Wissenschaftliche Umschau:

Allerlei Geschichten mit der Geschichte


„Was die Erfahrung aber und die Geschichte lehren, ist dies, daß Völker und Regierungen niemals etwas aus der Geschichte gelernt und nach Lehren, die aus derselben zu ziehen gewesen wären, gehandelt haben.“ (HEGEL, Die Vernunft in der Geschichte, 1822)


Lassen sich aus der Geschichte keine Lehren ziehen, so ist der Weg frei für die Heutigen, ihre Lehren für die Gegenwart in die Historie hineinzuziehen. Daß der hierbei zu Werke gehende Geist verschieden ist vom „Geist des Inhalts selber“, das Vergangene nur als wehrloses Material ausgeschlachtet wird für die Illustration der „Maximen, Vorstellungen und Prinzipien“, auf die es dem Betrachter ankommt, hat schon HEGEL festgestellt, der hinzufügte: „Bei uns Deutschen ist die Reflexion – und Gescheutheit – darüber sehr mannigfach“. Das gerade in diesen Wochen wieder einmal sehr ausgeprägt vorhandene aufnahmefähige Interesse des gebildeten Publikums stieß auf günstige Anlässe in Gestalt runder Jahreszahlen und bot der Creme bundesdeutscher Wissenschaftskultur Gelegenheit, den historischen „Begebenheiten und Individuen mit moralischem Einhauen in die Flanke zu fallen.“ (HEGEL)


1

Die Münchner Siemensstiftung, laut Satzung der „Förderung des Gesprächs zwischen Wirtschaft und Wissenschaft“ verpflichtet, lud ein zu einer achtteiligen Vortragsreihe mit dem Titel: Die deutsche Neurose – über die beschädigte Identität der Deutschen. Der Titel stellte schon klar, was die Wissenschaft der Wirtschaft gesprächsweise zu unterbreiten gedachte – nämlich nichts, was diese brauchen könnte. Schließlich hat die deutsche Wirtschaft noch nie mit „Identitätskrisen“ zu kämpfen gehabt, und antineurotische Rezepte dürften bei ihrer in konjunkturellen Auf- und Abschwüngen stets bewährten robusten Gesamtkonstitution kaum verfangen. Zwar werden im Wirtschaftszyklus laufend Identitäten beschädigt, keinesfalls jedoch die Wirtschaft, die vom Verschleiß von Individuen flott lebt.

Die geladenen Wissenschaftler hatten dafür ihrem Publikum ein paar Thesen mitgebracht, die diesem wie dem SZ-Redakteur PETER DIEL-THIELE umso erbaulicher vorkamen, als sie am Aufbau einer moralischen Identität interessiert waren:

„Die Resultate der Thesen sind diffus, aber natürlich ungewöhnlich interessant, denn wer unter den Zuhörern könnte sich langweilen, wenn über seine politische und seelische Lage gemutmaßt wird.“

Wo Intellektuelle zur Spekulation eingeladen werden, tun sie natürlich ihre schwere Pflicht und lügen das Blaue vom Himmel herunter, was für tiefsitzende Probleme die arme Seele habe und was sie damit noch alles anstellen müsse, um vor dem selektiven Ideologenblick als vollwertige deutsche Seele gelten zu dürfen.


2

Dem Eröffnungsreferat schickte der „wissenschaftliche Mentor“ der Reihe, Prof. PETER LERCHE, ein kleines Dogma voraus, dessen Kernsatz aus der Montage von 10 (in Worten: zehn) Lügen zur geistigen Lage der Nation bestand:

„Handlungsfähig ist ein Volk erst, wenn es in der Lage ist, seine Geschichte zu erzählen und sich mit ihr und durch sie zu identifizieren. Die Deutschen können heute diesen notwendigen Prozeß nicht oder nur unter großen Schwierigkeiten vollziehen. Ihre Identität ist gefährdet.“

Wo Staatsmänner mit den ihrer Gewalt Unterworfenen fortlaufend umspringen und damit Geschichte machen, ohne sich einen Dreck um die Geschichte zu kümmern, behauptet LERCHE, ausgerechnet die von der höheren Gewalt erzwungene Schicksalsgemeinschaft Volk schlage sich mit dem frei erfundenen Problem herum, neben diesem Zwang die höheren Möglichkeiten zum Tätigwerden nicht aus den Augen zu verlieren. Wobei unter der Abstraktion „handeln“ so disparate Sächelchen wie Kriegführen, Viehzucht und Disco-Musik zusammengepackt werden. (Fehler 1, 2 und 3). Als ob die von der Geschichte Gebeutelten je die Wahl gehabt hätten, aus dem Staat auszutreten, behauptet LERCHE, daß alle Räder stillstünden, wenn sich Arbeiter, Kapitalisten und Politiker, die zwar keine gemeinsamen Interessen haben, aber durch die sie umschließenden Staatsgrenzen deutsche Staatsbürger sind, bei der Lektüre ihrer Geschichtsbücher nicht wiedererkennen würden. (Fehler 4, 5 und 6). Weil dieser Prozeß folglich nur für LERCHE notwendig ist, haben Vollzugsprobleme damit nur Intellektuelle, deren Identität dadurch mitnichten gefährdet ist. Im Gegenteil: Vortragsreihen dieser Art beweisen, daß die sie Haltenden damit ihr Auskommen bestreiten können und anerkannte „handlungsfähige“ Volksmitglieder sind. (Fehler 7, 8, 9 und 10)


3

JOHANNES GROSS, der erste Redner, besprach gut aufgelegt („in der ironischen Distanz des vergnüglich an seinem Vortrag Amüsierten“) eine BRD-typische „Übellaunigkeit als Sozialbewußtsein.“ Vom Chefredakteur der Zeitschrift CAPITAL war nun nicht zu erwarten, daß er die Griesgrämigkeit des Schichtarbeiters morgens um 5 Uhr in der U-Bahn aus sozialen Verhältnissen ableiten würde, auch nicht die Verdrossenheit des Fernsehteilnehmers, der mittlerweile im 25. Jahr von Robert Lemke ein „Heiteres Beruferaten“ zur besten Sendezeit serviert bekommt und sich als Schweißer nie eine Chance ausrechnen kann, ein Schweinderl mit 5-Mark-Talern mit nach Hause nehmen zu können. GROSS ritt natürlich schneidige Attacken gegen die „Griesgrämigkeit der Parteipolitiker, der Verbandsfunktionäre, der geistlichen und Intellektuellen, der Schriftsteller und Fernsehmoderatoren.“ (Wahrscheinlich ist sein penetrantes Schweinchen-Schlau-Grinsen in der „Bonner Runde“ der ARD GROSS' Beitrag zur Entfachung eines „Enthusiasmus“, der in der BRD als „fast so gefährlich“ gelten soll „wie Revolution“.)

Smiling Joe pries also mit intellektueller Unverfrorenheit das Sortiment seines Kulturbeutels an, so als ließe sich politische Identität, für die er selber leibhaftig steht, mal so eben an- oder abschminken. Nur gut, daß entgegen solcher kosmetischen Tricks, noch immer der alte Grundsatz gilt, wonach ein Hintern noch so geschminkt werden kann – es wird kein richtiges Gesicht daraus.

Doch GROSS, wie der nicht nur geistig kleine Mann nun einmal blöderweise heißt, hatte auch noch etwas in der außenpolitischen Tasche seines Köfferchens: „die außenpolitische Bußfertigkeit der BRD“ stehe dieser schlecht zu Gesicht und müsse abgelegt werden. Wo sich doch, nicht erst am kniefälligen ,,Polen-Willy“Brandt, schon am alten Adenauer studieren läßt, wie sich ein neuer Staat mit Reue Absolution erheuchelt und ehemalige Gegner für Wachsen und Gedeihen seiner Wirtschaft Buße tun ließ, so daß dieser Staat heute das Brot aller Herren Länder bricht, mit „Holocaust“ das Beichtgeheimnis nicht nur selbst verletzte, sondern zu einer open-end-Diskussion im Fernsehen machte und die ehemaligen Beichtväter moralisch beschämt, nachdem er sie bereits ökonomisch ganz handfest ins Gebet genommen hat. Stattdessen faselte GROSS so schwachsinnige Sätze wie

„die Deutschen stecken mit ihrem Hals in der Garotte theologischen Denkens.“

und wies so verdienten Moraltrompetern wie dem BÖLL(er)-Heinrich die unangemessene Aufgabe zu, mit ihren Romanen Menschen, die „inmitten ihres Wohlstands unter Gewissensdruck“ leiden, als befreiender Schwanzreiber beizuspringen – als hätten die literarischen Hänger so niedere Funktionen wahrzunehmen und nicht das edle Geschäft rein moralischen Ergusses, den man sich inmitten seines Wohlstands als geistigen Höhenflug genehmigt.


4

Die paar Gedanken aus den folgenden Vorträgen sind rasch erzählt:

– Der Politologe ARNDT meinte, die Deutschen wollten nicht mehr die Besiegten sein, könnten sich aber auch nicht als Befreite fühlen. Wir meinen, daß diesen Pseudowiderspruch noch jeder drittklassige Politiker auswendig auflösen kann: weil Hitler besiegt wurde, sind seine Mitmacher heute Bürger des freiesten deutschen Staats, den es je gab, in dem alle mitmachen können, die damals viel mitgemacht haben wollen.

– Der Soziologe HEPP fragte sich nach der „politischen Identität“ von Leuten, die vom Kaiser Wilhelm bis zu Helmut Schmidt alles mitgemacht haben und gelangte zu dem Schluß, daß jeder vor allem durch die Zeit „geprägt“ sei, in der er seine Jugend verbracht hat. Dies belegt nichts so anschaulich wie die Biographien des verstorbenen Andreas BAADER und des quicklebendigen CSU-Generals Edmund STOIBER, die beide an den Universitäten der Jahre 1968-70 ihre „politische Identitätssuche“ betrieben haben.

– der Historiker Helmut DIWALD führte die deutsche Geschichte vom 1. Weltkrieg bis zu SALT II auf den Versailler Vertrag zurück und liefert so eine nicht gerade originelle Fortführung des zentralen Arguments, das Adolf HITLER in „Mein Kampf“ zwar nicht zum ersten Mal aber wesentlich wirkungsvoller vorstellig gemacht hat.

– Der evangelische Theologe Helmut THIELICKE lieferte einen Werbespot für seine christliche Firma:

„Identitätskrise und Geschichtslosigkeit hingen mit dem verlorenen Glauben zusammen.“ Und: „Die Wurzeln allen Geschichtsdenkens liegen bei den Propheten des Alten Testaments.“

Welche Entscheidung der Mensch angesichts der Alternative, sich mit fragwürdiger Naturbeherrschung ,,zufriedenzugeben“ oder sich aus „einem göttlichen Ursprung herzuleiten“ zu treffen habe, brauchte THIELICKE nicht weiter auszuführen, indem er auf das Neue Testament verwies, eine Antwort in der Tat für beide Parteien der Diskussion über die Kernenergie.

– der Völkerrechtler Dieter BLUMENWITZ malte das „Damoklesschwert jener Rechtsvorbehalte der Siegermächte gegenüber der BRD“ an die Wand des Nymphenburger Schloßsaals, entdeckte als Hauptmerkmal der „Entspannungspolitik“ die „wieder stärker hervortretenden Konturen eines Sieger-Aggressor-Verhältnisses“ und konnte sich die Auflösung des Rätsels schenken, ob die Sowjetunion im Ost-West-Verhältnis denn nun Sieger und Deutschland der Aggressor sei, weil dies ohnehin allen Zuhörern klar war.

– Der Psychologe Peter R. HOFSTÄTTER „präsentierte eine Theorie des doppelten deutschen Michels, dem Helden und dem Anti-Helden“. Wenn der erste über die Stränge schlage, zöge der zweite die Zipfelmütze übers Gesicht. Er vergaß zu erwähnen, daß der deutsche Michel heute Helmut heißt, eine Prinz-Heinrich-Mütze trägt, nur eine Seele in der Brust und 60 Mio. Michels im Rücken hat, weswegen die BRD ohne Helden (mit Ausnahme der 11 von Bern und der 7 von Mogadischu) auskommt und die Anti-Helden am Arbeitsplatz Heldentaten vollbringen, ansonsten aber nur als Helden des neuen deutschen Films vorkommen.

– Der Sozialhistoriker Wilfried SCHLAU (wir verkneifen uns jeden Namenswitz) radikalisierte die HITLER-DIWALDsche These nach hinten, indem er dem 30-jährigen Krieg die Rolle des „Urtraumas“ zuwies, dessen „Wunden erst 1890 vernarbt“ sein sollen. Wahrscheinlich bezieht er sich auf die Ausbesserungsarbeiten an der Stadtmauer von Dinkelsbühl im Herbst 1879.


5

Besser als Malte BUSCHBECK im Feuilleton („Es fehlte die Lust am Dialog“) zog ein Dr. FRITZSCHE im Leserbriefteil der SZ die Lehre aus der Vortragsreihe:

„Wollen wir unbefangenes, von falscher Bußfertigkeit freies Verhältnis zur Hinterlassenschaft dieser Zeit gewinnen, müssen wir die Gründe für das politisch-menschliche Versagen in uns selber suchen.“

Wie man so was macht, haben die Gründer eines wissenschaftlichen „Reanimationszentrums“, einer „Denkschule“ an der Romantischen Straße in Weikersheim, unlängst vorgeführt. Sie entdeckten als erstes eine

„in die Ketten der Ich-Verstricktheit, der Gottesleugnung und -feindschaft, der legalisierten, für viele unkenntlich gemachten Sünde geschlagene Gesellschaft“ (Spiegel 44/79)

die sie gegen „eiskalt intellektuelle Unholde“ einer „geistig-sittlichen Erneuerung“ (ib.) zuführen wollen. Das Denken für's Sittliche zu wärmen ist nun zwar seit eh und je eine vom Staat verordnete schulische und universitäre Barbarei, das nachdenkende Ich bis zur Unkenntlichkeit in die Ketten staatlicher Raison verstrickt, doch lügen sich die Weikersheimer Animierdenker das tagtägliche Gelingen dieser Zwangsveranstaltung um in die positive Aufgabe des Geistes, die er bei Gefahr des Untergangs des Abendlandes überhaupt erst zu erbringen habe. Intellektuelle Inhalte vom Schlage des gerade noch zum Unipräsidenten taugenden LOBKOWICZ, des feist-dummen Philosophen ROHRMOSER oder des Informationsfluttheoretikers STEINBUCH kämpfen unter der Führung von Alt-Nazi, Ex-Ministerpräsident und Immer-noch-Filzlaus Hans-Karl FILBINGER ihren Kampf also an der ideologischen Aufrüstungsfront, wo sie – schulmäßig, wie sie angetreten sind – erste Eindrücke bereits bei allerdings auch sehr dankbaren Adressaten wie KuMi Hans MAIER und dem VOGEL-Bernhard aus Rheinland-Pfalz erzielen konnten. Derweil befindet sich die Kampfgruppe beim Auskundschaften gefährlicher, feindlicher Denkkräfte, „die aus der Tiefe sich erheben“, (ib.) Mit beim Sondieren ist auf eigene Faust auch der Germanist Hans MAYER: Als altes Trüffelschwein grunzte er im Rahmen der „Nürnberger Gespräche“, als er gänzlich unerwartet auf die ökonomische Klasse der kleinen Warenproduzenten gestoßen war, die er flugs ausbuddelte und in die „soziokulturelle Dimension“ stellte. Dort stand nun das Kleinbürgertum in der erfreulichen Distanz, in die er es erst mal zu sich und seinen Zuhörern gerückt hatte, um ihm dann in „einem fulminanten, facettenreichen Vortrag ein schillerndes Licht“ überzuwerfen. Die Hauptsünde des Kleinbürgertums liegt nach Auffassung des Kulturinterpreten MAYER darin, daß es keine

„gesellschaftliche Basis für eine potente und legitime Gegenkultur in der BRD zulasse.“

Was es gebe, sei „Kultur als Freizeitbeschäftigung“. In seinem Verdikt „gegen die Zweiteilung vom vermeintlich (!) ernsthaften Geldverdienen und dem überflüssigen kulturellen Brimborium“ machte sich der „72jährige Redner“ abschließend zum Anwalt ernsthaften Geldverdienens für „legitime Neinsager“ als Kulturträger und „wurde lebhaft beklatscht.“ Verdienter Beifall für einen Emeritus, der die Funktion der Kultur klarstellte: Nein-Sagen legitim, weil Kultur!

Als „Höhepunkt der Peinlichkeit“ wertete die SZ hingegen eine Podiumsdiskussion in Nürnberg mit dem Thema ,,Nachwirkungen deutscher Vergangenheit in der Gegenwart“. Der Politologe Ossip K. FLECHTHEIM eröffnete mit der Behauptung, daß die BRD

„auf dem Wege zu einem Atom-, Armee- und Polizeistaat sei“,

was natürlich Unsinn ist, weil gerade der bisherige Weg der BRD beweist, daß die Demokratie ohne Armee, Polizei und Atom friedlich und kriegerisch kein kompletter Staat ist, es also eine reichlich trübe Kritik ist, den demokratischen Staat erst dann zu kritisieren, wenn die Bundeswehr zum Einsatz kommt, die Polizei schießt und AKWs Wasser lassen. Die Podiumskontrahenten FLECHTHEIMS, unter ihnen DIWALD, LOBKOWICZ und der Ex-NATO-General Graf KIELMANNSEGG, sämtlich leidenschaftliche Fans bewaffneter und strahlender Staatsmacht, regten sich bezeichnenderweise über Ossips ,,Diffamierung demokratischer Institutionen“ auf, wobei der „sachliche, redliche“ Graf „herausragte“, weil er klar die funktionelle Rolle der von FLECHTHEIM beargwöhnten Organe für die Demokratie herausstellte, während seine rechtsradikalen Diskussionspartner immer wieder in den Verdacht gerieten, die von FLECHTHEIM gefürchtete Verkehrung geradezu zu wünschen.


6

Höhepunkt wissenschaftlich erleuchteter Festivitäten war ohne Zweifel die „wissenschaftliche Konferenz zum 30. Jahrestag des DGB“, der ja schon seit längerem an der kulturellen Ausgestaltung seiner politischen Daseinsberechtigung bastelt. Lauter festlich-bedeutsame Worte erwartete sich die auf ihre von den Amis gestiftete Existenz stolz wie OSKAR blickende Einheitsgewerkschaft, wie deren gleichnamiger Vorsitzender noch vor der Konferenz klarstellte:

„Wir haben kaum Absagen erhalten, so daß die besten Wissenschaftler, die Koryphäen also, dort sein werden. Dafür bin ich außerordentlich dankbar.“

Daß auf dem ganzen Kongreß (Untertitel: „Aus der Geschichte lernen – die Zukunft gestalten“) die Lage der arbeitenden Klasse nicht zur Sprache kam, dafür sorgten schon die als Sachverständige geladenen Wissenschaftler, die von BRACHER, CONZE, DAHRENDORF über FLECHTHEIM, GROSSER, HAFFNER, JENS und KOLB bis zu RITTER, WEHLER usw. angereist waren, um die Spesen mitzunehmen.

Der Einwand des Alt-Gewerkschafters Wilhelm GEFELLER (Ex-Vorsitzender der IG Chemie) gegen den

„gnadenlosen wissenschaftlichen Kalkül, ... der die persönlichen Erfahrungen außer Acht lasse“,

traf voll ins Leere, denn daß die Herren Professoren schon von sich aus nicht zum Nachdenken dasaßen, darauf wies aus der Riege der kritischen Wissenschaft Oskar NEGT hin, der feststellte,

„daß die lebendige, erzählte Geschichte, die persönlichen Erlebnisse und Erfahrungen der alten Gewerkschafter bei der Erforschung der Geschichte ebenso ihren Platz haben müßten wie die Analyse von Daten und Dokumenten.“

So wurden denn emsig so parteiliche Fragen aufgeworfen wie, „hätten die Gewerkschaften die Weimarer Republik retten können?“, was über mögliche und unmögliche Funktionen der Gewerkschaft – für die „Entscheidung für den Westen“, für die „Vielfalt der Gemeinschaft in Europa“ etc. – den schönsten Streit aufkommen ließ, der bis zum gemeinsamen Mittagessen um 13.30 Uhr kein Ende nehmen wollte (auch ein Grund, anderntags schon um 12.30 Uhr Mittagspause zu machen). Schließlich konnte man sich dann dahingehend einigen, daß Gewerkschaften im Staat eine gewisse Rolle spielen, was den Nationalsozialisten nur unzureichend, später dafür aber allen Verantwortlichen um so mehr bewußt gewesen sei. Nach dieser eindrucksvollen Demonstration, wie man die Geschichte zu belehren hat, mochte auch der gewerkschaftliche Kongreß-Berichterstatter in der Hauspostille ,,metall“ (21/79) der gleichnamigen IG nicht länger zurückstehen:

„Diese Geschichte (der deutschen Arbeiterbewegung) ist nicht nur eine Geschichte großer Erfolge, sondern auch schmerzlicher Erfahrungen, deren schlimmste die von 1933 ist. Der Einsatz für die Einheitsgewerkschaft ist eine der Schlußfolgerungen, die die vom Faschismus verfolgten Gewerkschafter gezogen, an der sie bis heute unbeirrt festgehalten haben.“

Gewerkschaftlich gesehen verdankt die BRD den damals sicherlich unvertretbaren Taten eines Hitler nicht nur die BRD, sondern vor allem den DGB, wie er uns heute lieb und teuer ist.

Wenn man heute davon ausgeht,

„die wichtigste demokratische Organisation in Deutschland“ zu sein, „schon bevor es einen demokratischen Staat in Deutschland gab.“ (H.O. Vetter),

Dann kann man als Gewerkschafter nicht nur die „heiß umstrittene Frage“ des Kongresses mitdiskutieren, ob die mangelnde Einheit der Gewerkschaften in Weimar den damaligen demokratischen Staat auf dem Gewissen hat, sondern diese Frage vor allem dem besonders gelungenen festlichen Schluß zuführen, daß mit der Einheit des DGB der Bestand unseres demokratischen Gemeinwesens gleich mitgefeiert werden darf. Da müssen einem doch die Augen übergehen – quod erat demonstrandum!


7

Nur scheinbar fällt der erste „Weltkongreß Alternativen und Umwelt“, bei dem Nobelpreisträger und Zukunftsforscher den Ton angaben, aus dem Rahmen dieser Geschichten mit der Geschichte. Die Eröffnungsrede besorgte der österreichische Maler Friedensreich HUNDERTWASSER, der „rückblickend“ die These vertrat,

„mit dem Triumph der Technik gingen ästhetische Leere und schöpferische Impotenz einher“,

wobei er mit dem ersten Urteil keineswegs seine geschmäcklerische Leinwandwerbung für die Spirale gemeint haben wollte und beim zweiten auch nicht klar wurde, wen er eigentlich treffen wollte: die Technik kann's unmöglich gewesen sein. Ihr hielt der nobilierte Amerikaner George WALD vor, die Kernenergie sei bankrott, was weder technisch noch finanziell stimmt, von WALD aber auch nur moralisch gemeint war und die AKW-Bauer nicht weiter stören muß, weil sich hier der Geschichte genügend Beispiele dafür entnehmen lassen, daß moralische Konkurse die Kreditwürdigkeit nicht antasten. Der ebenfalls anwesende Graugans-LORENZ war dagegen, die

„Technik weiterhin in den Himmel wachsen zu lassen“,

was bislang kein Hochbauunternehmen vor hat und schlug solche „alternativen Energiegewinnungen“ vor, mit denen die Menschen durch Rückkehr zu den Produktionsmethoden des Tierreichs die Thesen der LORENZ'schen Verhaltenslehre bestätigen können.

 

aus: MSZ 32 – Dezember 1979

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