Im Anschluß an unsere Analyse von Gesellschaft und Ökonomie der DDR beschäftigen wir uns mit dem Selbstbewußtsein des DDR-Sozialismus in seiner höchsten Form, der Wissenschaft, die nach dem Selbstverständnis der ostdeutschen Kommunisten Grundlage und leitendes Prinzip beim Aufbau des Sozialismus ist. Da im Spektrum der DDR-Wissenschaft mittlerweile ein Phänomen auffällt, das wir aus dem bürgerlichen Wissenschaftsbetrieb her zur Genüge kennen, der Pluralismus, es also in der Literatur die verschiedensten Auffassungen von „sozialistischer Wissenschaft“ gibt, haben wir uns auf vier grundlegende Werke beschrankt: sie stellen das offizielle Schatzkästlein des „Marxismus-Leninismus“ dar, auf dem die gesamte DDR- Wissenschaft so fest und uneingeschränkt steht wie auf dem „proletarischen Standpunkt“:

Politisches Grundwissen, Berlin 1970 (I)
Marxistische Philosophie. Lehrbuch. Berlin 1967 (II)
Wissenschaft im Sozialismus, Berlin 1973 (III)
Philosophisches Wörterbuch, Leipzig 1970 (IV)


Die dialektischen Umtriebe der „marxistisch-leninistischen“ Wissenschaft

In Sachen Wissenschaft tut sich der Antikommunismus leicht: die in den Lehrbüchern der DDR-Wissenschaft ausgebreiteten Weisheiten des Marxismus-Leninismus werden als weltanschauliche Knebelung des wissenschaftlichen Denkens denunziert, wobei der Vorwurf der Indoktrination es mit der Berufung auf die offensichtliche Tatsache bewenden läßt, daß die ML-Wissenschaft den hierzulande als Freiheit des Denkens verehrten Pluralismus nicht zu schätzen weiß. Daß diese Art der Aburteilung, bei der man mit Vorliebe das Pathos der Aufklärung auskramt, nicht von der Sorge um die Wissenschaft geplagt ist, verrät jedoch ebenso die Formulierung des Vorwurfs, die sich gerade über den Punkt entrüstet, daß die Wissenschaft auf ausschließlich einen Standpunkt verpflichtet wird, (so als ob bei der im freien Westen geübten Reihum-Relativierung und Anerkennung jeder Ansicht durch eine Vielzahl konkurrierender Standpunkte die Wissenschaft in besten Händen wäre) wie die Fortsetzung des Angriffs, es handele sich bei der DDR- Wissenschaft um eine Ersatzreligion. Gegen Religion hat man nichts einzuwenden, wohl aber gegen deren Ersatz durch eine andere Weltanschauung, daß heißt aber gegen die Instanz, die sich eine ihr entsprechende gezimmert hat: in seiner mißbilligten Einseitigkeit ist der ML Instrument eines Staates, den die genannte Wissenschaftskritik verabscheut. Wer den wissenschaftlichen Pluralismus als die Verwirklichung demokratischer Ideale anpreist, der greift mit der inkriminierten Verpflichtung der Wissenschaft auf nur eine gültige Betrachtungsweise einen bestimmten Staat an, der sich aus gar nicht wissenschaftlichen Gründen mißliebig gemacht hat. Es ist daher kein Wunder, daß die Phrasen des ML bislang noch keine Widerlegung erfahren haben, daher auch nicht der Grund für ihr Gedeihen in der DDR gefunden wird und sie stattdessen als Moment des Pluralismus, als interessanter Ansatz Einzug in die westdeutschen Seminare gehalten haben.

Während man also auf beiden Seiten in vollster Übereinstimmung Bekenntnisse zu einer parteilich betriebenen Wissenschaft ablegt und damit zugibt, daß es einem weniger um die Objektivität des jeweiligen Gegenstandes zu tun ist, als um die theoretische Zurichtung der Welt je nach spezifischen Interessen, so beginnt der Streit dort, wo die östliche Wissenschaft nur ein solches Interesse gelten lassen will. Sie erklärt sich damit zum Gehilfen der Gewalt, allerdings ganz anders als in der hier bekannten Weise. Der im anderen Deutschland gelehrte ML kennt nur ein Interesse, er bekennt sich zum revisionistischen Staat und betreibt in der eintönigen Subsumtion aller Gegenstände unter die Proletarische Weltanschauung die Unterordnung aller übrigen Interessen unter die Staatsraison. Seiner Aufgabe der erforderlichen Beweisführung für die Berechtigung dieses einen Interesses als „historische Notwendigkeit“, „objektive Gesetzmäßigkeit“ usf., usf. entledigt er sich durch seine Transformation zur Moral, die den nicht-vorhandenen Nutzen beschönigt, der den Einsatz der Staatsgewalt gegen die Bürger außerhalb der Wissenschaft verlangt. Hat sich so die DDR-Wissenschaft in den Dienst eines Staates begeben, dem sie die Rechtfertigung und die Ideale für die praktische Niederhaltung der Ansprüche seiner Bürger liefert, so zeigt sie darin auch zugleich den begrenzten Nutzen, denn die Bekämpfung von Interessen läßt sich mit Philosophie nur rechtfertigen. Die theoretische Verurteilung divergierender Interessen ist die Drohung mit der Staatsgewalt. Die DDR-Wissenschaft, deren Blüten, wie die Sätze über die Materie unter aufgeklärten Menschen als Kuriosum Heiterkeit erregen, ist das Hilfsmittel einer weniger heiteren Staatsmacht, die sich das Wohlergehen ihrer Bürger so sehr zum Anliegen gemacht hat, daß sie es nicht ihrer freien Konkurrenz überlassen will, diese vielmehr ihren eigenen Zwecken nutzbar zu machen und daher schon im Bereich des Denkens ihre Bürger Mores zu lehren sucht.

Für diese moralische Einschwörung der Gesellschaftsmitglieder auf den Arbeiter-und-Bauern- Staat ist MARX wenig geeignet – war er doch der Auffassung, daß den Arbeitern am ehesten durch die Beendigung ihres Arbeiterdaseins und nicht mit der Errichtung eines für Arbeiter nützlichen Staatswesens geholfen wäre – weshalb der ML einsame Spitzenleistungen vollbringen muß, MARX auf die humanistischen, sprich staatsbürgerlichen Füße zu stellen.

 

Oh Jahrhundert, oh Wissenschaft!

„Wir haben das Glück, in der bedeutsamsten Zeit der bisherigen Menschheitsgeschichte zu leben.“ (I, 5) So jubilieren DDR- Wissenschaftler angesichts eines Zustandes ihrer Gesellschaft, in dem „alle Errungenschaften der Kultur, Wissenschaften und Technik ... den Werktätigen zur Verfügung (stehen). Endlich „nehmen die weltverändernden Ideen von Marx, Engels und Lenin praktische Gestalt an.“ (I, 6) „Wer“, so wird weiter gefragt, „möchte in dieser revolutionären Zeit nicht ein revolutionärer Kämpfer sein!“ Kaum einer, so scheint es, denn: „In unserer Republik haben sich viele Werktätige zu revolutionären Kämpfern entwickelt.“ Jedoch es genügt nicht, nur vom „uralten Traum der Werktätigen vom Frieden“ allein, kommt der Sozialismus nicht weiter: „Unsere Erfolge fallen uns nicht in den Schoß.“ Zum Willen muß auch das Wissen kommen: „Darum müssen wir alle klug regieren ... „hochgebildete Menschen ... werden ... über hohe Fachkenntnisse verfügen ... und diese von einer klaren politischideologischen und weltanschaulichen Position aus ... anwenden.“ (I, 7) Die Wissenschaft ist es also, die die Entwicklung des Sozialismus auch in der DDR bestimmend vorantreibt. Oder: „Die wissenschaftlich-technische Revolution eröffnet der Menschheit im Sozialismus eine begeisternde Perspektive.“ (I, 529) Diese Perspektive ist sogar die Verwirklichung „uralter Träume der Menschheit“. Nun gibt es Wissenschaft aber hüben und drüben, während sie jedoch in der DDR dazu führt, „daß das Schöpfertum des Menschen eine völlig neue Qualität erhält und „unser sozialistisches Vaterland weiter entwickelt und stärkt“ ist „in den kapitalistischen Staaten das Streben nach größtmöglichem Profit die grundlegende Triebkraft der wissenschaftlichtechnischen Revolution.“ (I, 533) Schlimmer noch: „Besonders die westdeutschen und die USA-Imperialisten mißbrauchen skrupellos die Erkenntnisse der Wissenschaft zur Vorbereitung eines atomaren Vernichtungskrieges.“ Würde das Spezifische der DDR- Wissenschaft jedoch nur am Auftraggeber und an der Zielsetzung liegen, so fiele ihre Besonderheit mit derjenigen des sozialistischen Aufbaus in der DDR zusammen, den wir in der letzten Nummer untersucht haben und der jüngst zu Berlin (Hauptstadt der DDR) mit Pauken und Trompeten und einer Parade der Volksarmee gefeiert wurde. In ihren Verlautbarungen jedoch haben die ostdeutschen Kommunisten den Begriff der sozialistischen Wissenschaft entdeckt und ihn zum Gegenstand einer „marxistisch-leninistischen Wissenschaftstheorie“ gemacht. Die zentrale Aussage lautet folgt: „Die der kapitalistischen historisch überlegene Produktionsweise, der im Vergleich zur Praxis der Bourgeoisie qualitativ höhere Typ der Praxis der Arbeiterklasse bedingt zugleich objektiv einen weiteren Erkenntnishorizont der sozialistischen Wissenschaft gegenüber der bürgerlichen.“ (III, 43)

Den wollen wir uns im Folgenden anschauen.

 

I. Im Osten alles Neue?

„Die moderne Wissenschaft ist eine äußerst komplizierte und vielschichtige Erscheinung.“

Der Westen pocht auf die unbegrenzte Entfaltung und Vielfalt der Wissenschaft, ihre Freiheit von jedem äußeren Zwang, die ständig wachsende Zahl ihrer Disziplinen, die teils sich ständig differenzieren, teils gerade deshalb wieder zusammenlassende Gebiete hervorbringen, durch die „Zusammenschau“ zweier Erkenntnisgegenstände, was durch die Copula des Bindestrichs geschieht, (z. B. Sozio-Linguistik). Im Osten soll hingegen „unter der Knute der Staatspartei“ die Wissenschaft verkümmern, an die Stelle ihrer Vielheit die Einheit der „Staatsideologie“ getreten sein.

Ungeachtet dieses Zanks findet aber eine rege westliche Bautätigkeit am Gebäude der Wissenschaften auf zahlreichen Kongressen statt, auf denen Kommunisten eifrig mit den sonst arg gezäunten „Lakaien der Monopole“, wie sie ihre westlichen Wissenschaftlerkollegen sonst zu nennen pflegen, streng „auf der Basis des gegenseitigen Nutzens“ den „Meinungsaustausch“ pflegen, der stets, wie man hinterher nachlesen kann, „fruchtbar“ ist. Selbst auf einem Gebiete, wo man sich sonst wechselseitig nur Grobheiten zu sagen pflegt, dem der Philosophie, sind die „Krisendenker der Bourgeoisideologie“ willkommene Diskutanten für die „marxistisch-leninistischen Philosophen“ wie gerade jüngst wieder der Moskauer Hegelkongreß vor Augen führte. Was immer der „faulende“ Westen auf dem Feld der Wissenschaft hervorbringt, der Osten greift begierig alles Neue auf und rubrifiziert es als neuen Sieg der „wissenschaftlich-technischen Revolution.“

Diese traute Gemeinsamkeit geht sogar soweit, daß mancher fürwitzige Kritiker bürgerlicher Wissenschaft in bundesdeutschen Lehrveranstaltungen sich von einem standesbewußten Ordinarius vorhalten lassen muß, er solle gefälligst mehr Respekt vor einer ..auch in den sozialistischen Staaten anerkannten Kapazität“ an den Tag legen. Sein Echo findet solche „Kollegialität“ z.B. in einer Polemik gegen die Roten Zellen AK im FDJ-Organ „Forum“, worin ein S. Wolff die bürgerliche Wissenschaft gegen eine allzu pauschale Verurteilung in Schutz nimmt (vgl. Forum, Nr. 5 1974)

Aber auch der Westen begrüßt freudig interessante Anregungen aus dem marxistischen Lager.

Man fragt sich, wie es denn nun um die Differenz zwischen Ostwissenschaft und Westwissenschaft bestellt sein soll. Der DDR-ler verweist auf die Gesellschaft. Der Sozialismus entwickelt sich auf wissenschaftlicher Grundlage: auf die einzelnen Bereiche der sozialistischen Entwicklung spezifiziert, benennt die DDR-Wissenschaft derer drei:

1. die Produktion
2. die ökonomische Planung und Leitung

Sowie 3. (worauf sie besonders stolz ist) die gesellschaftliche Entwicklung,

vulgo die Politik. Und hier meint sie eine wesentliche Differenz zur bürgerlichen Wissenschaft entdeckt zu haben: während auch sie einräumt, daß „die kapitalistische Industrieproduktion ... ohne eine gediegene wissenschaftliche Grundlage undenkbar (ist), soll diese bereits für die Organisation der Wirtschaft wegfallen, denn „der wissenschaftliche Charakter des kapitalistischen Produktionsprozesses gründet sich vornehmlich auf die Anwendung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse.“ Immerhin läßt das einschränkende .vornehmlich“ noch die Möglichkeit offen, daß auch die bürgerlichen Wirtschaftswissenschaften in die Organisation der Produktion und Distribution eingehen. Gänzlich Sense mit der Wissenschaftlichkeit soll es im „staatsmonopolitischen Kapitalismus“ jedoch in der Politik sein, denn: „Indes verläuft die gesellschaftliche Entwicklung insgesamt im Kapitalismus spontan.“ (Zitate III, 15) Diese Behauptung verblüfft, haben doch mittlerweile auch DDR-Planer die „Vorzüge“ betriebswirtschaftlicher Modelle aus dem „Goldenen Westen“ entdeckt, etwa die Entscheidungsorientierungen für Unternehmer des Münchner BWL-Cracks Heinen finden auch im DDR-System der ökonomischen Planung und Leitung ihre Verwendung; zum anderen vergeht kaum ein Tag im Leben eines bürgerlichen Politikers, an dem ihn nicht ein „Sachverständigengutachten“ aufschreckt und zur Korrektur politischer Entscheidungen zwingt bzw. ihm Mittel in die Hand gibt, Entscheidungen zu treffen. Der brain-trust des Palais Schaumburg dürfte an Zahl der Kopie dem des Ostberliner Hauses der Ministerien kaum nachstehen.

 
Scientia est una

Wo die DDR-Wissenschaft innerwissenschaftlich eine Differenz zur bürgerlichen an sich feststellt, greift sie eine alte Forderung auf: die Wissenschaft soll eine sein, über ihre Aufsplitterung in Disziplinen hinweg. Gefolgert wird dies aus der Feststellung, daß der Sozialismus die Wissenschaft als Ganze benötigt (cf. III, p. 19). Die DDR-Wissenschaft behauptet also von sich, an einem Gesamtsystem der Wissenschaft zu arbeiten, das als einheitlich wissenschaftliche Welterklärung auftreten kann. Dabei kommt ihr „der objektive Prozeß (zu Gute), in dem Natur- und Gesellschaftswissenschaften im Sozialismus immer näher zusammenrücken...“ (idib). Jedoch hat auch bürgerliche Wissenschaft ohne die Hilfestellung dieser „gesetzmäßigen Konsequenz des historischen Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus“ (ibid) sich zur Forderung nach einer Wissenschaft als Ganzer immer wieder aufgerafft und dies auch heute trotz ihrer „tiefen Krise“. Trotz ihrer Spezialisierung hält sie daran fest, daß die „Gegenstände nicht in verschiedene, unzusammenhängende Gebiete zerfallen, sondern es gibt nur ein Gebiet von Gegenständen und daher nur eine Wissenschaft.“ (Rudolf Carnap, Der logische Aufbau der Welt). Anstatt sich aber an die Arbeit zu machen und in die Wissenschaft einzutreten, was durchaus arbeitsteilig geschehen kann, will sie ihre Einheit durch die Klärung der Frage herstellen, was Wissenschaft eigentlich sei Dies ist jedem Studenten in diversen Varianten-aus dem bürgerlichen Wissenschaftsbetrieb geläufig: man besucht einen Grundkurs zur Einführung in eine beliebige Einzelwissenschaft und der Veranstalter eröffnet, daß man sich zuerst über das verständigen müsse, was überhaupt Wissenschaft sei. Hierin reflektiert die Unsicherheit bürgerlicher Wissenschaft über den Erkenntniswert, den sie selbst hat. Diese Unsicherheit hat sich mittlerweile zur eigenen Disziplin gemausert und nennt sich Wissenschaftstheorie. Nach unseren bisherigen Erfahrungen mit der DDR-Wissenschaft kann es uns nicht mehr verwundern, daß auch sie in ihrem Haus Platz hat für eine Disziplin namens Wissenschaftstheorie, die sogar auf Marx und Engels sich beruft, die „mit dem dialektischen und historischen Materialismus ... zugleich die Grundlage einer marxistischen Wissenschaftstheorie“ schufen (IV, p. 1172 f.). Die DDR-Wissenschaft gerät hier jedoch erstmals in ernste Abgrenzungsschwierigkeiten und sieht sich gezwungen, ihre Wissenschaftstheorie von der bürgerlichen zu distanzieren. Während diese „Wissenschaft ... auf ein System von Begriffen, Aussagen, Theorien, Hypothesen usw. reduziert...“ (III, 38), schließt jene eine „weltanschaulich-theoretische erkenntnistheoretische Prämisse in das Fundament ihres theoretischen Gebäudes ein“ II, 38). Und diese besteht — wir haben es geahnt — aus der „marxistisch-leninistischen Gesamtposition.“ Diese hilft hier wie überall, wie wir aus dem berufenen Munde erfahren:

„Welche Aufgabe auf einzelnen Gebieten auch immer theoretisch zu klären ist, sie wird nur dann schöpferisch zu lösen sein, wenn sie von der Gesamtposition des Marxismus-Leninismus angepackt wird.“ (E. Honecker, Bericht des ZK an den VIII. Parteitag der SED, Berlin 1971, o. 96)

Wer etwa bislang der Auffassung war, Wissenschaft sei geistige Tätigkeit, wird von den DDR-Wissenschaftstheoretikern belehrt, daß er damit „in dem Denkschema befangen (bleibt), daß Forschung letztlich eine nur geistige Leistung sei.“ (III, p. 213).


Dem Denken auf die Sprünge geholfen

Solche Einstellung hat „tiefe klassenmäßige Wurzeln“. Letztlich liegt dem die „Ideologie ... der Sklavenhaltergesellschaft“ zugrunde, in der zwischen körperlicher und geistiger Arbeit unterschieden wurde, wobei diese für die Freien Muße, jene aber für die Sklaven Plack und Qual war. Die DDR- Wissenschaftstheorie macht endlich Schluß mit dem „Dogma ... (von der) Herrschaft der angeblich geistig überlegenen über die geistlose »Masse«“. Sie macht die „Untersuchung des wissenschaftlichen Schöpfertums“ von den „allgemeinen Problemen der Arbeitsteilung“ abhängig, bei günstiger Organisation der Denktätigkeit stellen sich Ergebnisse mit der Präzision eines Paramenter-Systems ein. Wer das nicht glaubt, betrachte das folgende: (in: III, p. 232).

Abb. 1

 

II. Das rote Halstuch der DDR-Wissenschaft: Der „marxistisch-leninistische“ Standpunkt

„Sie (die Wissenschaft) ... besitzt im dialektischen Materialismus eine feste wissenschaftliche Grundlage.“ (Programm der SED, p. 99)

Aus obigem Programmsatz der SED geht hervor, daß Wissenschaft erst durch den dialektischen Materialismus zur Wissenschaft wird: die WISSENSCHAFT hat in ihm ihre WISSENSCHAFTLICHE Grundlage, was immer das zunächst auch heißen mag. „Dies nun freilich nicht in dem Sinne, als gäbe der Marxismus-Leninismus den äußeren Rahmen ab, gleichsam das schmückende Beiwerk ... um ihr ein gefälliges Aussehen zu verleihen.“ (III, 35) Ganz im Gegenteil: der Besitz des „Marxismus-Leninismus“ wirkt wie derjenige des Steins der Weisen: er ist der Schlüssel zur Erkenntnis schlechthin, zumindest insofern es die Geisteswissenschaft angeht: „Die Erkenntnis der gesellschaftlichen Entwicklungsgesetze ist nur vom Standpunkt der Arbeiterklasse (= Marxismus-Leninismus, d. V.) möglich.“ (III, 16) Hierbei ist jedoch zu beachten, daß es auf den vollen Flächeninhalt des Standpunkts ankommt:

„Die Gesamtposition des Marxismus-Leninismus aber umfaßt die marxistisch-leninistische Philosophie ... die politische Ökonomie und die Lehre vom wissenschaftlichen Kommunismus.“ (III, 44)

Schauen wir uns also diese Gesamtposition näher an.

Die DDR-Wissenschaft hingegen hat in der marxistisch-leninistischen Philosophie ihre proklamierte Grundlage. Sie soll Synonym sein für den dialektischen und historischen Materialismus, die Weltanschauung des Proletariats (vgl. IV, p. 684). An ihrem Anfang steht eine Frage und ihre Lösung:

„Im System der inhaltlich und logisch miteinander verbundenen philosophischen Probleme nimmt eines von ihnen — das Verhältnis des Bewußtseins zur Materie — eine besondere Stellung ein. Die Lösung dieser Frage steckt die Grundlinie jeder philosophischen Konzeption bei der Lösung aller übrigen Probleme und Fragen ab, bestimmt das Herangehen an ihren Inhalt und ihre Interpretation.“ (II, 114)

Damit hat die marxistisch-leninistische Philosophie gelöst, was anderen, z. B. Hegel, für den „die Frage, was den Anfang der Philosophie bilde, ein schwieriges Problem“ war. Die „dialektisch-materialistische Lösung der Grundfrage der Philosophie“ besteht nun darin, „daß außerhalb des menschlichen Bewußtseins, außerhalb der Sinneswahrnehmung und des Denkens und unabhängig von ihnen eine reale Außenwelt existiert.“ (II, 150) Dies allerdings wird kein normaler Mensch bestreiten: auch in der Philosophiegeschichte muß man schon sehr lange suchen, um irgendwelche Spinner zu entdecken, die dies abstreiten würden. Hegel z. B. tut es nicht und selbst der Ahnvater des Idealismus, Platon, läßt in seinem Höhlengleichnis eine Welt außerhalb der Höhle zu. Warum soll also plötzlich zum Problem werden, was eine „spontane Einsicht“ ist, wie die DDR-Philosophen selbst bestätigen? (II, 150) Sie bemerke auch, daß die so gestellte Grundlage keine ist und beschäftigen sich sofort mit der Aufgabe, „das Wesen, den Charakter, die Natur dieser Außenwelt theoretisch zu erfassen.“ Ihre allgemeinste Erfassung ist die Einführung des Begriffs der Materie. Dies wäre tatsächlich ein philosophischer Zankapfel, würde man unter Materie das Landläufige verstehen, daß sie stoffliche Substanz ist im Gegensatz zur nichtstofflichen — Geist. Die marxistisch-leninistische Philosophie läßt es aber dazu gar nicht kommen, denn sie zitiert Lenin, der seinerzeit schrieb:

„ … die einzige Eigenschaft der Materie, an deren Anerkennung der philosophische Materialismus gebunden ist, ist die Eigenschaft, objektive Realität zu sein, außerhalb unseres Bewußtseins zu existieren.“ (Werke, Bd. 14, p. 124).

 

Eine Zusatzfrage zur „Grundfrage der Philosophie“

Und das ist alles? So fragt z. B. der Münchner Philosoph N. Lobkowicz und vermißt eine Aussage nach dem Wesen der Substanz aus der diese objektive Realität bestehe. Dem entgegnen die marxistisch-leninistischen Philosophen mit dem Hinweis, daß die Materie eine „erkenntnis-theoretische Definition“ sei (Buhr/Klaus): Die „Grundfrage der Philosophie“ sei keine nach der substantiellen Beschaffenheit der Welt, sondern sie ziele auf das, was Erkenntnis ihrem Begriffe nach sein soll. Diese Reflexion kulminiert in der Frage: „Kann das Bewußtsein des Menschen die Welt erkennen?“ (II, 124). Philosophen wie Hegel haben diese Frage für so trivial gehalten, daß sie es anscheinend nicht oft genug hingeschrieben und sich somit dem Vorwurf der „Marxisten-Leninisten“ aussetzen, sie würden die Existenz einer vom Bewußtsein unabhängigen objektiven Realität leugnen. Die marxistisch-leninistische „Grundfrage der Philosophie“ macht sich also nur aus unerklärlichen Gründen zum Problem, ob es Erkenntnis gibt (gäbe es keine bewußtseinsunabhängige Realität, hätte Erkenntnis keinen objektiven Gegenstand). Wie jede Wissenschaft beantwortet sie die Frage positiv. „Der marxistische Materialismus ist die philosophische Theorie von der Materialität der Welt.“ (IV, p. 685) kann also nur heißen, daß die marxistische Philosophie von der Objektivität der Welt ausgeht. Wenn das der Materialismus ist, so wird die Rede von den „zwei antagonistischen Lagern der Philosophie“ Materialismus und Idealismus recht dubios, denn darin würde auch der Idealismus von Platon bis Hegel zustimmen.

 

Die marxistisch-leninistische Philosophie muß also zur zweiten Frage übergehen, denn — wie sie selbst zuweilen bemerkt — auch

„Hegel verteidigt zum Beispiel die Erkennbarkeit der Welt deshalb, weil in seinem philosophischen System die objektive Welt ein Produkt des Weltgeistes ... ist.“ (II, 124, Hervorhebung von uns).

Diese Aussage eines Idealisten

„erfordert eine klare und eindeutige Lösung des Problems: Bestimmt letzten Endes Bewußtsein die Materie oder die Materie das Bewußtsein?“

oder

„Was ist primär und was ist sekundär?“ (II, 115)

Diese Frage kommt dem durchschnittlichen Marx-Leser bekannt vor, erinnert er sich an das Vorwort zur „Kritik der politischen Ökonomie“: es muß aber auffallen, daß Marx dort ein anderes Problem verfolgte. Das Bewußtsein der Menschen in einer bestimmten Gesellschaft war seine Fragestellung und nicht die nach dem Verhältnis von Denken und Materie.

Verlassen wir jedoch Marx und kehren zu unseren „marxistisch-leninistischen“ Philosophen zurück. Wir haben sie bei dem ernsten Problem verlassen, „was das Primäre ,das Bestimmende, in dem Wechselverhältnis von Materie und Bewußtsein ist (?)“ (II, 115). Hier erleben wir jedoch eine herbe Enttäuschung. Wir erfahren nämlich,

„daß man weder die Materie (= objektive Realität d. V.) noch das Bewußtsein »an sich« unabhängig voneinander philosophisch bestimmen kann.“ (II, p. 54)

Anstatt es dann zu lassen, verfallen die DDR-Philosophen auf einen Dreh: sie werden doch bestimmt und zwar „durch ihre Gegenüberstellung und die Feststellung, was von beiden das Primäre ist.“ Diese „Feststellung“ geschieht durch eine Entscheidung, durch die Inbesitznahme eines weltanschaulichen Standpunkts. Dieser also und nichts anderes „hat es zum erstenmal gestattet, das wahre Wechselverhältnis von menschlichem Bewußtsein und objektiver Außenwelt ...zu erkennen.“ (II, 119). Der Satz faßt den Kern der „marxistisch-leninistischen“ Philosophie in der Behauptung zusammen: Erkennen heißt einen Standpunkt haben! (Worin der Standpunkt besteht, ist uns zunächst einerlei.) Solche Philosophie, die sich auf Marx beruft, ist damit bei Fichte gelandet („Was für eine Philosophie man hat, hängt davon ab, was für ein Mensch man ist!“ So löst bekanntlich der „subjektive Idealist“ die „Grundfrage der Philosophie“.) Nicht weil Marx und Engels richtige Wissenschaft trieben, beruft die DDR-Philosophie sich auf sie, sondern weil sie „auf dem Klassenstandpunkt des Proletariats .. . stehend, den ganzen Schatz des menschlichen Wissens kritisch verarbeiten“ (IV, p. 691) vermochten. Nicht weil die objektive Realität erkannt wurde lassen sich Aussagen machen über ihr Verhältnis zum Bewußtsein, sondern weil man sich auf den Standpunkt vom Primat des Seins gestellt hat, muß dieses das Bewußtsein bestimmen. Hier zeigt sich, daß das Aufwerfen der „Grundfrage der Philosophie“ durch die DDR-„Marxisten-Leninisten“ Teil des Problems ist, das sie zu beantworten beansprucht: die Frage, ob Erkenntnis möglich ist, wird verwechselt mit dem Problem, wie Erkenntnis möglich ist. Die Antwort auf jene wird für dessen Lösung ausgegeben. Mehr noch: aufbauend auf der dezisionistischen „Lösung“ der Zusatzfrage zur „Grundfrage“ erhebt sich jenes pseudowissenschaftliche Konstrukt namens Diamat, in dem es von krausen metaphysischen Aussagen nur so wimmelt. („Die Materie ist ewig, unendlich, ihrer Grundgesetze sind viere usw.“) und die bürgerlichen Kritikern einladend Tür und Tor öffnen zur Verketzerung des Marxismus als einer modernen Form der Religion. Die Standpunktmarxisten die ja nach wie vor behaupten, das, was sie aus ihrem Standpunkt rausleiern, sei Wissenschaft, sehen sich in einer Lage, die ähnlich derjenigen ist, von der aus Thomas von Aquin im ausgehenden Mittelalter das Christentum philosophisch verteidigte: vom christlichen Standpunkt aus versuchte er eben diesen mit der Vernunft in Einklang zu bringen, Glaubenssätze wissenschaftlich zu affimieren. Diese Position hatte die bürgerliche Philosophie, soweit sie etwas taugt, überwunden. Von ihrem Ziel, zu erkennen, was die Welt ihrem Begriffe nach ist, haben die Klassiker des Marxismus stets mit Hochachtung geschrieben. Es fiel ihnen nicht im Traum ein, etwa Hegel vorzuwerfen, er habe keinen proletarischen Standpunkt gehabt. Die Kritik an falschen Urteilen der Hegelschen Philosophie findet sich in ihren Werken, ohne daß sie sich die Zeit nehmen konnten, „das Rationelle der Hegelschen Dialektik“ darzustellen. Die DDR-Philosophie, die wissenschaftliche Erkenntnis zur Frage des Standpunktes machen will, ist somit auch keine bürgerliche, wie ihr dies von „Antirevisionisten“ vorgeworfen wird: sie fällt hinter diese zurück, will aber Probleme einer nachbürgerlichen Gesellschaft lösen.

Die „weltanschaulichen Konsequenzen“ werden gnadenlos gezogen

„Es gibt einige, die unter dem Verdacht stehen, daß sie die Revolution nur machen wollen, um den dialektischen Materialismus durchzusetzen. Daß diese Weltbildhauer sich auf das Proletariat berufen, ist nur Service (Kundendienst).“ Bertolt BRECHT

Hat die DDR-Wissenschaft erst einmal die „Grundfrage der Philosophie“ als gelöste und darauf aufbauend die hier nicht näher dargestellte „marxistisch-leninistische Erkenntnistheorie?“ im Tornister, so ist die „marxistisch- leninistische Gesamtposition“ so gut wie gewonnen. Jetzt nämlich stellt sich der Historische Materialismus nur noch als „die bedeutendste Errungenschaft des marxistischen philosophischen Materialismus“ dar (IV, p. 687). Er ist die „Anwendung“ der „Gesetzmäßigkeit der Entwicklung und Bewegung der Materie“ auf die gesellschaftlichen Prozesse.

Unter der Hand hat sich der „marxistisch-leninistische- Materiebegriff“ von der erkenntnistheoretischen doch wieder zur ontologischen Fundamentalkategorie gemausert, deren Substanzialität gefordert ist (hierzu bemüht die DDR-Philosophie philosophische und naturwissenschaftliche Autoritäten von Demokrit bis Maxwell), um eine ihr innewohnende Gesetzmäßigkeit behaupten zu können, die dann für die ganze Welt bestimmend sein soll: aus den einfachsten Formen der Materie aufsteigend wird die ganze Well mit der visionären Kraft apokrypher Evangelien neu erschaffen.

Eine originelle Frage

„Marx und Engels stellten die Fragen: »Was ist die Gesellschaft?« »Welches sind die entscheidenden Kräfte, die ihre Entwicklung und Veränderung bewirken?« Das war eine völlig neue, dialektisch-materialistische Fragstellung.“ (1, p. 17)

Die große Urmutter Materie versöhnt endlich im Kopf der DDR-Philosophen die Natur mit dem Geist: „Als Grundformen der Bewegung der Materie unterscheiden wir die mechanische, die physikalische, die chemische, die biologische und die gesellschaftliche Bewegungsform.“ (II, p. 162). Der Kommunismus ist für die „Marxisten-Leninisten“ nur der vorläufig höchste Ausdruck der Bewegungsform der Materie, das Ende einer „Entwicklung der Welt“ vom Blei zur Partei, (cf. II, p. 388-414).

Für die Kritik der Politischen Ökonomie, immerhin das Lebenswerk von Marx ist weder im dialektischen, noch im historischen Materialismus ein Plätzchen frei. Ihr geht es wie der Wissenschaft in der Scholastik: sollte diese Magd der Theologie sein, so „wird der historische Materialismus durch die Untersuchungen der marxistischen politischen Ökonomie untermauert.“ (IV, p. 675).

Dafür wird der Wissenschaftliche Sozialismus, so nannten Marx und Engels ihre revolutionäre Theorie, gänzlich neu gefaßt: er darf jetzt nur noch „Gesetzmäßigkeiten der sozialistischen Revolution und der nationalen Befreiungsrevolution (I)“ untersuchen (IV, p. 675). Der Marxismus als Inbegriff der theoretischen Aussagen von Marx und Engels über die bürgerliche Gesellschaft, wird von seinen DDR-Interpreten zur Hilfswissenschaft degradiert: er dient nur noch zur „Untermauerung“ einer aus dem Standpunkt gewonnenen Weltanschauung, der Wissenschaftliche Sozialismus ist nur noch die Zusammenfassung der weltanschaulichen Konsequenzen aus der „Gesetzmäßigen Einheit der Welt in ihrer Materialität“ (alle Gesetze dieser Einheit finden sich in II, 2. bis 4. Teil. Wir ersparen es uns, diese Zauberformeln hier aufzuzählen). Hier klärt sich, warum ausgerechnet der Marxismus den Vorwurf des Dogmatismus sich eingehandelt hat. Eine Theorie, die gerade im Gegensatz zur idealistischen Systemphilosophie darauf bestand, „aus der Kritik der alten Welt die neue zu finden“ und nicht diese dogmatisch zu antizipieren, wurde bei ihren revisionistischen Zerstörern gnadenlos zur „materialistischen Weltanschauung“ umgefälscht, in der aus erdachten, nur einen dezisionistischen Standpunkt sich verdankenden, angeblich gesetzmäßigen Bewegungsformen der Materie, die Wirklichkeit deduziert werden soll. Das Festhalten an einem durch nichts bewiesenen (nicht einmal durch die oft zitierten „2000-jährigen Erfahrungen der Menschheit“) Standpunkt und dem darausfolgenden materialistischen Gesetzbuch äußert sich gegenüber jeder wissenschaftlichen Kritik in den Formen des Glaubenskampfes. Dieser kann nicht rational sondern nur durch die Exkommunikation „entschieden“ werden.

Was denn nun?

„Marx und Engels stellten sich mit aller Konsequenz auf den Standpunkt der Arbeiterklasse und rüsteten sie für ihren Kampf um die Errichtung einer besseren Welt mit einer wissenschaftlichen Theorie von der Gesellschaft aus.“ (I, p. 17)

*

„Dank diesem konsequent materialistischen Herangehen, das nicht von subjektiven Wünschen oder vorgefaßten Meinungen und Prinzipien ausgeht, sondern die Lösung aller Fragen im gründlichen Studium der Wirklichkeit sucht, war es Marx und Engels möglich, Probleme zu lösen, an denen die vorangegangene Wissenschaft von der Gesellschaft gescheitert war.“ (I. P. 27)

*

Vor Marx gab es, wie bereits erläutert, keine Wissenschaft von der Gesellschaft.“ (I, p. 41)

Alle Hervorhebungen von uns. MSZ

 

III. „Sozialistische Wissenschaft“

„Sozialismus und Wissenschaft stehen in keinem nur äußerlichen Verhältnis zueinander, wir betreiben nicht Wissenschaft schlechthin unter sozialistischen Bedingungen, sondern sozialistische Wissenschaft.“ (Erich Honecker).

„In diesen knappen Worten, gesprochen vom Ersten Sekretär des ZK der SED, Genossen Erich Honecker, anläßlich eines Empfanges einer Delegation des Präsidiums der Urania, wird das Verhältnis des Sozialismus zur Wissenschaft vom Grundsätzlichen her bestimmt.“ (Unser Weltbild, Sozialismus und Wissenschaft, Berlin 1972, p. 7)

Zitat von Honecker und Interpretation durch DDR-Wissenschaftler lassen uns schlimmes befürchten: das Wesentliche der DDR-Wissenschaft ist eine Qualität, die sie durch die oben skizzierte „marxistisch-leninistische Gesamtposition“ erhält. Sollte die DDR-Wissenschaft tatsächlich auf der Grundlage einer vorbürgerlichen Weltanschauung ihre auch im Westen unbestrittenen Erfolge erzielt haben?

 

Die Parteilichkeit macht Wissenschaft sozialistisch

Wissenschaft ist genau dann im ML-Sinne parteilich, wenn sie in „ihren theoretischen Grundlagen von den Erkenntnissen der Klassiker des Marxismus-Leninismus, den Erfahrungen der Arbeiterklasse und den Beschlüssen ihrer Partei aus (geht).“ Hierin ist auch schon ein Kriterium angesprochen, das die sozialistische Wissenschaft exklusiv für sich reklamiert: die „Einheit von Theorie und Praxis“ wobei der „Marxismus-Leninismus“ die Theorie darstellt, die „Position der Arbeiterklasse“ die Praxis (III, p. 37). Der Springpunkt ist also, daß Parteilichkeit die Voraussetzung für die DDR-Wissenschaft abgibt; durch sie wird sie richtig. Dem korrespondiert die DDR-Kritik an der bürgerlichen Wissenschaft:

„Das bürgerliche Denken ist in den ihm vorgezeichneten Klassenschranken befangen.“ (III, p. 38).

Über die bürgerliche Wissenschaft ist der Stab bereits gebrochen, ehe sie stattfindet, wohingegen dem DDR- Denken a priori das Prädikat „Besonders wertvoll“ zuerkannt werden muß, weil sie über ein „zunehmend überlegenes sozialistisches Wissenschaftsideal“ verfügt (III, p. 43). Dies besteht in einer Primärentscheidung der mit Wissenschaft befaßten: sie ergreifen „bewußt die Partei der Arbeiterklasse.“ (III, p. 44). Wie wir sehen ist die Parteilichkeit der Verlängerung der Willensentscheidung, welche die ML- Philosophie sich bei der „Grundfrage der Philosophie“ schon abgerungen hatte. Wurde dort ein Entschluß zur Grundlage eines Glaubens, so wird hier eine Einstellung zum Garanten für richtige Wissenschaft. Ironischer Weise wähnen sich die DDR-Wissenschaftler im Einklang mit Engels, den sie häufig wie folgt anführen:

„Je rücksichtsloser und unbefangener die Wissenschaft vorgeht, desto mehr befindet sie sich im Einklang mit den Interessen und Strebungen der Arbeiter.“ (MEW 21, p. 307)

Während Engels jedoch am Ende seines „Ludwig Feuerbach“ „Parteilichkeit als Resultat richtiger Wissenschaft“ bestimmte, stell die die DDR- Wissenschaft die Sache auf den Kopf:

„In der marxistisch-leninistischen Wissenschaft ist die Parteilichkeit ... ein bewußt angewandtes theoretisch-methodisches Prinzip ... “ (IV, p. 819).

Damit feiert der „gedankenlose Eklektizismus“ fröhliche Urstände, den Engels an gleicher Stelle der linkshegelianischen Plattköpfigkeit vorwarf und dem er den „theoretisch-rücksichtslosen Geist“ der klassischen Philosophie vorhielt, deren „Sinn für rein wissenschaftliche Forschung, gleichviel, ob das erreichte Resultat praktisch verwertbar war oder nicht“ er bewunderte.


Die Praxis macht die „sozialistische Wissenschaft“ richtig

„Da die Erkenntnis aber eine Relation zwischen dem Bewußtsein des Subjekts und der objektiven Realität ist, läßt sich im Bewußtsein kein objektives Kriterium der Wahrheit finden.“ (II, p. 596)

Nähme die DDR-Wissenschaft diese Aussage ihrer philosophischen Muezzine ernst, so könnte sie sich aufgeben. Meint doch obiges Zitat schlicht, daß die Erkenntnis unmöglich ist. Dabei war die DDR-Philosophie — wir erinnern uns — schon mal weiter. Hatte sie doch schon gewußt, daß das Bewußtsein die objektive Realität erkennen könne.
Nun soll es aber plötzlich die Praxis sein, die Objektivität garantiert. Die Sache hat aber einen Haken:

„Der dialektische Materialismus verabsolutiert das Kriterium der Praxis nicht, er sieht zugleich auch dessen relativen Charakter, der durch den jeweils erreichten Entwicklungsstand der Praxis gegeben ist … Daher kann die Anwendung und Überprüfung einer Erkenntnis immer nur im Rahmen der jeweils historisch-konkret bestimmten Praxis erfolgen.“ (11, 598)

Die mißliche Konsequenz daraus wäre, daß die Planung der gesellschaftlichen Entwicklung, die in der DDR ja wissenschaftlich fundiert sein soll, ein Hazardspiel ist: erst hinterher ließe sich feststellen, ob die Planung wissenschaftlich, d. h., der objektiven Realität entsprechend gemacht wurde, oder willkürlich. Daß man angesichts einer 25jährigen Geschichte des deutschen Sozialismus in der DDR tatsächlich den Eindruck gewinnt, hier sei so verfahren worden, ist ein Eindruck des Beobachters, keineswegs aber der Standpunkt der SED. Sie hält unbeirrbar daran fest, daß

„Der Sozialismus die erste Gesellschaftsordnung in der Geschichte der Menschheit ist, die zu ihrer Errichtung und Weiterentwicklung gesicherte Kenntnisse über die gesellschaftliche Entwicklungsgesetzmäßigkeiten voraussetzt.“ (Unser Weltbild, op. cit., p. 17)

Diese Position muß gegenüber dem, was die offizielle DDR-Philosophie mittlerweile über Theorie und Praxis aussagt, wie ein borniertes Festhalten an antiquierten Positionen anmuten. Die Autoren des „Lehrbuchs der marxistischen Philosophie“ lassen sich dadurch nicht beirren, die theoretischen Konsequenzen zu ziehen und haben im trial & error Verfahren bürgerlicher Wissenschaft eine adäquatere Form des „wissenschaftlichen Herangehens“ an die Probleme der DDR-Gesellschaft gefunden:

„Ein relatives Kriterium ist die Praxis insofern, als sie niemals alle möglichen Fälle der Anwendung einer Erkenntnis überprüfen kann ...“

Anstatt aber nun dieses „relative Kriterium der Erkenntnis“, das damit keines mehr ist, sausen zu lassen, macht man aus der Not eine Tugend und fährt fort:

„Daher kann die Anwendung und Überprüfung einer Erkenntnis immer nur im Rahmen der jeweils historisch-konkret bestimmten Praxis erfolgen.“

In einer solchen Diskussion würde auch Helmut Schmidt mit seiner Relativierung theoretischer Einsichten relativ guten Eindruck hinterlassen und die Herren Popper und Albert müßten ihren Hauptvorwurf gegen die Feinde der offenen Gesellschaft fallen lassen, wenn sie ihren Kerngedanken des „kritischen Rationalismus“ in die „marxistische Philosophie“ harmonisch aufgenommen sehen:

„Der dialektische Charakter des Praxiskriteriums verhindert also, daß einmal gewonnene Erkenntnisse verabsolutiert und dogmatisiert werden. Hierin zeigt sich die Praxis zugleich als Triebkraft (!) im Erkenntnisprozeß (!).“ (alle Zitate aus II, p. 598)

Die Leugnung der Möglichkeit objektiver Erkenntnis wird zur Triebkraft des Erkenntnisprozesses. Sauber …

Die praktische Wissenschaft entwickelt den DDR-Sozialismus

Das Zusammenführen der „marxistisch-leninistischen Gesamtposition“ mit dem Praxiskriterium hat endgültig ihre Unbrauchbarkeit für die Probleme der DDR-Gesellschaft ergeben: alle ihre drei Bestandteile sind in der Praxis nur „relativ überprüfbar“, also braucht man Wissenschaft, die sich unmittelbar auf die gesellschaftliche Praxis in der DDR bezieht. Statt Politischer Ökonomie bieten sich hier modernere Disziplinen an wie Kybernetik und Operationsforschung, statt der marxistischen Klassentheorie ist es praktischer, auf die Soziologie zurückzugreifen, die „konkret“ an den unmittelbar vorfindlichen sozialen Beziehungen ansetzt usw. Der „Einsatz theoretischer Mittel sehr hohen Abstraktionsgrades wie der Kybernetik oder der Operationsforschung zur Lösung gesellschaftlicher Aufgaben“ (Unser Weltbild, p. 16) bringt die DDR-Wissenschaft allerdings in ernste Abgrenzungsschwierigkeiten, auf die niemand geringerer als der Genosse Honecker hinweisen mußte:

„Alle diese Wissenschaftsgebiete haben teil an der Ausarbeitung eigenständiger, dem Charakter der sozialistischen Ordnung entsprechender Lösungen. Abschreiben von Theoretikern des monopolkapitalistischen Managements könnte nur Schaden stiften.“ (in: Einheit, Heft 1/1972, p. 18)

Für die DDR-Wissenschaftler stellt sich „in der Praxis“ dieses Problem anders dar: die Entwicklung der DDR- Ökonomie und Gesellschaft verlangt von ihnen Lösungen, die sich zunehmend nur noch mit modernen Spezialdisziplinen bereitstellen lassen. Nun gibt es diese bereits in voller Blüte im kapitalistischen Westen. Warum nicht davon profitieren? So kann der sowjetische Wissenschaftler E. Skolnikoff am Ende einer Tagung der „Internationalen Kommission für wissenschaftspolitische Studien“ in Reisenburg (BRD) befriedigt feststellen,

„daß die mit wissenschaftspolitischen Studien befaßten Personen — welche spezifischen Forschungsprobleme auch immer im Mittelpunkt ihres Interesses stehen — ein gemeinsames Verständnis des Gegenstands ihrer Forschung anstreben …“ (III, p. 308)

Dieses „gemeinsame Verständnis des Gegenstands“ der Forschung in Ost und West (die Tagung befaßte sich notabene mit allen Gebieten wissenschaftlicher Tätigkeit. Schwerpunkt war sogar der Ausbildungssektor!) kann doch nur hergestellt werden, wenn der Gegenstand, also auch die Probleme „gemeinsame“ sind.

Hier muß der so konzipierte „Marxismus-Leninismus“ endgültig der DDR-Wissenschaft lästig werden: das rote Halstuch hätte ihr schon längst die Kehle zugeschnürt, würde es nicht fortwährend gelockert. Der „Marxismus-Leninismus“ fristet in der aktuellen DDR-Wissenschaft weitgehend ein Aschenputteldasein in den Vor- und Nachwörtern ihrer Bücher, bei den Kongressen wird er in den Begrüßungsansprachen gewürdigt, ehe man zur Tagesordnung übergeht. Warum dem so ist, hat seinen Grund in ihr selbst: die DDR-Philosophie hat die revolutionäre Theorie zur Wissenschaft vorgeschalteten Erkenntnistheorie uminterpretiert und — schlimmer noch — zu einer auf den Hund gekommenen Metaphysik, die — ähnlich der hierzulande gepflegten „christlichen Verantwortung“ — zur sinngebenden Einstellung des Wissenschaftlers stilisiert wird. Der „Marxismus-Leninismus“, insofern er sich auf die Klassiker beruft, stellt nur noch ein Problem dar, das die DDR-Denker zu fortwährender  „Interpretation“, „schöpferischer Weiterentwicklung“ bis zur Verdrehung und Verfälschung nötigt, weil die in ihm enthaltenen Sätze aus der bekannten blauen Reihe zu dem im Widerspruch stehen, zu was die DDR-Wissenschaft sie benötigt: Beleg zu sein für ihre eigenen Ergebnisse. Theoretiker vom Schlage eines Ota Sik haben deshalb den ganzen Marxismus auf dem Müllhaufen der Geschichte deponiert und sind in den Kreis der bürgerlichen Wissenschaft zurückgekehrt. („Der Marxismus ist ein unnützer Ballast bei der Effektivierung der Volkswirtschaft!“) Was die SED daran hindert, diesen Weg mitzugehen, ist keineswegs eine verbliebene schwache Ahnung vom Wesen der revolutionären Theorie, sondern das zur „marxistisch-leninistischen Gesamtposition“ verknöcherte Mißverständnis derselben: sowie der Glaube Berge versetzen kann, vermag er auch welche aufzuwerfen. Die DDR- Wissenschaft ist keine bürgerliche mehr, aber alles an ihr, was sie von jener unterscheidet, hat nichts mit Sozialismus zu tun, sondern verweist auf Vorbürgerliches: das Festhalten am „Marxismus-Leninismus“ hat die Form des Glaubens und verläuft als tragikomischer Glaubenskonflikt. Die Komik liegt in einem Verhältnis zur bürgerlichen Wissenschaft, das diese einerseits als „menschenfeindlich“ u. dergl. mehr denunziert, andererseits systematisch für die eignen Zwecke ausschlachtet. Dies erinnert an das Verhalten der katholischen Kirche angesichts der modernen Naturwissenschaft: Giordano BRUNO mußte auf den Scheiterhaufen, während die Schiffe des Kirchenstaates längst Kompaß und Seekarten benutzten, die Ergebnisse einer „Weltanschauung“ waren, deren Vertreter auf dem Campo di Fiori zu Rom verbrannt wurde. Mißt man jedoch die DDR-Wissenschaft am Kaliber derjenigen Bourgeoisgeister, die sie beleiht, so möchte man eher katholisch werden als bei ihr in die Schule gehen.

Eine Letzte Frage:

„Gestützt auf die von Karl Marx und Friedrich Engels begründete Theorie ... hat die SED die Wege und Methoden des Kampfes erarbeitet, die dem Handeln der Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten Richtung und Ziel gaben. (I, p. 11)

Wir erlauben uns hier abschließend die Frage, ob die SED sich auf zwei, uns unbekannte, Namensvettern der Kommunisten Marx und Engels beruft?

 

aus: MSZ 2 – Dezember 1974

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