Die politische Antwort auf Harrisburg:

Das kalkulierte Risiko


Seit dem Beinahe-GAU im Reaktor II des Kernkraftwerks von Three Mile Island wissen alle, was sie vorher auch wußten: die rentable Produktion von Energie in solchen Geräten geht über Leichen. Jetzt wird in Harrisburg und anderswo ausgerechnet, wann die ersten Strahlenopfer nach dem Reaktorunfall in die Statistik eingehen werden. Beim Gorleben-Hearing doziert ein gewisser Stoll vom Reaktorbrennstoff-Werk Alkem, daß man solche Ereignisse wie in Three Miles Island, „die einmal in 10 Millionen Jahren vorkommen können die also sozusagen (!) nicht (!) vorkommen“, aufmerksam studieren muß. Warum? – „Weil man natürlich sicher sein will, daß in der Auslegung auch diese sehr, sehr unwahrscheinlichen Grenzfälle nicht zu katastrophalen Folgen führen“ (DIE ZEIT). In Harrisburg ist das „Unmögliche“ Wirklichkeit geworden und bislang sieht diese deswegen noch nicht schlimmer aus, „weil wir einfach Glück (!) hatten“ (Harald Denton, der ansonsten log, daß sich die Balken bogen). Die Sicherheitsphilosophie dieser Tage geht von der Tatsache aus, daß und welche Gefahr von den Atommeilern ausgeht. Das wahrscheinlichkeitstheoretische Maß für ihr Eintreten dient längst nicht mehr der Leugnung von Risiken. Heute wird für die Inkaufnahme der Unsicherheit agitiert. Dafür freilich ist er immer noch gut, der Hinweis auf den Blitzschlag und seine Opfer, der mit dem Zufall eines Naturereignisses die Notwendigkeit der Gefahr von Reaktoren bestreitet, die nach den weniger zufälligen Konstruktionsplänen in die Welt gesetzt werden.


Der Mensch, ein Trottel und Versager

hieß deshalb auch so ziemlich einhellig die Quintessenz aller Besinnungsaufsätze zum Unfallhergang, die es bei ihrer Ergründung der Ursachen nur auf eines abgesehen hatten: subalterne Schuldige ausfindig zu machen. Noch jeder Kommentar des Geschehens, sofern er sich nicht gleich in die Höhen von Tragik, Schuld und Lebenssinn emporschwang, arbeitet sich mit der Aufzählung technischer Defekte – „Fehler Nr. 1: Wasserpumpe versagt“, „eine weitere Panne hat zur Folge, daß das Ventil nicht wieder schließt“ (Stern) – zu dem Risikofaktor vor, der von allen streitenden Parteien gleichermaßen anerkannt wird:

„Risikountersuchungen sind selbst mit dem Risiko behaftet, daß ihre Verfasser die eine oder andere mögliche Unfallursache vergessen. Schwerer wiegt, daß die Dummheiten, die Menschen aus Angst, Schlamperei oder schlichter Trotteligkeit zuweilen machen, prinzipiell nicht abschätzbar sind und darum auch gar nicht erst einen Platz im »Fehlerbaum« bekommen.“ (DIE ZEIT)

Der gekonnte Übergang von den Risiken der Kernreaktoren zu den Risiken bei der Untersuchung ihrer Risiken und schließlich zum Risiko „Mensch“ liefert ganz nebenbei einen weiteren Beweis dafür, daß es sich bei der brutalen Kalkulation mit der Unsicherheit in der oben skizzierten „Sicherheitsphilosophie“ nicht einfach um Fehlschlüsse oder Irrtümer handelt, an deren Korrektur einem spätestens seit, ihrer praktischen Widerlegung durch den Fast-GAU gelegen wäre. Daß es sich um bewußt eingesetzte Dummheiten für das „JA zur Kernenergie“ handelt, belegt die Fortsetzung der Sicherheitsdiskussion und ihre Bereicherung um einen neuen, angeblich alles entscheidenden Faktor, auch wenn die praktischen Maßnahmen der Nuclear Reactor Commission (NRC) deutlich machen, daß es sich hierbei um eine blanke Lüge handelt. Denn wer sein eigenes Urteil ernst nimmt, „menschliches Versagen“ sei der Grund für die Reaktorunfälle, der ordnet nicht die Überprüfung sämtlicher Kernreaktoren an, ebensowenig, wie man nach einem Autounfall, der aufgrund menschlichen Versagen zustandekommt, alle Automobile zur Sicherheitsüberprüfung einzieht.


Katastrophenschutz = Staatsschutz

Welche Art von Sicherheit es ist, der das Kalkül mit der Unsicherheit seinen Namen Sicherheitsdebatte verdankt, hat die Bewältigung der Schäden bei Menschenmaterial und Natur in der Umgebung des Reaktors eindringlich vor Augen geführt. Während in der Nähe des Atommeilers 1200 mrem/Stunde Strahlenbelastung gemessen werden und selbst das amerikanische Gesetz nicht mehr als 170mrem/Jahr an gesundheitlicher Beeinträchtigung für gesund befinden wollte, werden einige hunderttausend Menschen mit Parolen wie „Das Ganze ist nicht schlimmer als beim Zahnarzt!“ zum Ausharren in der Gefahrenzone aufgefordert. Statt einer Evakuierung angesichts der drohenden Reaktorkernschmelze ergeht daher folgende Sortierungsanweisung an die Betroffenen:

„In der Umgebung des Atommeilers ist nach amtlichen Angaben im Umkreis von zweiunddreißig Kilometern radioaktive Verseuchung festgestellt worden ... Kinder und schwangere Frauen, die in einem Umkreis von acht Kilometern um das Kraftwerk leben, sollen aus dem radioaktiv verseuchten Gebiet evakuiert werden Alle Bewohner im Umkreis von sechzehn Kilometern wurden aufgefordert, in ihren Häusern zu bleiben.“ (SZ)

Jimmy Carter hat es sich nicht leicht gemacht. Die paar hunderttausend Wähler werden nicht einfach abgeschrieben – sowas behält sich ein ordentlicher Staatsmann für Vietnam-Kriege und ähnliche Unternehmungen vor. Damit allerdings nicht ein Staatsgebiet etwa halb so groß wie die BRD abgeschrieben werden muß, weil keiner mehr auf dem zerstrahlten Boden wohnen will, werden nur schwangere Frauen und Kleinkinder aus der unmittelbar gefährlichen Schußlinie der Gammastrahlen (8-km-Umkreis) herausgenommen. Das demonstriert die Rücksichtnahme auf Leben und Gesundheit der Bevölkerung, die man nicht zu üben gewillt ist, und erspart einem, vielleicht die verkrüppelten, gengeschädigten kleinen Harrisburger als unmittelbare leibhaftige Kritik an der eigenen Atomenergie für die nächsten 50 Jahre vorgeführt zu bekommen. Ab 9 km vom Reaktor entfernt interessiert die Verantwortlichen an der ganzen Bevölkerung nur eins: die sollen gefälligst dableiben, damit das öffentliche Leben weitergeht – wenn noch einmal alles gut geht! Ein Treck von radioaktiv verseuchten Atomflüchtlingen, die keiner haben will, so daß mancher nach guter amerikanischer Sitte seine Knarre unter dem Bett hervorkramt, beschwört eine Gefährdung der Staatssicherheit herauf, die sich die amerikanische Demokratie nicht leisten will. Deshalb kalkuliert der US-Staat bei der Bewältigung der Katastrophe recht großzügig mit Leben und Gesundheit seiner Bürger, um seine Sicherheit zu gewährleisten und schließt für den Fall des Falles das Pentagon an den Krisenstab an.


Aus Harrisburg lernen!?

Ungeachtet dieser Demonstration in Sachen „Schutz des Lebens“ hoffen hierzulande Kritiker des Atomenergieprogramms oder auch ganz einfach Leute, die aus guten Gründen Angst vor KKW haben, daß jetzt spätestens doch endlich den politischen Verantwortlichen klar geworden sein müsse, wie gefährlich diese Dinger eigentlich sind. Dieses Urteil geht entschieden an der Sache vorbei. Gewußt haben sie es schon immer, die politisch Verantwortlichen, weswegen ja auch die Baugenehmigung von Reaktoren ergänzt wird durch entsprechende Katastrophenschutzpläne, in denen der Umgang mit den unausbleiblichen Schäden und Opfern geregelt wird. Die Hoffnung, die sich ausgerechnet an Harrisburg entzündet, ist verrückt. Sie will nicht wahrhaben, daß der demokratische Rechtsstaat Gründe dafür gehabt hat und noch unverändert hat, wenn er mit einem Energieprogramm zwar nicht den Strom für seine privaten Verbraucher billiger macht, dafür aber ihre Gesundheit ruiniert und mit ihrem Leben kalkuliert. Es handelt sich hierbei eben nicht um ein Versehen, eine Unachtsamkeit, auf die spätestens der GAU in Three Mile Island aufmerksam machen müßte. Oder, das Ganze in den dürren Worten eines Energieministers:

„Die Frage der Zumutbarkeit ist immer auch eine Frage der Abwägung (!). Von besonderer Bedeutung für die Bewertung der kerntechnischen Risiken ist das Risiko, das eingegangen würde, wenn stattdessen verstärkt Erdöl, Kohle oder Erdgas genutzt wird ... Strom aus Kernkraftwerken kostet nach heutigen Preisen 4 bis 4,5 Pfennig Steinkohle und Ölkraftwerke liefern deutlich teureren Strom.“ (Kernenergie. Eine Bürgerinformation)

Das eigentümliche „Risiko“ von Steinkohle und Öl liegt einfach darin, daß sich ein ordentlicher Staat nicht von einer Energiequelle abhängig machen will und schon gar nicht von einer ausländischen; außerdem darin, daß die Energieerzeugung mit diesen Rohstoffen um einiges teurer kommt als die Stromerzeugung im KKW, und um diesen Vorteil für das wirtschaftliche Wachstum nicht aufs Spiel zu setzen, darf der Betrieb von KKW nicht durch zu üppige Sicherheitsvorkehrungen unrentabel gemacht werden, zumal man in der Konkurrenz mit den USA und anderen Freunden praktisch zu spüren bekommt, daß es billiger geht. Die Gefährdung von Menschenmaterial und Natur wird daher in den atomrechtlichen Genehmigungsverfahren als gesetzlich zulässig festgeschrieben, wobei der Staat allerdings darauf achtet, daß er sich bei diesem Unternehmen nicht übernimmt; wo ein Reaktor Marke Babcock & Wilcox wie etwa in Mülheim-Kärlich installiert werden soll, legt er den Betreibern zusätzliche Beschränkungen auf wie den Einbau weiterer Notkühlsysteme, weil er sich einen GAU a la Harrisburg nicht auf sein Territorium holen will.


Zeitgemäße Philosophie der Sicherheit: „Leben mit dem GAU“ (Heigert, SZ)

Recht einmütig wurde daher von allen politischen Parteien, die Verantwortung tragen, der GAU drüben als ungelegene Störung für die Energiepolitik hier behandelt. Statt an die Beseitigung der Gefahr machen sie sich daher an die Bewältigung dieser Störung, indem sie eine neue ideologische Debatte über Sicherheit und Kernenergie vom Zaun brechen. Bereits am Abend des 5.4. sind sich Albrecht, Baum und Bahr im ARD-Fernsehen einig, daß „an der Kernenergie kein Weg vorbeiführt“, man aber nach Harrisburg zumindest „die Frage wieder zulassen muß, ob die Kernenergie genutzt werden soll“ (Baum). Es versteht sich von selbst, daß die bisher übliche Antwort der öffentlichen Propaganda ,,Na klar, weil billig und so gut wie risikolos!“ so nicht mehr brauchbar ist, weil aller Welt die praktische Demonstration und Wirkung des Risikos noch in den Knochen sitzt. Die offensive, zeitgemäße Antwort lautet daher:


„Leben mit dem Gau ... Wenn es richtig ist, daß zehn oder fünfzehn Prozent der deutschen Stromversorgung (in Zukunft steigend) aus dem Atomzerfall gewonnen werden muß .... dann rede man ehrlicher als bisher über den Preis. Wieviel Geld und wieviel – der Leser verzeihe – Menschenleben kostet das ... Eine aufgeklärte Gesellschaft muß damit zurechtkommen. Kann sie es nicht, braucht sie sich nicht mehr demokratisch zu nennen.“ (Heigert, SZ)

Das bewußte Bekenntnis zum GAU statt seiner ideologischen Verharmlosung hat heute den aufgeklärten Demokraten auszuzeichnen. Was vor einer Dekade noch humanistisch gesinnte Menschen und unbescholten denkende Leser auf die Barrikaden der Entrüstung gebracht hätte, wird heutzutage als staatsbürgerliche Tugend zelebriert: Menschenleben werden zum Mittel der Barzahlung für einen Fortschritt, der über Leichen geht, wenn es die nationalen Belange erfordern, weswegen sich auch der ,,GAU namens Krieg“ recht gut eignet zur Untermauerung des neuen Zeitgeistes, weil bei dieser Art von „Unfall“ der Staatsbürger immer schon praktiziert hat, was ihm jetzt als Haltung abverlangt wird: für das Gedeihen der Nation den Kopf hinzuhalten. Die alten Parolen der Sorte „Ohne KKW gehen bei uns die Lichter aus!“ oder „Ohne KKW ist ein Krieg um das Öl unvermeidlich“ geben dazu die passende Begleitmusik ab vor dem eindrucksvollen Hintergrund ihrer praktischen Widerlegung. Denn daß der Nutzen des Kernenergieprogramms für die privaten Verbraucher eine Erfindung des Propagandaministeriums ist, belegen die stetigen Strompreiserhöhungen hierzulande, im offiziösen Sprachgebrauch „Energiesparmaßnahmen“ genannt, ebenso wie der neue „painful step“, den Herr Carter seinen Landsleuten anempfiehlt: mit drastischen Verteuerungen von Öl und Benzin läßt sich zwar kaum eine „Energieeinsparung“ bewerkstelligen, wohl aber mit einer 50-prozentigen Profitsteuer auf den zusätzlichen Geldsegen das eigene Atomenergieprogramm aus der Tasche derer finanzieren, die bereits in der neu eingeführten Währung „Leben und Gesundheit“ den Preis für den gesellschaftlichen Fortschritt blechen müssen.

Wie sehr diese Debatte ihre Wirkung tut, entnimmt man den ersten praktischen Konsequenzen : man stellt sich nun ohne die bislang geübte öffentliche Zurückhaltung auf die unausweichlichen Gefährdungen ein, verspricht in Baden-Württemberg, Jod-Tabletten an die Bevölkerung zu verteilen, und druckt in Bayern Merkblätter für den GAU – eine Praxis, die einige Wochen zuvor, weil Gefährdung der Staatssicherheit, vermieden, wurde. Nicht ganz ohne Grund haben sich derweil die Aktien der Kernkraftwerksgesellschaften vom „Harrisburg-Schock“ erholt und sind wieder „viel widerstandsfähiger“ geworden und die unfallgeschädigte Firma kündigt bereite Strompreiserhöhungen an, während die Notierungen für den Columbia-Filmverleih mit seinem GAU-Drama „China-Syndrome“ alle Grenzen sprengt.


Harrisburg in Gorleben

In diesem Sinne ist das Gorleben-Hearing, ursprünglich ein Zugeständnis der niedersächsischen Landesregierung an den Besitzer des Baugrundes der künftigen Wiederaufbereitungsanlage, Bernstorf, durch die Ereignisse in Harrisburg und ihre öffentliche Verarbeitung zu einem Bombenerfolg geworden. Denn kritische Meinungen zur WAA und zur Kernenergie überhaupt wurden hier ja, gegen gute Bezahlung, jede Menge öffentlich ausgestellt, so daß die Niedersachsen der jetzt wieder äußerst verdienstvollen Aufgabe nachgekommen sind, Schwachstellen und Risiken schonungslos offenzulegen, bevor man sie aus den genannten Gründen genehmigt. Daß es bei den wissenschaftlichen Einwänden nie darum gegangen ist, sich von ihnen das politische Handeln in Sachen Atomenergie vorschreiben zu lassen, hatte Landesvater Albrecht bereits deutlich gemacht, als er einige Argumente der Wissenschaft gleich aus dem Konzert ausschloß: Die Gutachter der Firma Hamburger Ökosystem wären für die Show offenbar ebenso unbrauchbar wie der Geomorphologe Grimmel aus Hamburg, weil seine vernichtende Analyse des zur Endlagerung vorgesehenen Salzstocks nicht einmal mehr die Rede vom „unausweichlichen Risiko“ zuläßt. Die Brauchbarkeit des Pro und Contra umriß Albrecht daher auch wie folgt:

„Bei der unterschiedlichen Wertung der Wissenschaftler bleibe nichts anderes übrig, als aus politischer Verantwortung heraus Stellung zu nehmen.“ (Weserkurier)

Und diese Verantwortung hat ein eminentes Interesse an der WAA Gorleben, weil die Wiederaufbereitung des Urans den Import dieses Rohstoffes so reduziert, daß alle Versuche des Hauptlieferanten USA empfindlich gestört werden, aus dieser Abhängigkeit nicht nur geschäftliche Vorteile durch Lieferstops zu ziehen, sondern auch den unbequemen Bruder ein für allemal auf die friedliche Nutzung der Kernenergie festzulegen. Denn Schmidt, frisch von den Indios zurückgekehrt, geht es in dem von Albrecht angemeldeten Gespräch mit dem Macher also darum, wieviel Zeit sich die politische Verantwortung angesichts der öffentlichen Wogen noch lassen muß, bis sie in Gorleben zuschlägt. Solange darf der von den Atommeilern weiterhin produzierte Müll bis zur Genehmigung des geplanten Endlagers in dem stillgelegten Salzbergwerk Asse II endgelagert werden, weil es ein Gesetz gibt, welches seit 1967 diese Endlagerung „Forschungsprojekt“ zur wissenschaftlichen Klärung der Endlagerung nennt; oder aber auch einfach im Freien, mit einem Zaun in entsprechendem Sicherheitsabstand.


Nein danke! – Kein politisches Abseits mehr

Nach dem Unfall in Harrisburg haben schließlich auch viele Träger der gelben Plakette, was sie schon immer wollten: bis vor kurzem noch als Terroristen und Staatsfeinde verschrien, wird ihnen nun die öffentliche Anerkennung ihres Anliegens als berechtigtem zuteil, auf die sie aus waren, ohne daß sie deswegen der Durchsetzung ihrer Forderung auch nur einen Schritt näher gekommen wären. Denn wenn heute nach dem GAU drüben das Recht auf Angst von den Politikern aller Parteien proklamiert wird, so nicht deswegen, um es gegen die eigene Energiepolitik ins Spiel zu bringen, sondern es für sie einzusetzen: berechtigt sind die Warnrufe der AKW-Bewegung, weil sie ein Beitrag zum durchaus erwünschten „Risikobewußtsein“ sind, das allerdings erst dadurch zu einem „aufgeklärten“ wird, daß es aus dem Wissen um die höheren Interessen, die auf dem Spiel stehen, das Risiko in Kauf nimmt.

Die Integration der AKW-Bewegung in den demokratischen Konsens hat zum anderen den politischen Fortschritt dieser Leute zur Voraussetzung, der „im fröhlichen AKW-NEINDANKE-Karneval“ in Hannover seinen großen Auftritt hatte: „mit Blumen und Luftballons“ war man gekommen, um Gewaltlosigkeit zu demonstrieren und überreichte dem Landesvater, der ja schon beim Hearing als Hauptergebnis das einträchtige Miteinanderreden von Kernkraftgegnern und Befürwortern gelobt hatte, seine Einwände zur geflissentlichen Beachtung. Die Albernheit, einer Demonstration Qualität zu bescheinigen, weil sie ohne Gewalt abläuft, ebenso wie das einhellige Lob des Staates und der Demonstranten hinterher, daß sie gewaltlos ablief, macht alle Zweifel hinfällig. In schöner Umkehrung der früheren militanten Versuche gelobt man, sich bei der Demonstration der kritischen Meinung zur Atomenergie auch so aufzuführen, wie es sich für die staatliche Anerkennung des eigenen Anliegens gehört. Auch wenn die Durchsetzung in dieser Sache nie über eine Demonstration läuft, braucht man nicht gleich zu sagen, daß einem an ihr gar nicht liegt! Die Drohrufe der Journaille, „daß wir nicht der Atomfrage wegen die Spielregeln des Gemeinwesens außer Kraft setzen“ (DIE ZEIT), sind also längst obsolet geworden angesichts eines Widerstands gegen Atomkraftwerke, der seine begründete Angst vor diesen Produktionsmitteln in das Buhlen um Parlamentssitze verwandelt hat und öffentliche Bekenntnisse demonstriert, daß ihm an der Berücksichtigung seiner Kritik und Angst seitens der Macher gelegen ist. Vor dem demokratischen Staat und seiner entschlossenen Kalkulation macht die Angst immer noch eine Verbeugung.

 

aus: MSZ 28 – April 1979

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