Zum Exorzismus-Prozeß:

RICHTER, TOD UND TEUFEL

 

1

Am 17. April ging ein scheinheiliges Aufatmen durch die bundesdeutsche Presse. Medizinische Gutachter hatten kraft ihrer Wissenschaft endgültig das Interesse zufriedengestellt, das die öffentliche Meinung dem Fall Anneliese Michel ebenso ausgiebig wie eintönig entgegenbrachte. Nun war es doch tatsächlich „keine Besessenheit, sondern Epilepsie“ (SZ), worunter das Mädchen zu leiden hatte – eine wahrhaft kolossale Überraschung, nachdem sich die Zeitungen samt ihren Leserbriefschreibern längst einig waren, daß die beteiligten Herren Teufel von Nero bis Judas als Privatangelegenheit „betagter Ordensmänner“ und „religiöser Extremisten“ zu betrachten seien.

 

2

Noch bevor daher am Freitag das Urteil gefällt wurde, konnte man dem weiteren Verlauf des Prozesses in aller Gelassenheit entgegenblicken. Drohte das Verfahren zwischendurch schon „an den Nerven der Zuhörer zu zerren“ (immerhin zu 80 % Journalisten!) und mit der unschicklichen Enthüllung von Details der Teufelsaustreibung in eine „Schmierenkomödie mit religiösen Versatzstücken“ auszuarten (NN), so sind durch das Gewicht der medizinisch-psychologischen Autorität die Dinge glücklich wieder im Lot:

– Das Opfer der Teufeleien kann auf das Niveau einer normalen Verrückten zurückgestuft werden, um deren Schicksal man sich genausowenig zu kümmern braucht wie um andere Insassen von Irrenanstalten.

– Die am Tod der Anneliese Michel beteiligten Eltern und Pfaffen können getrost der eigenen Gewissensqual überlassen werden (wozu die Bewährungszeit gerade gut ist), zumal sie ohnehin über „erheblich verminderte Schuldfähigkeit“ verfügen (was der psychologische Gutachter gern auch ohne Untersuchung bescheinigte).

– Es ist gelungen, den Bischof aus der ganzen Affäre herauszuhalten, da selbst seine Zustimmung zum Exorzismus es nicht schaffte, ihn mit dem eigentlichen Fall in Zusammenhang zu bringen – wie der Staatsanwalt so schön sagte: „Es geht nicht darum, die Existenz des Teufels als Teil des kirchlichen Lebens in Zweifel zu ziehen. Es geht uns lediglich um die Feststellung, daß ein Exorzismus als Kultübung eine nötige ärztliche Hilfe nicht ersetzen kann.“

 

3

Noch vor dem Prozeßende war also der Beweis erfolgreich abgeschlossen, um dessentwillen sich abgebrühte Prozeßbeobachter von der FAZ bis zur BILD-Zeitung wochenlang vor dem blumig ausgemalten Gespenst mittelalterlicher Relikte im aufgeklärten 20. Jahrhundert entsetzten: Der Fall Anneliese Michel hat mit allen möglichen Spinnereien zu tun (DIE ZEIT: „Besessene sind sie alle!“) – nur nicht mit dem Mädchen selbst und ihrer Religion, über die es verrückt geworden ist. Das ganze aufwendige Gelaber über Teufel hin, Teufel her, reduziert, sich endlich auf seinen einzigen, angepeilten Inhalt: Das Problem ist rein juristischer Natur – wer hat wann warum den Arzt nicht angerufen? –, weshalb sich kein kirchlich getaufter Leser in seinem Glauben an den lieben Gott irremachen zu lassen braucht und sich mit den akademisch gebildeten Atheisten darin einig sein darf, daß auch in Religionsfragen Extremisten unangebracht sind.

 

4

Der Tod der Studentin kümmert bei alledem niemand. Nicht ihre Alten, deren Glauben so stark ist, daß selbst der Tod ihrer Tochter nur zu dessen Festigung beiträgt. Nicht die Pfaffen, denen der Unglücksfall freilich ungelegen kommt, wo sie doch einmal so richtig ihre überirdischen Verbindungen unter Beweis stellen wollten. Nicht die Gutachter, die sich damit beruhigen, daß dergleichen Erscheinungen in ihrer Praxis nicht eben selten vorkommen (und für den religiösen Wahn schlicht eine „Gehirnkrankheit“ verantwortlich machen – wahrscheinlich einen Tumor mit hornförmigen Auswüchsen und Geißbockgestalt). Nicht die Richter, denen es peinlich ist, daß sie bei der Klärung der Schuldfrage um das Streifen der näheren Umstände nicht herumkommen. Und am wenigsten die aufgeregt kommentierenden Journalisten, die mit diffizilen Unterscheidungen zwischen „echten Glaubensüberzeugungen“ und „finsterem Aberglauben“ (NN) angesichts der Leiche ungerührt diskutieren, wann man den Tod gerade noch hätte legitimieren können.

 

5

Da sich mit dem Tod der Anneliese Michel niemand beschäftigen will, ist die Auffassung, die Geschichte sei „letztlich unverständlich“ (womöglich gerade für aufgeklärte Zeitgenossen), eine interessierte Lüge. Was hat das Mädchen schon anderes getan, als an den Forderungen ihrer Religion bis zur letzten selbstzerstörerischen Konsequenz festgehalten? In Konflikt mit einer religiösen Moral geraten, die von ihr nur Verzicht und Opfermut um eines himmlischen Lohns willen forderte, hat sie sich fertiggemacht, statt ihre Religion über Bord zu werfen. Über der andauernden Konfrontation mit Anforderungen, die sie erfüllen wollte und doch nicht aushielt, ist sie zerbrochen und hat auch daran sich die Schuld gegeben: Als sie bei einer Wallfahrt etwa nichts von jenem mystischen „Rosenduft“ spüren konnte, der die gläubigere Nase ihrer Schwester kitzelte, nahm sie es als weiteren Beweis unter anderen, daß sie zu „selbstsüchtig“ sei, zu sehr im „modernistischen“ Denken befangen, um ein „gottgefälliges“ Leben zu führen. Und religiös genug, hat sie in ihrer Selbstsucht das Wirken des Teufels ausgemacht, getreu den Lehren des obersten Pfaffen – „Der Teufel ist eine wirkende .Macht, verderbt und verderbend“ (Papst Paul VI., 1972) – und getreu einer christlichen Tradition, der das irdische Interesse des Menschen schon immer als Teufelswerk galt – „Die Natürlichkeit des Willens ist näher die Selbstsucht des Willens, unterschieden von der Allgemeinheit des Willens und entgegengesetzt der Vernünftigkeit des zur Allgemeinheit gebildeten Willens. Dies Böse personifiziert auf allgemeine Weise ist der Teufel.“ (Hegel). Die Gewalt religiösen Moral hat sie schließlich gegen sich selbst gekehrt und sich in der Selbstvernichtung eines „Sühnetods“ zur Märtyrerin geläutert: „für Deutschland, vor allem für die deutsche Jugend, der vom Rauschgift und von der Aufhebung des Paragraphen 218 Verderben drohte, auch für einige Christen, die vom wahren Glauben ließen.“ (DIE ZEIT). – Und dieses Ende ist nur für denjenigen ein unverständliches Rätsel, der selbst dort, wo die Brutalität des religiösen Idealismus offen zutage tritt, die Religion beflissen gegen ihre Verrücktheit in Schutz nehmen will.

 

6

Bleibt die Frage offen, was es da eigentlich zu retten gibt. Denn immerhin gibt eine Zeitung wie die NN mit ihrer geistreichen Schlagzeile, „Zum Teufel mit dem Teufel!“ (8./9.4.) zu erkennen, daß derlei Ausgeburten des menschlichen Hirns noch immer den Nerv der Zeit treffen. Von Religion hält man heutzutage noch so viel, daß man einigen Aufwand treiben muß, um ihre Grenzen festzulegen: Als neben das alltägliche Elend getretener Trost- und Rechtfertigungsgrund, daß undurchschaubare Mächte dafür verantwortlich sind, wenn im Leben so mancher Schuß daneben geht, ist sie sehr erwünscht. Und da wäre es doch jammerschade, wenn Übertreibungen dieses Geschäfts, die gar zum Hungertod führen, manchen Mitbürgern am Ende den ganzen Idealismus verleiden würden, der den erfolglosen Materialismus des Lohnarbeiterdaseins auf so vorteilhafte Weise ergänzt!

HOCHSCHULZEITUNG 1978

zurück zur Startseite