Student '78:

Und sie studieren doch!

Daß der Konkurrenzkampf in unserer Gesellschaft kein Deckchensticken ist, weiß auch der dümmste Student und richtet sich damit ein. Wenn ein Sperling aus Göttingen vom Dach pfeift: „Studieren ist für junge Leute lebensgefährlich“, dann geht kein Student dem hinterhältig freundlichen Ratschlag dieses Professors auf den Leim, sich noch einmal zu testen, ob er für's Studieren strapazierfähig genug ist oder es lieber gleich stecken soll, sondern legt umso rascher los, was das Zeug hält. – Und die hellen Köpfe vom RCDS geben auch gleich an, wozu das prinzipiell gut sein soll:

„… für die berufliche und soziale Zukunft des Einzelnen, ... für eine funktionsfähige Demokratie, für eine hochentwickelte Industriegesellschaft.“

Daß sich qua Studium jeder irgendeinen Platz erkämpft (und sei es auf der Couch des Psychologen Sperling), der ihm darum auch gebührt, macht diese Welt ja gerade zur besten aller möglichen. Kein Wunder also, daß zum Studieren die ewige Klage gehört, die eigene Leistung komme nicht so richtig zum Zuge, um die Stellung innerhalb der geistigen Elite der Nation zu ergattern, die man angepeilt hat. Da alle Studenten diesen heuchlerischen Trick, sich gebührend in Szene zu setzen, kennen und gegen ihre Kommilitonen anwenden, nimmt natürlich keiner von ihnen solche Klagen ernst; am wenigsten die Staatsmänner, die im Gegenteil am studentischen Gezeter „mit Genugtuung“ registrieren, daß an deutschen Hochschulen nicht gekleckert, sondern rangeklotzt wird. Politiker wissen eben das Interesse der Studenten zu schätzen, sich für die intellektuellen Führungsaufgaben des Staates die nötige Qualifikation abzuzwingen. So ist es auch nicht zufällig, wenn solch ein Lamento, wie schwer es die Studenten hätten, manchem, der für unseren Staat die Bürde der Verantwortung schleppt, derart an den Nerv geht, daß er laut zu denken beginnt, den Studenten gehe es wohl immer noch „zu gut“. Daß sich das unzufriedene Jammern der Studenten über „steigende Ausbildungsanforderungen“ „verschärfte Auslese“ etc. als Reflexion auf's eigene Vorwärtskommen vorträgt, wissen ihm staatsbesessene Kritiker genüßlich anzukreiden. Daß es sich aber selber die geltend gemachte materielle Not nicht glaubt, wenn der Student mit ihm sein Weiterkommen kalkuliert, sondern das Interesse der Studenten verrät, sich im Studium und später im Beruf die materielle Basis solcher Kalkulation zu erhalten, das ist der Schluß, den wir in gewohnt schlichter Manier ziehen.


Klassenanalytisches Rollenverständnis

Dank dieser „alten Masche“ kommt wieder einmal heraus, daß Studenten zum Rest der arbeitenden Menschheit in dem unscheinbaren Gegensatz stehen, ihr weiteres Leben nicht unter dem Zwang zu fristen, ihre Existenz nicht erhalten zu können, sondern mit wohldotierten Positionen rechnen zu können, für die qualifiziert zu sein sie schon als bloße Anwärter dadurch andeuten, wie gewieft sie ihre Studiensorgen zu einem effektiveren Ausbildungsablauf einzuhängen wissen, der sie im Staat unentbehrlich machen soll. –

Um wieviel aufgeschlossener sind gegenüber solch düsteren Ansichten zur Parteilichkeit bürgerlicher Intelligenz die „klassenanalytischen Überlegungen zur Intelligenz“, die sich die um’s Schicksal aller Menschen besorgten deutschen Kommunisten „Zur Auseinandersetzung mit den MG“ („Rote Blätter“ 9/78) machen. Der „Student '78'“ den die Staatskommunisten zum Partner der Zukunft gewinnen wollen, verdankt diese perspektivreiche Existenz der interessierten Abstraktion von seinem staatlich honorierten tatsächlichen Interesse, seine von materiellen Zwängen freie Stellung dazu zu benutzen, den materiellen Produzenten freiweg die Zwangsläufigkeiten ihrer gesellschaftlichen Lage vorzuführen.

Gottlob sind „der Intelligenz besondere ideologiebildende Funktionen gegenüber den Arbeitern“ lediglich „zugedacht“ (16), für die sich die Akademiker dann doch wohl zu schade gewesen sein müssen, wodurch allerdings „die soziale Distanz der Intelligenz zu den materiellen Produzenten“ nicht größer, sondern „zusehends geringer“ (16) werden soll.

Die Freunde der studierenden Jugend, die an dieser bemängeln, man (wer eigentlich?) habe ihr etwas „zugedacht“, sind nur selber scharf auf deren „Rollenverständnis“, nur daß es sich halt auf die Erwartungen der Revi-Soziologen auszurichten hätte. Die Gehirnwäscher vom materialistisch gesonnenen Studentenbund Spartakus schlagen sich also mit Bewußtseinsproblemen herum, die ihre Adressaten aus wohlerwogenen materiellen Gründen mit sich selber als Intellektuellen gar nicht haben.

Frei erfunden ist das ,,Gefühl der Sinnlosigkeit“, das den „Studenten '78“ mitten im schönsten „Traum vom schönen Studium“ (rote blätter 10/78, S. 24) überkommen habe, weil ihm „völlig unklar“ sei, „was eigentlich für eine spätere Berufstätigkeit in den Bereich (seines) Fachs an Anforderungen erfüllt werden soll“ (ib.). Natürlich hat jeder Student die Studienanforderungen eingeplant. So macht er sich gar nicht erst die „Illusionen“, die die Revis an ihm brauchen („Reformillusionen endgültig(!) zerstört“) (28), um ihn auf ihre saubere demokratische Alternative für ein sinnvolles Berufsleben hinstoßen zu können.

Der „Student '78“, den sich die „roten blätter“ zu diesem Zweck konstruiert haben, soll wahrhaftig so bescheuert sein, sich an deren Studientips „von A bis Z“ aufzugeilen, die ihm unterm Buchstaben D (wie Deutscher Akademischer Auslandsdienst, DAAD) verheißen:

„Ein Studium im Ausland hebt die Qualifikation, bewahrt vor Akademikerarbeitslosigkeit.“ (42).

Der reale Student '78 steht solchen goldenen Regeln zum Aufbau eines deutschen Akademikerparadieses höchst gleichgültig gegenüber – nicht die Arbeitslosigkeit kratzt ihn, der im DAAD allenfalls seine Chance nutzt, falls er es nicht längst getan hat, indem er im Lande geblieben ist, um schneller fertig zu werden als seine austauschseligen Kommilitonen vom MSB. Da diese in Moskau ihrer eigenen Verlautbarung nach an der

„Herausbildung eines sogenannten »dynamischen Stereotyps«, d.h. ... einer Einteilung des Tagesablaufs in regelmäßig einzuhaltende Phasen für Arbeit, Freizeit, Schlafen usw. ...“ (33)

arbeiten, hat er wohl auch gewisse Aussichten darauf.

Schließlich hat er nicht das revisionistische Problem, seinem Studium über die von ihm wegen seiner Karriere willig akzeptierten Studienauflagen hinaus noch den höheren Sinn eines Opfers beizulegen, das diesen Staat beschämen müsse, weil es für ihn eigentlich zu schade sei. Ein solches Exemplar verrückten Studententums ist der heutige Student nicht. Er schreibt daher auch kein „Tagebuch eines Erstsemesters“ (29), das nach monatelang gewälzten Zweifeln am allgemeinen Sinn des gerade absolvierten Studiums („Ich fühle mich einfach noch nicht als Studentin“) zu dem prächtigen Bekenntnissatz vom 14.2.78 findet:

„Es ist kaum zu glauben (hm!), aber inzwischen fühle ich mich als Studentin! Und die Angriffe auf die studentische Selbstverwaltung und deren Rechte, die Regelstudienzeit, die Berufsverbote, die Kürzung der BAFöG-Sätze, all das sind Probleme, die auch mich betreffen ...“ (ib.)

(Daschauher! „toi, toi, toi, Angelika!“)


Die Stimme der Freiheit

Der normale Student studiert indes nicht nur erfolgreich, derweil sich seine verrückten Fürsprecher dazu gratulieren, wie mustergültig sie bereits verkörpern, was sie ihm nur als Wunschbild, wie sie auch ihn gern hätten, entgegenhalten können – er hat unterdessen Zeit, zum Surfen oder „mit dem Fahrrad an die Wümme“ zu fahren. Zwar könnte er dort auf die „Bremer Sportler“ stoßen, die „bei (sich) im Bereich ne Menge Aktionen initiiert (haben): Sporthallenbesetzung,... Fahrraddemo...“ (41), aber da er deren „anstrengendes Semester“ ja ohnehin nicht hinter sich hat, wird er sich sein Freizeitvergnügen von denen schon gar nicht stören lassen, wenn sie „über private Probleme und Interessen schnacken“ und sich bestätigen, daß diese „wiederum mit der Politik ... zusammenhängen.“ („Man diskutiert fast automatisch wie es politisch weitergehen soll“) (ib.)

Ihm ist sein Studium zu wichtig, als daß er dessen „Freiheiten“ nicht auch in dessen Geist zu nutzen gedächte –  im privaten Engagement für den hochgeschätzten Zweck der gesellschaftlichen Aufgabe, auf die er sich vorbereitet. Bei staatlich verfügten Beschneidungen der „Studienfreiheit“ sind dem realitätsbewußten Studenten '78 nämlich die Studieninhalte sowieso gleichgültig – als wissenschaftliche Grundlage seines künftigen Berufs werden sie vom Staat eh nicht angetastet und sind dem Studenten so nur recht –, ihn juckt die persönliche Sorge, vielleicht weniger als bisher selbständig beweisen zu können, wie ernst es ihm als politisch verantwortungsbewußten Menschen mit seinem Einsatz für diesen Staat ist. Als beflissener Leser staatsbürgerlicher Bildungsmagazine gewohnt, seine Freizeit mit dem Ausschneiden und Sortieren von ZEIT- und SPIEGEL-Artikeln zu verkürzen, empört ihn „übertriebenes“ Mißtrauen in seine charakterliche Eignung zum Staatsagenten. Dabei demonstriert er mit seiner Erbitterung lediglich, wie sehr er sich selber mißtraut und seine eigenen Unkenrufe als Stimme der „Freiheit“ einzusetzen weiß.

Solch erfreuliche Eigenverantwortung zeigt der „studiosus“ erst recht, wo er die Seite seiner menschlich – allzu menschlichen Bedürfnisse studentisch herauskehrt und Veranstaltungen organisiert, bei denen sich der Hauptspaß darin erschöpft, zu zeigen, wie souverän man eigene kleine Schwachheiten durchschaut und zu handhaben versteht: kein studentisches Vergnügen, das nicht auf die Distanzierung angewiesen wäre, was für ganz schön verrückte Hühner doch alle Beteiligten sein könnten.

Partielle pekuniäre Einschränkungen, wie sie ein Studium zeitweilig mit sich bringt, reichen an solche bornierten Genüsse gar nicht erst heran. Freilich lassen sich diese auf gesunderer finanzieller Basis unablässig produzieren, weswegen Studenten ihre „Lehrjahre“ gern schnell hinter sich bringen. Andererseits erinnern sie sich später noch ganz ehrlich, „seinerzeit“ schon zu irren Geschichten aufgelegt gewesen zu sein. Sie unterschlagen dabei nur die ihnen wohl selbstverständliche Kleinigkeit, daß sie schon damals nichts zu lachen gehabt hätten ohne die Gewißheit, als akademisch qualifiziertes Personal jederzeit ohne Not der Gesellschaft ihre Dienste verkaufen zu können. – So viel zur Ideologie der Gefährdung des „akademischen Proletariats“ durch Arbeitslosigkeit.


Kopf stört Denken

Obgleich nicht die letzte studentische Klage der „Wissensfülle“ des Studiums gilt, muß es mit dem Hinweis auf den ebenso idiotischen wie parteilichen Charakter solcher „Kritik“ sein Bewenden haben. Daß es schließlich nicht unsere Aufgabe ist, jedem phantastischen Winkelzug studentischer Interessenartikulation nachzuschnüffeln, verdankt sich der Erkenntnis, daß sich hier wie bei allen bisherigen „Problemen“ der Studenten das eine reaktionäre Interesse vorträgt, auf die der vornehmen Aufgabe, die Zwangsgesetzlichkeiten dieser Gesellschaft geistig durchzusetzen, entsprechenden gesellschaftlichen Gratifikationen zu pochen: Wo die „Fülle“ des Wissensstoffs das erklärte Problem ausmacht, ist es den Herren Studenten um größere Bequemlichkeit bei dessen Aneignung zu tun. Der Empfehlung, es doch gleich zu lassen, da Lernen nun mal ein Denkvorgang und kein Vergnügen ist, werden sie gewiß nicht nachkommen, weil sie als Intelligenzler ohne Wissen im Kopf natürlich mit dem Schlimmsten – manueller Arbeit – rechnen müßten.

Daß der Kopf beim Denken stört, ist in der Tat ein Ärgernis, das für jemanden typisch ist, den das, was er beim Nachdenken über die Gesellschaft denkt, nicht stört. In ihrer Verachtung gesellschaftlichen Wissens plädieren dessen Träger dafür, daß ihnen die „Last“ ihres ideologischen Denkens erspart bleibt, denen jedoch, die ohnehin „nur“ exekutieren, was die gesellschaftlichen Sach- zwängen dienstbaren Ungeister an notwendigen Aufgaben für sie ausgebrütet haben, die Lust zu arbeiten nicht genommen wird.

Auf den Gedanken, solche „Sorgen und Nöte“ mit den Studenten ’78 zu teilen, konnten wir also einfach nicht kommen, weil diese sie partout nicht mit jemanden teilen wollen. –

 

aus: MSZ 25 – Oktober 1978

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