Uwe Timms „Morenga“

Weg vom Trott, werd’ Hottentott


„Es war nicht mehr die Frage, ob dieser Krieg Unrecht sei. Das stand für ihn inzwischen fest ...“

Ein nur auf den ersten Blick ganz normaler Satz. Wer nun meint, das Besondere läge in der implizierten Rechtfertigung des „gerechten Krieges“, liegt schief – da ist noch alles ganz normal. Aber wo es steht – nämlich im letzten Roman („Morenga“) des Uwe Timm – macht alles neu. Überdrüssig des ewiges Recht-Unrecht-Gedudels, das seine Partei samt allen Schwestern über die Menschheit seit 100 Jahren ergießt, hat dieser schreibende Moralist beschlossen, dem historischen Lockruf ganz ohne Politik zu folgen, wobei er natürlich zu seiner Abstammung steht: es geht ihm nur noch um die Darstellung der menschlichen Eigenschaften, die ein auf Seiten der Erniedrigten und Beleidigten stehender Solidaritätsheini haben muß bzw. – noch schlimmer – um die dem komplementären menschlichen Eigenschaften; die einen Erniedrigten und Beleidigten so liebenswert machen.


Hottentottentod

Für die Hottentotten (um das gleich abkürzend mitzuteilen) sieht's da bitter aus. Ihr gerechter Freiheitskampf im alten Südwest-Afrika (heute Namibia, aktuell, aktuell!) zeichnet sich insbesondere dadurch aus, daß dem beobachtenden und mitleidenden Tierarzt Gottschalk (= Uwe Timm) folgendes daran klarwerden konnte:

„Gottschalk war langsam klargeworden, worum diese Menschen kämpften: um ihr Überleben als Menschen“.

Das ist darum was Schönes, weil sich's deswegen für den konkreten Menschen viel besser krepiert, hat er doch einen echt hottentottischen Vorteil davon:

„Die Toten bei den Hottentotten sind viel lebendiger als unsere Toten. Das liegt vielleicht daran, daß die Lebenden viel mehr Zeit haben, sich ihrer zu erinnern. Möglicherweise stirbt es sich auch leichter, wenn man sich bei den anderen aufgehoben weiß, eine Zeitlang … Der Tod: eine Logik außer uns.“

Nachdem so nicht nur die Frage des Unrechts, sondern auch die des Todes erledigt ist, kann zur Kritik der Todesursache übergegangen werden: bei ihnen ist alles so sinnlos. Nicht nur können sie die Hottentotten gar nicht wirklich umbringen, sie verzetteln sich obendrein noch in dummes, dummes militärisches Ritual:

„Es war nicht dieser Widersinn, daß (Militär-)Reiter einen Schritt übten, den sie später nie gebrauchen würden, es war das Monotone, das Maschinenhafte der Bewegung. Es war ein Gefühl der Sinnlosigkeit, und diese Empfindsamkeit übertrug sich jäh …“

Tja, worauf wohl? Auf den Helden natürlich:

„... übertrug sich jäh auf die alltäglichen Dinge, das ewige sich an- und ausziehen, den Stumpfsinn, Hemden und Röcke morgens und abends auf und wieder zuzuknöpfen. Da war ein Erwachen aus Bewußtlosigkeit.“


Katharina Sinn

Die innere Leere, die dem poeta revisionista von der modernen Welt angetan wird und die er mittlerweile als das eigentlich Bedrückende und Empörende empfindet, hat freilich auch ihre guten Seiten: sie befähigt ihn dazu, die Solidarität mit den Angeschissenen dieser Welt in eine Charakterwandlung seinerseits umzumünzen:

„Da war plötzlich die Frage, warum man sich täglich neu rasierte ... Damals sei ihm etwas wesentliches aufgegangen. Und als Gottschalk nach einer kleinen Pause fragte, was, antwortete Westrup (der von Uwe Timm eingesetzte Lehrmeister des Uwe Gottschalk), sinnlos ist, wer nicht frei seine Sinnenhaftigkeit ausbilden kann (Wie das die instinktgeleiteten edlen Wilden mit dem vielen Rhythmus im Blut bekanntlich seit der Zeit der- großen Entdecker machen). DARUM ist soviel SINN auf Seiten der AUFständischen.“

Und ein Sinn, das ist's, was ein in die Welt geworfener Literat so liebt. Natürlich ist es sein Sinn, den er den Aufständischen unterjubelt: da er es mit dem Politischen nicht mehr so hat, entdeckt er an den Unterdrückten eine exquisite literarische Erfindung der Neuzeit –  die Sinnenhaftigkeit, eng verwandt der Sinnlichkeit, doch zugleich was Höheres. Diese wiederum ist – ganz im Sinne der dialektischen Auflösung der phantastischen Leichenhaftigkeit der Hottentotten ins ewige Leben – nichts anderes als Mutter Natur:

„Katharina (eine Hottentottin) verströmte einen besonderen Geruch, wie ihn Gottschalk von sich selbst in Erinnerung zu haben glaubte, wenn er als Junge vom Spielen abends nach Hause kam, ein Geruch nach Erde, Sonne und Wind. Nach Schmutz, wie seine Mutter sagte, die aber keinen Geruchssinn (!) hatte. Schmutz, das war, wie Gottschalk fand, lediglich ein Vorurteil der ZUKURZGEKOMMENEN.“

Oh, zivilisatorisch ausgeschmierter, von Ordnung und Sauberkeit drangsalierter Gefühlskrüppel, der du meinst, die Hottentotten niederstechschreiten zu können – da stehst du doch hilflos 'vor! Die Natur walzt alles nieder, Einpassung ist die einzige Rettung und Lösung aller Probleme. Hilf du der Natur –

„Vielleicht wird es einmal selbstverständlich, jeder Kreatur zu helfen und ebenso den Bäumen, Büschen und Blumen, ja sogar der Erde, der Landschaft.“ –

so wird sie vielleicht auch dir helfen:

„Er wies auf die gegenseitige Hilfe in der Natur als ergänzendes Prinzip hin. Nicht allein der Kampf ums Dasein (bei den Hottentotten als Kampf ums Wegsein auftretend) sei bestimmend, sondern gleichermassen die gegenseitige Hilfe innerhalb der ARTEN.“

Gottschalk macht übrigens schon mal ein Schrittchen in die richtige Richtung: er fertigt einer kaubehinderten Kuh ein Gebiß an, von dem der Naturbursch Morenga (Hottentottenanführer) so begeistert ist, daß er es die ganze Zeit mit sich herumschleppt.


Das Gesamtkunstwerk

Die ganze Kunst besteht darin, sich gläubig diesem wundersamen Mechanismus anzuvertrauen, dann ist man auch ein Künstler. Das beweist Gottschalk, nach Augsburg zurückgekehrt, wenn er im Epilog der Natur aufgeht:

„Ballonfahrt ist Kunst, ein Kunstwerk, in dem der Ballonfahrer, der Ballon, Wind und Wetter, aber auch die Landschaft zusammenfinden.“

Auf dieser Stufe angelangt, kann Timm es sich leisten, mit seinen früheren Kalauern zu kokettieren :

„Nichts wird ausgebeutet – wenn man einmal vom Gas absieht.“

Sieh nur kräftig ab, du Schwachkopf.

 

aus: MSZ 28 – April 1979

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