Westberliner Kampagne: Ein Posten für W. F. Haug!

Mit der Dialektik eine Didaktik für jede Wissenschaft


Es scheint tatsächlich an der Berliner Luft zu liegen, daß es einen so „international renommierten“ Wissenschaftler wie Wolfgang Fritz Haug mit aller Macht dorthin zieht, daß er nicht länger im nur meerumschlungenen Dänemark versauern will. Sein sehnlicher Wunsch verdankt sich allerdings nicht der Versicherung der Berliner Stadtverwaltung, man habe immer geöffnet, sondern ein echtes Anliegen, welches zugleich einen moralischen Anrechtsschein ausfüllt, ist die materielle Basis seines Begehrens:

W.F. Haug, „einer der begabtesten marxistischen Theoretiker Deutschlands“, hatte früher am FB 11 der Berliner Uni ein Grundstudium durchgesetzt, das sich ausschließlich mit dem Buch „Das Kapital“, dem Werk eines ebenfalls sehr begabten und international renommierten Theoretikers, befaßte. Den berechtigten Lohn für die gute Tat, die Berufung auf den Lehrstuhl für Wissenschaftstheorie (die ehemalige Feyerabendstelle), verweigert ihm nun Senator Löffler. Dies ist ein „politischer Akt“ gegen einen Mann mit hohen, wissenschaftlichen Fähigkeiten, also ein „ungesetzliches Vorgehens“, zusammengefaßt: ein klarer Fall von „indirektem Berufsverbot“. Die Berechtigung Haugs, diesen Lehrstuhl zu ergattern, ist erwiesen: 2000 Studenten aus 48 Fachbereichen haben seinen Grundkurs besucht, hunderte stehen auf der Warteliste. Dieser zusammengewürfelte Haufen an gesellschaftlich interessierten jungen Menschen ist wiederum nur Indiz dafür, daß ohne Kenntnis des Kritikers des Frühkapitalismus kein wirklicher Fortschritt in den Wissenschaften stattfinden kann:

„Ökonomen, Historiker, Psychologen, ... Religionswissenschaftler und andere Ideologen, aber auch die Linguisten und Psychoanalytiker, all diese Spezialisten müssen wissen, daß sie keine wahrhaft wissenschaftlichen Erkenntnisse in ihren Spezialgebieten hervorbringen können, wenn sie nicht erkennen, daß sie nicht an der marxschen Theorie vorbeigehen können.“

Man sollte es Haug hoch anrechnen, daß es ihm gelang, die jungen Menschen dafür zu gewinnen, trotz aller äußerer Beschränkungen des Studiums am Wissenschaftsbetrieb sich aktiv zu beteiligen und dafür zu sorgen, daß er um neue, interessante Aspekte bereichert wird. Der „zweigleisige Grundkurs“ dient zum einen dem Soziologieexamen und räumt zum anderen

„trotz Bafög, Regelstudienzeit, Zwangsexmatrikulation die Möglichkeit ein, am Anfang des Studiums mit der marxschen Methode ein wissenschaftliches Fundament zu vermitteln, das sie (die Studenten) befähigt, in ihren jeweiligen Fachdisziplinen diese Erkenntnisse im Interesse der Weiterentwicklung der jeweiligen Wissenschaft zu verwenden“ ... um so „... selber ihr Studium besser bewältigen zu können.“

Da sie ihr Studium in 48 verschiedenen Fachbereichen absolvieren, wäre es „geradezu“ wissenschaftsfeindlich, das „Kapital“ zu verabsolutieren, d.h. die vielen schönen, von Haug entdeckten Aspekte und methodischen Instrumente dieses Werks zu verschenken und sich auf das zu beschränken, was der alte Marx eigentlich erklären wollte:

„Er (der Grundkurs) ist nicht hauptsächlich Kapitalkurs. Sondern am Kapital werden exemplarisch die grundlegenden und allgemeinen Wissenschaftsaspekte studiert.“
„Mit der Sache und ihrer Analyse werden zugleich die Begriffsinstrumente (– „wie z.B. Bestimmung, Form Formbest.–“) entwickelt. .. Und man wird sehen, daß alle wissenschaftslogischen zentralen Begriffe in diesem Anfang vorkommen.“

Gerade am Anfang des „Kapital“ stellt sich nämlich leicht das Mißverständnis ein, ausgehend von der Ware die Gesetze der kapitalistischen Gesellschaft entwickeln zu wollen. Darum ist der Anfang einerseits ein „Gemeinplatz“, den jedermann ohne wissenschaftliche Anstrengung einsehen kann, andrerseits aber „schwierig“, weil man ja mit diesem „Gemeinplatz“ was ganz bestimmtes anstellen muß. Wenn man mit Haug richtig an das „Kapital“ herangeht, gelangt man nicht nur in die höheren Sphären der Wissenschaftstheorie –

„Die am Anfang gewonnenen methodologischen usw. Einsichten werden als Instrumente wirksam ...“

– sondern entledigt sich auch elegant dieses „Wusts von Text“, der – naiv gelesen – zur Vewirrung des wissenschaftlichen Nachwuchses beitragen könnte:

„ ... die das Weiterlesen beschleunigen.“

Um den letzten Zweifel auszuräumen, wendet Haug sich an die Stadtväter der Frontstadt und beteuert eindringlich, daß bei ihm auch die schärfste Durchleuchtung nur einen kristallklaren Charakter hervorbringen wird; und selbst wenn man ihn für einen Kommunisten halten könnte, weil er sich Marxist nennt, kann daran nichts Schlimmes sein, denn letztlich ist ein Kommunist nichts anderes als ein – Kommunalpolitiker:

„Demokratisch ist der Anspruch, indem er auf gleiche Vernunft in allen baut, ohne Sonderwissen und ohne jede Dunkelheit operiert. Insofern Gegenstand und Zweck das Soziale ist, ist er sozialistisch, insofern das angestrebte Wissen die Grundlegung der gemeinsamen (Kommunen) Sache betrifft, ist er kommunistisch zu nennen.“ (40)

Nicht nur versichert Haug der Obrigkeit, daß bei ihm Leute besser als sonstwo in der soziologischen Kunst sich üben, alles irgendwie mit der Gesellschaft in Beziehung zu bringen, sie also als Ansatzpunkt für interessante systematisierende Betrachtungsweisen zu gebrauchen, sondern er führt den Überlegenheitsbeweis seiner Wissenschaftsvariante gleich noch weiter ins Gebiet des Lehrens: unwiderlegbar machen bei ihm die Leute mit Begeisterung mit, er hat sie fest im Griff, und zwar weil seine Dialektik eine besonders wirkungsvolle Didaktik ermögliche, die das spontane Interesse seiner Hörer wohlwollend aufnehme und in die richtigen Bahnen lenke:

„Aus der Einsicht in die Dialektik der Kritik der Politischen Ökonomie läßt sich eine Didaktik entwickeln ... die bei den Teilnehmern methodisch selbständiges Arbeiten auch in ihrem spezifischen Fachgebiet fördert.“
„Kleine Gruppen ermöglichen es den Teilnehmern, ihre Probleme zu artikulieren. Obligatorische schriftliche Arbeiten gewöhnen an regelmäßige Produktion.“

Die Kampagne gegen die Berufsverbote findet also in Berlin alle klimatischen Bedingungen vor, die in ihr schlummernden Sumpfblüten kräftig hervorzutreiben. Der Berufungsstreit von links hängt sich bedingungslos an den Staat an, indem er ihm den erbitterten Vorwurf macht, welch großartiges Talent er hier verschleudere. Die studentische Soziologenbrut, der es unter ihrem Oberbrüter so richtig gemütlich war, jammert lauthals über die Ungerechtigkeit und Borniertheit ihres Staats und stürzt sich Hals über Kopf in eine Gegenlaudatio: wie international bekannt und anerkannt ihr Crack sei, welch’ originelle Gedanken er habe und welch’ gutes Verhältnis zu seinen Studenten, wie unentfremdet es in seiner Vorlesung zugehe und wie nützlich seine Anregungen für die Zurichtung im jeweiligen Spezialfach seien. Und dies angesichts dessen, daß der Staat nur wieder einmal seine Bereitschaft zeigt, alles was nach Kommunismus aussieht (und seien es auch nur 2000 Studenten in einer Vorlesung, wo häufig der Name Marx fällt), sofort zu unterdrücken, wobei er hier noch die bequeme Möglichkeit hat, dies dadurch zu erreichen, daß er etwas einfach nicht tut („indirektes Berufsverbot“).

Insofern hier also die bürgerliche Posse eines Streits um die wohldotierten Posten der Staatsagitation stattfindet, ausgestattet mit einem linken Schelm und murrender Volksmenge, stehen wir nicht an, Wolfgang Fritz Haug einen gewöhnlichen Pöstchenjäger und die ihn unterstützenden Studenten lammfromme Staatsidealisten zu nennen.

 

aus: MSZ 18 – Juli 1977

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