern Mindestlöhne.
Neben diesem Sieg ihrer neuen Monopolvertretung haben die Zeitarbeiter wenig zu feiern. Ein wenig Glück haben lustigerweise gerade diejenigen unter ihnen, die unter den aufgehobenen Tarifvertrag der christlichen „Pseudogewerkschaft“ fielen. Die bekommen jetzt „equal pay“ und ver.di verspricht ihnen volle Unterstützung beim Einklagen von „Millionen von Lohnnachzahlungen“. Relatives Pech aber haben – zu dumm! – diejenigen, in deren Arbeitsvertrag schon vorsorglich die Klausel enthalten ist,

„dass bei Feststellung der Tarifunfähigkeit des christlichen Dachverbands automatisch der Tarifvertrag des DGB-Dachverbands Gültigkeit hat.“ (Jurist Internet)

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Gewerkschaftsdemos

Gegen die „ungerechte“ Sparpolitik der Regierenden

Deutsche Gewerkschaften sprechen mal wieder von einem „heißen Herbst“ und mobilisieren ihre Mitglieder und andere für Protestdemos gegen die Regierungspolitik. Vor einem Jahr hieß es zumindest teilweise noch: „Wir zahlen nicht für eure Krise!“ Das ist vorbei. Jetzt wenden sich die geplanten Demos dagegen, dass die „kleinen Leute“ die Krisenlasten alleine tragen müssen. Mehr Gerechtigkeit soll her:

„Die Kosten der Finanz- und Wirtschaftskrise werden auf den Schultern der kleinen Leute abgeladen. Restriktive Sparprogramme, Kürzungen der Sozialleistungen, Einschnitte in öffentliche Daseinsvorsorge und das Bildungssystem verschlechtern die Lebens- und Arbeitsbedingungen.“

„Gerechtigkeit ist etwas anderes.“

Was für Gewerkschaften gerecht ist – und was ungerecht

Im Krisenherbst 2008 haben die Gewerkschaften die unbefristete Gewährung von Kurzarbeitergeld gefordert und bekommen: Eineinhalb Jahre lang, manchmal auch länger, haben die Beschäftigten mit einem gewaltigen Verzicht auf reguläre Entlohnung den Unternehmen geholfen, in der Absatzkrise Personalkosten zu senken und ihre Gewinne zu verteidigen. Darüber hinaus haben Betriebsräte in zahllosen Unternehmen das Unterschreiten des tariflichen Lohnniveaus, also die Aushöhlung des Tarifsystems vereinbart. Diese Lohn-Opfer waren nicht ungerecht, sagen die Gewerkschaften, sondern nötig zur Rettung der Arbeitsplätze. Sie haben den Arbeitgebern das Durchstehen der Krise erleichtert – und das Durchstarten danach.

Die Regierung hat noch mehr für den Aufschwung getan: Sie hat mit dem Elendsniveau von Hartz-IV und dem Zwang für Arbeitslose, jede angebotene Arbeit anzunehmen, einen Niedriglohnsektor zum Blühen gebracht, Investitionen in neue Geschäftsfelder wie Postdienste und Call-Center gelenkt und so eine Riesenmenge schlechtbezahlter Arbeitsplätze geschaffen. Sie hat die Befristung von Arbeitsverhältnissen und die Leiharbeit erleichtert, die Flexibilität der Arbeitnehmer verbessert, kurzum den Unternehmen das Hire&Fire; erleichtert. Diese Maßnahmen zur Verbilligung der Arbeitskräfte haben zum Erfolg der deutschen Exportwirtschaft auf den Weltmärkten und zum prächtigen Aufschwung beigetragen. Soweit sie Arbeitsplätze schaffen, gelten sie den Gewerkschaften nicht rundweg als Fälle fehlender Gerechtigkeit. Im Prinzip wollen auch sie die Errungenschaften der neuen deutschen Konkurrenzfähigkeit nicht wieder kaputt machen; sie wollen den Niedriglohnsektor so wenig abschaffen wie die Zeitarbeit, wenn sie Korrekturen verlangen und hier einen Mindestlohn, dort eine gleiche Bezahlung („equal pay“) beantragen.

Auf dem Höhepunkt der Finanzkrise hat die Regierung Milliardensummen locker gemacht, um Banken vor dem Zusammenbruch zu bewahren und die Rezession der mit betroffenen Restwirtschaft zu stoppen; im Frühjahr 2010 wurden dann noch einmal Riesenbeträge für die Verhinderung der Pleite von Euro-Mitgliedsstaaten und damit des Euro selbst mobilisiert. Auch diese Aktionen anerkennen die Gewerkschaften als notwendig. Auch sie wollen nicht, dass Banken, die Wirtschaft oder die Währung den Bach runtergehen. „Wir“, so sieht es die Regierung und sehen es die Gewerkschaften, brauchen all das, gesunde Banken, gutes Wachstum und eine stabile Währung, für „unser“ Leben, für Arbeitsplätze, für Löhne, für Renten usf.

Jetzt wird der für die Bankenrettung überschuldete Staatshaushalt saniert. Die Regierung tut etwas dafür, dass die internationalen Finanzanleger ihr Vertrauen in deutsche Staatsschulden nicht verlieren. Sie demonstriert ihnen, dass sie das Verhältnis von Schulden- und Wirtschaftswachstum wieder in den Griff bekommen kann, indem sie spart. Selbstverständlich spart sie an Posten, deren Schrumpfen das Wachstum der Wirtschaft möglichst nicht beschädigt – alles andere wäre kontraproduktiv. Sie spart nicht an Infrastruktur, Forschung und sonstiger Wirtschaftsförderung, sondern an Hartz-IV, am Staatszuschuss zur Renten- und Krankenkasse, an kommunalen Ausgaben; außerdem erschließt sie sich manche neue Geldquelle in Form von Steuern, Stromgebühren usw. Die Verluste der Banken werden vom Staatshaushalt übernommen und die Lasten seiner Sanierung tragen die Leute, deren Lebensunterhalt die Volkswirtschaft sowieso nur als Kostenfaktor belastet, sei´s in der Ertragsrechnung der Unternehmen, sei´s in der Logik des Staatshaushalts. Das sind die Prinzipien gesunder Staatsfinanzen, die eine Regierung nicht missachten darf, wenn sie die ganze Welt zur Finanzierung ihrer Ausgaben anzapfen will.
Und hier, bei der Gestaltung des Sparprogramms, soll jetzt ein Fall von Ungerechtigkeit vorliegen, weil die Regierung eindeutige Prioritäten setzt! Hier entdecken Gewerkschaften einen Fall unnötiger, vermeidbarer Ungerechtigkeit. Hier stößt ihnen der Klassencharakter der Politik auf, die Reiche und Arme unterschiedlich behandelt, weil sie den Erfolg ihres kapitalistischen Standort und die finanzielle Handlungsfähigkeit und Kreditwürdigkeit des staatlichen Standorthüters sichern will? Dass sie seit ewigen Zeiten Leute vertreten, die (mit und ohne Arbeit) arm sind und bleiben, gilt ihnen als normal – dass diese Leute aber genau so behandelt werden, wie es ihrer Lage als Mittel des Kapitals und Manövriermasse des Staats entspricht, das wird jetzt als Unding angeprangert.

Die Regierung beschließt aber keine vermeidbaren und unpassenden Sachen, sondern belehrt darüber, worin sie besteht – die Gerechtigkeit des Kapitalismus.

Man kann das ablehnen und bekämpfen. Dann muss man sich aber gegen das Prinzip wenden, für das diese Regierung wie jede andere steht. Man kann nicht einen starken Euro, einen gesunden Staatshaushalt, deutsche Exporterfolge, Aufschwung, Wachstum und kapitalistische Arbeitsplätze haben wollen – und sich dann beschweren, wie sie geschaffen werden und wie sie aussehen.

Warum Gewerkschaften mit windelweichen Forderungen antreten, die sich mit nichts anlegen, nichts Genaues verlangen und erkennbar konsequenzlos gemeint sind

Die Demonstration schreibt sich so schöne Dinge auf die Fahnen wie

„gute Arbeit“, „gutes Auskommen im Alter“, ein „solidarisches Gesundheitssystem“ und „Bildung, die nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängt.“

Die Forderungen verraten schon, dass jeweils das Gegenteil der Fall ist oder droht; sonst würde man es ja nicht fordern. Eine Arbeit, die den Menschen nicht gleich auffrisst und kaputt macht und die so bezahlt wird, dass man davon anständig leben kann; eine Rente, die für einen schönen Lebensabend reicht; eine bezahlbare Gesundheitsversorgung  – alles das ist für viele gar nicht und für alle nur schwer zu erreichen. Man könnte sich ja damit befassen, warum so bescheidene, selbstverständliche Ansprüche in diesem reichen Land unerfüllbar sind.  
Man kann aber auch einfach so tun, als gäbe es außer einer ungerechten Regierung keine Gründe dafür und jede Scheiße mit dem folgenlosen Wunsch nach ihrer Abwesenheit beantworten. So bestreitet man den Übeln theoretisch die systemgemäße Notwendigkeit und lässt sie praktisch erst recht gelten: Weil Arbeit immer schlechter bezahlt wird, tritt man für das vage Ideal „gute Arbeit“ ein – und lässt einfach offen, ob damit der geforderte Mindestlohn von 7,50 € gemeint ist und ob man damit zufrieden wäre oder nicht. Man klagt über prekäre Beschäftigung und Leiharbeit – und schweigt darüber, ob die Welt in Ordnung wäre, wenn Leiharbeiter, die täglich gefeuert werden können, für die Tage/Wochen/Monate, die sie in einer Firma sind, nach dem dort üblichen Tarif bezahlt werden. Man verlangt, dass „Altersarmut keine Perspektive für Millionen sein darf“, und tut mal so, als würde die in den letzten Jahren mehrfach abgesenkte Rente „gutes Auskommen im Alter“ gewährleisten, wenn nur die allerletzte Verschlechterung, die Verschiebung des Renteneintrittsalters auf 67 nicht wäre.  

So läuft die Gewerkschaftsbewegung jeder Verschlechterung der Lage der Lohnabhängigen mit dem Antrag hinterher, dass es doch lieber so schlecht bleiben sollte, wie es gestern war. Unter dem Banner der sozialen Gerechtigkeit tritt sie heute für staatliche Regelungen ein, die sie vor ein paar Jahren als Angriff auf den Sozialstaat verurteilt und genauso unentschlossen bekämpft hatte wie heute die neuerlichen Zumutungen.

So sind Gewerkschaften. Sie organisieren und begleiten die Unterordnung der Arbeiter unter alles, was Kapital und Staat auf die Tagesordnung setzen. Genau deshalb verzichten sie niemals auf den dazu passenden „Protest“.

Dagegen unser Vorschlag:

Deutschland ist nicht in Schieflage! Schlecht ist die Lage der Lohnabhängigen. Die wirtschaftliche Lage Deutschlands ist bestens.
Kann man das mal unterscheiden?

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