Am Grabe Aldo Moros:

Was soll aus Italien werden?


Daß die Kunst der bürgerlichen Politik viel mit menschlich eindrucksvoll vorgetragener Heuchelei zu tun hat, exerzieren vor, an und um das Grab des ermordeten DC-Präsidenten Italiens Staatsmänner unter fachkundiger Anleitung des Papstes vor, wobei die außeritalienische Journaille ihren fachkundig-interessierten Nekrolog auf Moro zu einer Leichenbeschau des ganzen Staatswesens jenseits der Alpen ausbaut.

 

Bergauf nach Deutschland oder „Bachab nach Bangla-Desh“

Hier in Deutschland war verständlicherweise die Neugier groß, wie lebendig der Geist der Leiche –

„Wir müssen viele Schläge einstecken, doch wir werden am Ende siegreich sein. Die Demokratie jedenfalls darf in diesem Kampf nicht verlorengehen“ –

im kranken Nachbarn haust. Zuversicht hinsichtlich des Befindens des Patienten sei angebracht, meinten die einen, schließlich sei dessen „Germanisierung“ unverkennbar. So wird der „verwundeten Schönheit“ (Bunte) dazu gratuliert, „die Herausforderung tapfer durchgestanden“ (SZ), zu haben, wobei sich allerdings Tadel nicht gänzlich unterdrücken läßt: bedurfte es doch des heilsamen Schocks dieser Gewalttat, damit „die Italiener sich selbst ein gutes Stück näherkamen“ (SZ), indem sie ihre „italienische Mentalität“ ablegten. Die „Fröhlichkeit“ ist ihnen abhanden gekommen, so daß sie sich aus Angst in ihren Häusern verkriechen und nur noch zusammentreffen, um über Politik zu diskutieren. Mit dem Schlendrian ist es vorbei, weil „jener oft zitierten Fähigkeit des arrangiarsi in allen Lebenslagen“ (SZ) durch die Gangsterbande der Roten Brigaden der Todesstoß versetzt wurde. Und so kann man mit Schadenfreude bemerken, daß die Italiener, die „wohl zu recht von sich sagen, daß sie das menschlichste Volk in Europa sind“, am toten Moro gelernt haben, daß die Deutschen keine Unmenschen sind, sondern gerade im Namen der Menschlichkeit „Entweder-Oder-Entscheidungen“ fällen, zu denen sich die Südländer aufgrund ihrer „Flexibilität“ bisher nie durchringen konnten. Weil mittlerweile jeder Italiener ein Moro (bzw. Berlinguer) ist, der den Staat nicht länger – wie seit der Renaissance dort üblich – als „Fremdherrschaft“ beargwöhnt, sondern von ihm schärfere Gesetze fordert, kann man es hier auch kaum mehr abwarten, bis sich die italienische öffentliche Meinung ganz zu uns emporgehoben hat, so daß nach dem „Prinzip freiheitlicher Lebensordnung den Intentionen der Prozeß“ (SZ) gemacht wird.

Vor dieser optimistischen Einschätzung der Entwicklung Italiens warnen skeptischere Beobachter. Nach ihrer Ansicht steckt das Land zu tief im Dreck:

„Das ungeniert zur Schau gestellte Wohlleben der Reichen, die unausgeglichene wirtschaftliche Struktur des Landes, die ungebrochene Tradition militanter Staatsfeindlichkeit.
So schifften sich, in Deutschland denn doch fast undenkbar, vergangenen Sommer in Genua 300 Italiener auf dem Luxusdampfer »Eugenio C.« zu einer 74-Tage-Kreuzfahrt rund um die Welt ein. Preis pro Person: bis 50.000 Mark.“ (Spiegel)

Zu tief verwurzelt ist dort die gleichgültige Stellung der Bürger zum Staat, kein Wunder, wenn nicht einmal die Politiker und ihre Familien sich zu Opfern bereit finden:

„In Rachegeist-Manier verbat sich seine Familie gegenüber Staat und Partei jede öffentliche Zeremonie.“

Und weil Italien ein einziger Saustall ist, hat der Terror dort auch nicht wie bei uns „intellektuelle“, sondern „objektive soziale Ursachen“, so daß der 9. Mai nicht „der Tag, an dem alles anders wurde“ (FR), sondern „eine Tragödie“ ist, nach der Italien in asiatische Zustände abzudriften droht.


Solidarität des Papstes mit der Nation und der PCI mit der DC

Je nach Standpunkt dient auch in Italien die Leiche zu den unterschiedlichsten Prophezeiungen, wobei man sich hier allerdings darin einig ist, daß sie vor allem dazu gut ist, den Nationalismus der Italiener zu kräftigen, der keineswegs im Widerspruch zu ihrer Melder keineswegs im Widerspruch zu ihrer Mentalität steht. So wird der gehässige Vorwurf des „Spiegel“, der Terrorismus gehöre zu Italien wie die Verschmutzung zu dem einst glasklaren Adriawasser, vom Sozialistenchef Craxi zurückgegeben, der im übrigen ebenso „düster“ in die Zukunft blickt. Die Terroristen kamen aus Deutschland (oder aus Südamerika), weil die italienischen Terroristen Italiener sind, denen der menschliche Charakter ihres Volks kein Geheimnis ist:

„Eine italienische Terrorbande hätte den entscheidenden Fehler, Moro zu erschießen, nie begangen. Damit hat sie sich um den politischen Triumph gebracht, den sie erzielt hätte, wenn Moro freigelassen worden wäre.“

Es stand also fest, daß „Italien den letzten Wunsch des Toten nicht erfüllen konnte“ (SZ), zumal er sich durch die vorangegangenen 16 bereits gehörig unbeliebt gemacht hatte. So erhob sich der Papst wieder von den Knien und bezeugte der Nation seine „besondere Verbundenheit“, indem er die Seelenmesse für den Verstorbenen zelebrierte, an der über 100 ausländische Delegationen und Repräsentanten des öffentlichen Lebens, darunter auch ein Vogel aus Deutschland, teilnahmen, so daß sich

„der Trauerakt ... strikt im kirchlichen Rahmen hielt, so wie es Moro verlangt hatte.“ (SZ)

Die Italiener folgten den Aufrufen der DC:

„Aldo Moro ist ermordet worden. In unseren Herzen lebt sein Glaube an die Freiheit.“

indem sie auf Kundgebungen, die „zumeist in Kranzniederlegungen gipfelten“, dem Staat in seiner schweren Stunde beistanden. Ebenso zeitigte die monatelange Propaganda der PCI zur Stärkung des Staats auch jetzt wieder ihre Früchte, so daß „mehrere Lohnstreiks spontan abgebrochen wurden“, weil nun ein zweistündiger Generalstreik „zum Zeichen des Protests gegen den Terror“ anstand.

Weil auch die Regionalwahlen ganz in diesem Zeichen standen, profitierte die DC. Dies nicht nur deshalb, weil sie ihren Vorsitzenden dem Bestand des Staates opferte (Moro-Bonus) und sie in ihren Wahlkundgebungen, die nach Absprachen zwischen PC und DC ganz im Geist der Solidarität abgehalten wurden, die Roten Brigaden als Abkömmlinge der PCI entlarvte, sondern weil sie die Partei ist, von der den Wählern bereits bekannt war, daß sie ihre Regierungsgewalt zu nichts anderem als dem Erhalt des bestehenden Staates einsetzt, mit und ohne Moro.

Die PCI reagierte auf den 10 %-igen Stimmenverlust (den die SZ hocherfreut als „Redimensionierung der PCI“ zur Kenntnis nahm), den sie mit ihrer Politik, die Staatsprinzipien kompromißlos zu vertreten, um einen besseren Staat zu verwirklichen, eingehandelt hatte, indem sie als erstes die Wahl für politisch bedeutungslos erklärte. Sodann verkündete sie den Wählern der DC, daß sie eigentlich kommunistisch gewählt hätten:

„Es ist evident, daß die Wahl eine Einschätzung und Billigung der von der DC-Führung eingenommenen Haltung der Festigkeit darstellt und somit einen Hinweis für die Beharrung auf der Linie der demokratischen Solidarität enthält.“

Weil die PCI den italienischen Staat in aller Selbstlosigkeit auch dann noch stärken will, wenn auf „Massenversammlungen Protest- und Drohrufe gegen die Kommunisten“ (SZ) laut werden, appelliert sie an die DC, „die Einheit gegen die Angriffe auf den italienischen Staat“ (Berlinguer) zu wahren. Die PCI ist also mit der DC solidarisch:

„Die Kommunisten neigen ihre Fahnen in Erinnerung an Aldo Moro und drücken erschüttert der Familie und der Christlich-Demokratischen Partei ihre Solidarität aus“,

weil sie sich von ihrer kompromißlosen Anti-Terror-Politik mehr Bereitschaft seitens der DC für den historischen Kompromiß erhofft. So sind mit ihren Stimmen die neuen „Ermächtigungsgesetze“ verabschiedet worden, die auch kritischen deutschen Augen standhalten:

„Sie erlauben die Festnahme bei bloßem Verdacht und das Polizeiverhör ohne Anwesenheit eines Verteidigers bis zu 4 Tagen.“ (Stern)

Im übrigen aber benutzt sie die Suche nach jener „geheimnisvollen Persönlichkeit“ (Berlinguer), die die Fahndung nach den Entführern Moros bisher zu vereiteln verstand, um zur allgemeinen Hätz nach allen ihren linken Gegnern zu blasen.

So ist zum Schluß klar, daß natürlich beiden interessierten deutschen Begutachtern der italienischen Misere recht zu geben ist: In Italien bleibt alles beim alten. Die Wähler haben (unter solidarischer Mithilfe der PCI) mit ihrer Stärkung der DC dafür gesorgt, daß ihnen ihre „Fähigkeit zum arrangiarsi“ nicht abhanden kommt. Doch damit auch alles beim alten bleibt, sind die Italiener aktiv geworden – und das liegt nun wirklich nicht in ihrer Mentalität.

 

aus: MSZ 23 – Mai 1978

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