Das deutsche Lied und die Welt


Unser schönstes Volkslied

Hat ein Land erst einmal eine Nationalhymne, dann ist damit beschlossen, daß die Existenz der Nation gefeiert wird. Für die Bewohner des Landes heißt das, daß sie im öffentlichen Absingen ihren Stolz zu bekunden haben, eine Nationalität zu besitzen. Daß das eine sehr zweifelhafte Annehmlichkeit ist – darüber läßt die 3. Strophe des Deutschlandlieds (zum öffentlichen Vortrag zugelassen) wenig Unklarheit. Was man auch immer von so Sachen wie

„Einigkeit und Recht und Freiheit“

halten mag: sie sind auf jeden Fall nicht für den Bürger da, sondern

„für das deutsche Vaterland“.

Dieser Anforderung des Vaterlands – es will schön frei, rechtlich und einig sein – können die Bürger nur nachkommen, wenn sie a) möglichst wenig an sich und um so mehr an „die anderen“ denken, b) ein ordentliches Gefühl im Leib haben und c) viel arbeiten:

„Danach laßt uns alle streben
brüderlich mit Herz und Hand

ihren Verstand also weglassen. Keine weitere Frage, daß nur so Bürgers „Glück“ sich herstellt –

„Einigkeit und Recht und Freiheit
sind des Glückes Unterpfand“ –

womit die letzten zwei Zeilen es sich erlauben können, wiederholend zusammenzufassen:

„Blüh im Glanze dieses Glückes,
Blühe deutsches Vaterland.“

Nachdem so klargestellt ist, wie Glück und Vaterlandsblüte zusammengehören, könnte man meinen, die Nationalhymne hätte alles gebracht.

Doch, wie schon so oft, hat das Bayerische Kultusministerium die nationale Lücke erspäht und weist nachdrücklich darauf hin, daß die Zeiten alliierter Strophenunterdrückung vorbei sind: der jüngste Erlaß verpflichtet alle Schulleiter, die Erlernung sämtlicher 3 Strophen voranzutreiben und zu kontrollieren (einschließlich des Bayernliedes, versteht sich). Die nationale Lücke besteht darin, daß die ersten zwei Strophen zwar erlaubt sind, nicht jedoch der öffentlichen Feier der Nation dienen dürfen. Diese alliierte Inkonsequenz attackiert das Kultusministerium mit seinem Erlaß: wenn das Vaterland „blühen“ soll, dann muß man sich darüber im klaren sein und auch in aller Öffentlichkeit klarmachen, daß die Ausdehnung der Knospe zur Blüte eben eine Ausdehnung ist, sonst blüht sich nix:

„Deutschland, Deutschland über alles
über alles in der Welt
von der Maas bis an die Memel
von der Etsch bis an den Belt“

Erst recht unsinnig ist es, die zweite Strophe zu verbieten, ist sie doch nur die vorgezogene praktische Anleitung zu den Maximen „Einigkeit und Recht und Freiheit“:

„Deutsche Frauen, deutsche Treue,
deutscher Wein und deutscher Sang
sollen ... uns zu edler Tat begeistern
unser ganzes Leben lang.“

Also: Wenn ferne Binnengewässer zu befreien sind, dann im Namen der höchsten Bildungsgüter der Nation: Wein, Weib und Gesang. Bleibt nur noch die eine Frage offen, ob diese Tugenden dann

„in der Welt behalten
ihren alten schönen Klang“

oder überhaupt erst kriegen. Damit die Frage endlich einer Entscheidung zugeführt werde, hat das Bayerische Kultusministerium sie den bayerischen Schülern zur Prüfung vorgelegt. Natürlich gibt's keine Prüfung ohne vorherige Aneignung des Stoffs.

***

’Lujah, sog i!

Herr Fuchsberger fühlte sich bemüßigt, die deutsche »Grand-Prix-Jury« mit den Worten: »Jeder blamiert sich, so gut er kann« zu beschimpfen. Mit welchem Recht eigentlich.
Wenn Herrn Fuchsberger die Entscheidung der Jury nicht gepaßt hat, so ist das seine Sache. Aber Gott sei Dank sind Ansichten und Geschmäcker der Menschen noch nicht genormt.“
(Herbert de Marche, Würzburg, an den „Gong“)

„Gong“-Leser Herbert de Marche täuscht sich gleich sechsmal. Herr Fuchsberger „fühlte“ sich

1.

nicht, sondern er wußte als freier Mitarbeiter einer öffentlich-rechtlichen Anstalt und geprüfter Olympia-Ansager sehr genau, daß von ihm ein tadelndes Wort zu erwarten war – mit zwar nicht rechtlicher, dafür aber sehr öffentlicher Wirkung zur miserablen Entscheidung der deutschen Grand-Prix-Jury – die nicht gemerkt hatte, (anbei das sehr richtige Urteil des „Gong“-Lesers Rolf Stooß, Schömberg:

„Der Blacky weiß wohl nicht, daß die deutsche Jury zum Grand Prix in Jerusalem aus lauter Laien bestand. Kann oder muß man da nicht eine solche Entscheidung erwarten?“
Man muß nicht, Rolf – sofern man Leute wie dich in die Jury beruft!)

daß bei aller Begeisterung über „Dschingis-Khan“ bzw. Enttäuschung, daß die Israeli diesen Song so mies bewerteten, – ein Lied mit dem Titel „Halleluja“ (!), gesungen von einer Gruppe mit dem äußerst beziehungsreichen Namen „Milk & Honey“ (!!) aus Israel (!!!) dazu noch im eignen Land, ein paar Anstandspünktchen aber immer verdient gehabt hätte.

Blacky fühlte sich also auch

2.

nicht „bemüßigt“, denn bei ihm steckt harte Arbeit und nicht Muße dahinter, wenn er einen solchen Kommentar, der aus dem Innersten seines Herzens kommt, hervorbringt. Ein national anerkannter Showmaster ist der Blacky deswegen (– um Rudi Carell schaut's mittlerweile düster aus, weil auch eine „Miß Germany-Wahl“ nicht vertuschen kann, daß er als Holländer zum deutschen Vaterland eine etwas eigenartige Stellung einnimmt, die vielleicht früher mal lustig gewesen sein mag), weil er schwer an sich gearbeitet hat, um die den nationalen Gefühlen seiner Zuschauer entsprechenden Gefühle auch überzeugend rauszubringen. Und in diesem Fall wäre es diplomatisch und menschlich taktvoll gewesen, den Israeli ein paar Pünktchen mitzugeben.

(Anbei der Irrtum des „Gong“-Lesers Richard Hopstock, Raunheim:

„An diesem Wettbewerb nahmen 19 Länder teil, und es ist vollkommen logisch (gänzlich unangebrachtes Wort, Richard!), daß einige (ja einige!) keine Punkte bekamen. Es stimmt natürlich, daß die Deutschen noch einiges gegenüber Israel gutzumachen haben, doch sollte dies ...“)

Da einer also Showmaster ist, weil er vorbildlich an sich und seinen Gefühlen gearbeitet hat, verkörpert er auch, was gerade als Anstand gilt: Blacky hat ein feines professionelles Gespür dafür, daß die Scheißlieder der Israeli auch nicht schlechter sind als die anderer Nationen, sie also hierin wettbewerbsgleich sind und aufgrund der gefühlsmäßigen Umstände eine positives Vorurteil erwarten können.

(Hier der Fehler der „Gong“-Leserin Ulrike Vetter, Limburg:

„Die Entscheidungsfreiheit der Jury darf auch nicht durch die Politik oder den zitierten »Anstand« beeinflußt werden.“)

Somit wäre auch klar, daß Blacky

3.

sehr wohl ein „Recht“ zu dem hat, was er sagt: sogar ein äußerst wirkungsvolles, nämlich das moralische. Es gehört geradezu zu den Pflichten eines Showmasters, sich dieses Recht herauszunehmen, und zwar nicht nur „eigentlich“, sondern immer und jederzeit.

4.

Das Recht, vor der Kamera seine Meinung sagen zu dürfen, steht also keineswegs – da auch Verpflichtung – jedermann zu. So eine Kamera ist unbestechlich, sie läßt nur objektiv staatsdienliche Meinungsäußerungen zu; wenn der Herr Fuchsberger meinen würde, es wäre „seine Sache“, was er da sagt, dann könnte er es vielleicht zuhaus zu seiner Frau sagen, falls sie es hören will. (Wobei uns nebenbei einfällt, warum sich diese Menschen so oft scheiden lassen: man muß ja davon ausgehen, daß der Fuchsberger aufgrund seiner Charakterbildung zu Hause dasselbe erzählt wie im Fernsehen – und wer hält das schon aus. Zugleich erklärt sich damit, warum sich diese Menschen dann doch nicht scheiden, obwohl es höchste Zeit dafür wäre).

5.

Bemerkungen wie „Gott sei Dank“ sind völlig unangebracht, da erstens der liebe Gott hier überhaupt nicht vorkommt, es ihn selbst im heiligen Land bei solchen Veranstaltungen nur graust, zweitens gibt's also auch nichts zu danken.

6.

Konnte man bis dahin dem Herrn Herbert de Marche noch eine gewisse staatsbürgerliche Naivität zugutehalten, so zeugt seine letzte Bemerkung von abgrundtiefer Realitätsblindheit. Hat er denn keine Ohren, keine Augen? Zu seiner Entschuldigung läßt sich höchstens anführen, daß er eine vage Erinnerung daran hat, Musik sei zum Vergnügen der Menschen da. Der

7.

und zusammenfassende Irrtum ist „Gong“-Leser H. Wischmann, Donauwörth, gelungen:

„Ich fand die Worte des Herrn Fuchsberger eine Frechheit. Schließlich werden bei diesem Wettbewerb nicht Länder, sondern Lieder bewertet.“


Unser Kommentar:

Um keinen Zweifel aufkommen zu lassen: da es weder Musik noch Vergnügen zu bewerten galt (oder sollte Andre Hellers „Jerusalem“ die Ausnahme sein? spricht sein letzter Platz für ihn oder für die Juroren? Einsendungen an die MSZ sind möglich, aber nicht nötig), ist die Reihenfolge nur gerecht:

– Israels „Halleluja“ hatte nicht nur den Vorteil des Heimpublikums an den Auslinien, sondern brachte auch auf unnachahmliche Art die musikalische Verarbeitung eines welthistorischen Schicksals zustande: im schmeichlerischen Schubiduah gings los, die Kunde vom Frieden, um dann allmählich in einen mitreißenden Marsch überzugehen – das alles vorgetragen von flotten Disco-Hängern. Na, wenn das nicht die überzeugende Demonstration eines Friedens mit Zähnen und Klauen ist!

– Auch die Spanier hatten es mit ihrem Kinder-Song voll getroffen. Getreu der Devise, daß oft nur die Brechstange zum doppelten Punkterfolg führt, mixten sie die genial einfache Mischung vom „Jahr des Kindes“, singende Kinder, mütterlich aussehende Sängerin. Daß sie schließlich doch knapp geschlagen nur auf dem zweiten Platz landeten, dürfte sich dem etwas überzogenen Schlußgag verdanken, als die Kinder Fähnchen mit einem „Danke“ in allen möglichen Sprachen herauszogen: an und für sich gut überlegt, doch gerade im „Jahr des Kindes“, wo man doch ganz und gar nur für die Kinder dazusein hat, war die Erinnerung an ihre sonstige sehr nützliche Verwendung, nämlich als buntes Fähnchengewimmel an Straßenrändern wenn ein Staatsmann kommt, etwas deplaziert.

– Die Franzosen hatten zwar auch in diese Richtung kalkuliert, nämlich das Nationale herauszulassen und sich als Spanier bzw. Franzose damit auf der Welt beliebt zu machen, daß man die menschheitsumgreifende, aber niemanden schädigende Problematik der geknechteten Kinder (+ Liebe) in den Vordergrund rückt, doch war der alleinige Auftritt eines madonnenäugigen Trampels ein bißchen karg. Immerhin: die Kinderthematik angetippt, die ewige Gültigkeit der Liebe günstig damit zusammengewirkt, musikalisch nicht zuweit danebengetreten – die Platzziffer läßt sich vertreten.

– Platz vier für „Dschingis-Khan“. Das wirft Probleme auf. Lassen wir die unangefochtene Spitzenposition von „Hallelujah“ außer Acht, so muß man sagen, daß die nächstbest gelungene musikalische Darbietung nationalen Empfindens zweifellos von diesem Song geleistet wurde. Hier muß man jedoch den Verfassern den Vorwurf machen, daß ihre an sich gelungene Belebung des Fahrtenlieds durch den Disco-Sound, die Modernisierung der Nationalhymne, geläufige nationale Vorurteile gegenüber dem neuerdings wieder „häßlichen Deutschen“, nicht genügend berücksichtigt. Weil Bescheidenheit gerade dann eine Zier ist, wenn es einem besonders gut geht, sich hierauf prompt Sympathie einstellt, hätten dem Lied ein paar sanfte Passagen gut getan. Gitarren, Geigen und so. Also: aufgrund des taktischen Versäumnisses eine gerechte Rückstufung. Kapital sei Dank gibt es in der „Hitparade“ solche Probleme nicht.

 

aus: MSZ 29 – Mai 1979

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