Der Kampf des Bürgers gegen die Kernspaltung:

Freisetzung von Staatsenergie


Die Rede vom Atomzeitalter ist Ideologie. Als ließe sich die gegenwärtige Epoche in der gesellschaftlichen Entwicklung dadurch charakterisieren, daß man ihr eine Technik zuordnet, mühen sich die Propagandisten dieser Ideologie um die Kultivierung der Lüge, der Kapitalismus, der die Naturbeherrschung zur Selbstverständlichkeit hat werden lassen, versetze die Menschen in die unheilvolle Abhängigkeit von einem Werkzeug. Als Unterabteilung der aus allen Zeiten der bürgerlichen Gesellschaft überlieferten Mär von dem Preis, den der Fortschritt der Produktivkräfte fordert, lastet die Ideologie des Atomzeitalters die negativen Wirkungen, die das Produktionsverhältnis, die staatlich geschützte und geförderte Verwertung des Kapitals für die arbeitende Mehrheit zeitigt, den Produktionsmitteln an.

Die Angst vor dem Atom, das reaktionäre Aufbegehren von Bürgern gegen die Anwendung der modernen Naturwissenschaft beruht auf dem Einverständnis mit den gesellschaftlichen Zwecken, die den Grund für die Gefahren ausmachen, welche mit er Kernspaltung heute verbunden sind. Die Gegner von Kernkraftwerken, die an der rücksichtslosen Anwendung der Atomphysik immerhin bemerken, daß den Agenten von Staat und Kapital an ihrer Sicherheit nicht allzuviel liegt, propagieren ihre Sehnsucht nach einem Leben ohne solche Gefahren in Gestalt des Wunsches nach einem Staat, der durch den Verzicht auf die Entwicklung der Produktivkräfte den Interessen seiner Bürger entspricht. Nicht bereit zu der schlichten Einsicht, daß eine von den sonstigen Geschäften der Individuen getrennte Staatsgewalt, die nicht gegen sie vorgeht, die nicht darüber wacht, daß sie ihren Schaden, die Beschränkung ihrer materiellen Interessen hinnehmen, die überflüssigste Sache von der Welt wäre, befleißigen sie sich einzig der Demonstration dessen, daß sie Individuen sind. Sie widerlegen die Lüge von der Unteilbarkeit des Menschen, die in den alten und neuen Verklärungen der bürgerlichen Welt zur Selbstverständlichkeit geworden ist und in der lateinischen Bezeichnung des sozialen Atoms, dem die Gesellschaft angeblich verpflichtet ist. Und sie beweisen, daß diese zum Namen gewordene Ideologie das matte Ideal ihres faktischen Gegenteils darstellt.

Ihren Kampf gegen die Spaltung des Atoms führen sie so konsequent mit Hilfe ihrer eigenen Spaltung – in einen Menschen, dem an rentablen aber unsicher gebauten Atomkraftwerken seine Interessen einfallen, und in einen Staatsbürger, der seine Interessen durch die Unterwerfung unter die Staatsgewalt relativiert –, als wüßten sie von der Ironie, daß nur Individuen so verrückt wein können, gegen die Spaltung des Atoms zu Felde zu ziehen. Mit ihrer Hoffnung auf den Staat („Ernst, schütz uns gegen den Atomschiet!“), dessen Rücksichtslosigkeit sie in die Gefahr von Natur und Technik verfabeln, sehen sie vom Grund der Bedrohung, die sie bemerkt haben, tunlichst ab.

Mit Staat und Kapital wollen sie ihren Frieden machen, ohne die Nutzung der Atomenergie. So haben sie ihrem Kampf auch den Inhalt gegeben, der es ihren Gegnern leicht macht: der freiheitliche Rechtsstaat wird Kernkraftwerke bauen lassen, ohne gegen die Sicherheitsrisiken, die er damit seinen Bürgern beschert, etwas zu tun. Unter allgemeinem Beifall wird er aber das Sicherheitsrisiko bewältigen, daß aufmüpfige Staatsbürger für  ihn darstellen.

„Die gewaltige Solidarität aus fast allen Schichten der Bevölkerung“ (Bürgerinitiative Umweltschutz Unterelbe – BUU/Gruppe Krempe)

hat in der Geschichte der Antiatomkraftbewegung ihre Höhepunkte in den Demonstrationen erreicht, zu denen die BUU unter der Parole aufrief:

„Kein KKW in Brokdorf und auch nicht anderswo!“


I. Atom bedroht Staat


Kein KKW in Brokdorf und dafür anderswo

Nun fällt an diesem Aufruf zunächst ein nicht unwesentliches Versehen auf: es gibt bereits einige in Betrieb gesetzte Kernreaktoren in der BRD. Würde der Bau eines Kernreaktors in Brokdorf tatsächlich verhindert werden, so änderte dies nichts an der Tatsache, daß es sie anderswo längst gibt, sie im Bau befindlich oder geplant sind. Weil sie bei sich in Brokdorf kein KKW haben wollen, greifen die aufgebrachten Marschbauern und alteingesessenen Handwerker also zu einer faustdicken Lüge. Sie tun so, als würden sie nicht dem St. Florians-Prinzip folgen („Verschon mein Haus, zünd andre an!“), wenn sie gegen ein unsicheres KKW in Brokdorf protestieren. Als hätten sie schon seit ewigen Zeiten Kernkraftwerke verhindert, suchen sie bei ihrem Aufbegehren gegen die Standortentscheidung, die die schleswigholsteinische Regierung getroffen hat, die weitverbreitete Angst vor der mangelhaften Beherrschung der Kernspaltung und ihrer Abfallprodukte für sich auszunützen.

„Der Widerstand gegen Atomkraftwerke geht jeden etwas an, weil unser Leben direkt betroffen ist.“ (Flugblatt der BUU)

Kritisiert der Bürger normalerweise an staatlichen Maßnahmen wie z.B. Steuererhöhungen, daß er damit belastet wird, und fordert vom Staat, statt seiner andere Bürger mehr zu belasten, so stellen die Brokdorfer ihr Interesse an der Verhinderung des KKW-Baus in ihren Wiesen als Interesse der Allgemeinheit dar, welches diese gegen den Staat geltend zu machen habe. Ihre Heuchelei gilt der Mobilisierung von Leuten „anderswo“, von denen sie – Frucht ihrer Selbsterkenntnis – daß ihnen Kernkraftwerke gewöhnlich erst dann als eine unsichere Sache erscheinen, wenn man sie vor ihre Nase baut. Die plötzlich erwachte Sorge der Brokdorfer um „unser aller Leben“ rechnet mit der Fähigkeit der „gesamten Bevölkerung“, die diese so regelmäßig bei Wahlen ihrer staatlichen Repräsentanten an den Tag legt: nicht an sich, sondern an die Interessen anderer zu denken. Doch verlangen die Brokdorfer ihren Mitmenschen eine über den alltäglichen Selbstbetrug weit hinausgehende Leistung ab. Gegen den Garanten des Allgemeinwohls sollen sie den Standpunkt der BUU geltend machen, daß er sich am Allgemeinwohl vergeht, wenn er den Bürgern ein Energieprogramm zumutet, welches ihre Zustimmung nicht findet.

„Diese Mischung aus Trotz gegenüber der Obrigkeit und das Gefühl des Übergangenwerdens von staatlichen Behörden führte schließlich zu einer konzertierten Aktion unterschiedlicher Initiativgruppen.“ (Wüstenhagen, Bürger gegen KKW)

Die „gewaltige Solidarität“, die den Brokdorfern entgegengebracht wurde, verdankt sich also dem Idealismus von Bürgern, der es nicht verträgt, wenn der Staat sich über das Interesse an aktiver Mitgestaltung des Allgemeinwohls hinwegsetzt, weil ihm das Interesse nicht paßt und er die Obrigkeit ist. Die konzertierte Aktion der unterschiedlichen Initiativgruppen hat darin ihren Übereinklang, daß sie sich zum Sicherheitsproblem des Staates machen, weil er ihnen ihre Übereinstimmung mit ihm so schwer macht. Ihre Initiative hat deshalb zum Ziel, ihr Gefühl des Übergangenwerdens dem Staat als ein Problem seiner Sicherheit vor Bürgertrotz nahezubringen.

Die Heuchelei der BUU hatte also deshalb die größte Solidarisierung als ihren Erfolg zu verbuchen, weil die BUU ihre Gegnerschaft gegen das KKW in Brokdorf von vornherein in eine Rettungsaktion des Allgemeinwohls vor dem staatlichen Energieprogramm kleidete. Gerade mit der Verwandlung des unsicheren KKW, welches sowohl der Gesundheit der Brokdorfer als auch ihrer Fortexistenz als Bauern und Handwerker entgegensteht, in ein Problem der Bürger, sprechen sie Bürger an, die keinen Nutzen von ihrer Solidarität mit den Brokdorfern haben.

Sie sprechen Leute an, denen jenseits ihres Nutzens so viel am Staat liegt, daß sie in einer Staatsmaßnahme, welche organisierten Bürgerprotest hervorruft, eine Gefährdung der Demokratie sehen – der Staat soll sich so verhalten, daß seine Bürger hinter ihm stehen!

Was die Heuchler von Brokdorf und die zugereisten Mitstreiter, die sich aus dem geheuchelten Moralismus der Brokdorfer ein Gewissen machen und die Demokratie durch die Abwehr der Kernenergiepolitik retten wollen, tatsächlich gemeinsam haben, ist das Absehen von der Beschaffenheit der KKW und den Gründen dafür, daß man sich in ihrer Nachbarschaft nicht gerade wohlfühlt. Dies gelingt eben durch die Verwandlung der eigenen Furcht vor den KKW in ein Problem des Staates, so daß der Widerstand gegen das Kernenergieprogramm eben dieses Vertreters der Allgemeinheit gegen das Energieprogramm nichts ausrichtet, sondern im Gegenteil dafür Sorge trägt, daß de Staat sein Programm fortschreibt – und zwar mit der Sicherheit, daß diese Sorte Gegner ihm nicht gefährlich wird.


Zurück zur grünen Wiese

Weil die Bürgerinitiativen die Rettung des Staates vor ihrem Widerstand gegen die Kernenergie betreiben, besteht neben der Organisierung des Bürgerprotestes ein Hauptbetätigungsfeld darin, Lösungsvorschläge für ihr Problem zu ersinnen, die sie dem Staat demonstrieren können:

Der Auftakt der Problemlösung besteht darin, den Staat für all das zu exkulpieren, was er ihnen mit seinem Energieprogramm antut. Die Gefahren sollen nämlich nicht den Zielen zuzuschreiben sein, die der Staat mit der Forcierung der Kernenergie verfolgt; gefährlich soll vielmehr die Kernenergie selbst sein. „Die Gefahren der Atomenergie sind in den letzten Jahren immer mehr Leuten bewußt geworden“ (Flugblatt der BUU). Wie nun gerade die Natur – noch dazu so winzige Teilchen – die Menschheit bedrohen soll, wenn die Menschheit die Naturgesetze erkannt und sich die Naturgewalten unterworfen hat, ist ein Paradoxon, welches nur eine rationale Auflösung hat: offensichtlich findet die Naturbeherrschung in einer Art und weise statt, von der „immer mehr Leute“ nichts als Schaden haben. Wenn die Bürgerinitiativen sich gegen die Kernenergie wenden, so dient ihr Angriff auf die Naturbeherrschung, von der die Kernkraftwerke Zeugnis ablegen, also der Parteinahme für die Gewalt, welche die Natur, auf Kosten“ der Individuen nutzbar macht. Indem sie die unerfreuliche Wirkung von Kernkraftwerken in Gefahren verwandeln, die vom Atom ausgehen, befleißigen sie sich der Unterwerfung unter die Staatsgewalt, die den Nutzen des technologischen Fortschritts so einseitig verteilt.

Die reaktionäre Kritik am gespaltenen Atom-Kern verhindert jedoch das, was sie sucht: ihren Frieden mit der Staatsgewalt. Wo der Staat mit seinem Energieprogramm der Notwendigkeit seines Fortschritts Rechnung trägt und dafür selbst das Sicherheitsrisiko in Form der Kernkraftswerksgegner in Kauf nimmt, kommen ihm diese mit dem Friedensangebot, er brauche nur alles so zu belassen, wie es war, dann wären sie seine begeistertsten Anhänger. „Aus dem Bauplatz muß wieder eine Wiese werden!“ (BUU) ist ihr illusionärer Schlachtruf, der am mühseligen Dasein eines Marschbauern die im Vergleich zu einem Reaktorbauplatz vermeintliche Idylle weidenden Rindviehs entdeckt. Da aber auch der Marschbauer ohne Melkmaschine, folglich ohne Strom, nicht leben will ( – und erst recht nicht ohne den Traktor; man denke sich das traurige Bild eines Trecker-Korso ohne Trecker!), enttarnt sich das ganze Geseiche von natürlicher Natur als Verzichtspropaganda, die dem habgierigen Bürger zur Last legt, daß der Staat die bäuerlich Existenz im Wilster Land mit der Ansiedlung von Industrie überflüssig macht.

„»Irgendwer muß ja mal Schluß machen, immer mehr haben zu wollen, und das sind jetzt wir« sagten die Kaiserstühler. »Es gibt halt wichtigere Sachen als Wachstum um jeden Preis«.“ (Wüstenhagen, Bürger gegen Kernkraftwerke)

Gerade diejenigen, die am eigenen Leib schmerzlich erfahren, welches Interesse der Staat an seinen Bürgern hat, nehmen den Staat vor den Interessen der Bürger in Schutz, die sich beständig am Staatswohl zu relativieren haben! Sie erklären den Staat zum Opfer seiner Bürger, die ihn in energiepolitische Abenteuer getrieben haben, weil sie den Hals nicht vollkriegen können, wo sie gerade von der Staatsgewalt belehrt wurden, daß sie auch ohne die Zustimmung der Bürger dafür Sorge trägt, daß das Allgemeinwohl auf Kosten der einzelnen gemehrt wird.


Mit Wind und Sonne für den Staat ...

Die vereinten Staatsidealisten münzen also die Schwierigkeiten, die sie mit der Energiepolitik haben, in den Angriff um, der Staat räume nicht radikal genug die Ansprüche des normalen Staatsbürgers auf Partizipation am Allgemeinwohl aus. Würde sich der Staat erst mal von den übertriebenen Ansprüchen der Restbevölkerung frei machen – so ihr reaktionäres Kalkül –, dann wäre der Weg frei für eine Energiepolitik, der die Atomenergiegegner ihre volle Zustimmung entgegenbringen könnten. So stellen sie sich auf den Standpunkt des Staates und klagen ihn an, sein Geschäft zu vernachlässigen.

„Warum wird keine Energiepolitik betrieben, die alle Energieträger weiterentwickelt, die sichersten, sau» bersten, billigsten besonders fördert und Technologien einfriert, die gefährlich, teuer und unzuverlässig sind (z.B. Atomenergie)?“ (BUU)

Ihren eigenen Ausgangspunkt – daß sie gegen die KKW sind, die der Staat ihnen aufzwingt – haben die Bürgerinitiativler vollends aufgegeben, wenn sie von der Kritik des Staates dazu übergehen, energiepolitische Alternativen zu ersinnen, die den staatlichen Kriterien besser gerecht werden sollen als die Atomenergie. Mit der Übernahme des Kostenarguments befinden sie es erstens als die natürlichste Sache der Welt, daß der Nutzen der Technik sich nicht durch die Annehmlichkeiten bestimmt, die aus ihrer Verwendung erwachsen könnten. So machen sie Sonnenkollektoren, Windkraftwerke, Wärmepumpe (mit der ein Hannoveraner Landwirt bereits die nationale Energieversorgung entlastet, indem er die Körperwärme seiner Kühe als Energiequelle benutzt) dem Staat damit schmackhaft, daß sie seinem Reichtum keine Einbuße bereiten» wenn er den Energieverbrauch der Bevölkerung nur auf ein geringeres Maß bringen würde. Im Gegenteil, er würde sich Kosten ersparen, weil er sich mit diesen Energiequellen die umweltzerstörenden Wirkungen der Kernenergie vom Hals schaffen könnte. Haben sie somit zweitens bewiesen, daß Sauberkeit sie nur unter dem Kriterium der Folgekosten interessiert, so sind ihre Sicherheitskriterien, die sie gegen die Kernenergie ins Feld führen, der größte Trumpf in ihrem Feldzug für eine effektivere Wahrnehmung der Staatsgeschäfte:


... im Dienste der Nation

„Die BRD hat keine Uranvorräte. Das bedeutet, daß wir das für die Kernspaltung nötige Uran immer aus dem Ausland beziehen müssen ... Diese Länder erhöhen die Uranpreise schon jetzt kontinuierlich, so daß von einer Versorgungssicherheit kaum die Rede sein kann.“ (BUU)

Macht der Staat sich mit der Förderung der Kernenergie vom Preisdiktat der Opec-Länder unabhängig, um seine wirtschaftliche Stärke zur Ausplünderung nicht nur der eigenen Bevölkerung zu erhalten, und pfeift dabei auf den Schaden, den Mensch und Natur erleiden, solange sein Ziel nicht gefährdet ist, so haben die Leidtragenden dagegen nichts anderes einzuwenden, als daß die Nutzung den Staat in die Abhängigkeit von den ausgenutzten Ländern bringe:

Obwohl „die Weltvorräte an Uran sehr begrenzt sind“, „verschlingen die KKW enorme Entwicklungskosten“. Der unzweifelhaften Tatsache, daß die bundesdeutsche Abhängigkeit von den Uranförderländern der deutschen Volkswirtschaft so viel Kummer nicht bereitet, setzen sie das Kalkül entgegen, der jetzige Nutzen sei im Verhältnis zu den Kosten, die er erfordert, und zur absehbaren Erschöpfung der Uranvorräte doch letztendlich eine Bedrohung des Staates. Den Bürgerinitiativlern ist so sehr an der Stärkung ihrer Volkswirtschaft gelegen, von der sie nichts haben, daß sie dem Staat seine vorhandene Stärke zum Problem seiner zukünftigen Schwächung machen wollen. Diese Stärke setzt der Staat ihrer Meinung nach jetzt schon aufs Spiel, weil er mit dem KKW sich eine Atombombe ins eigene Territorium legt, die innere und äußere Feinde hochgehen lassen könnten. Und schlimmer: Die KKW

„ ... produzieren gewaltige Mengen von Plutonium, dessen Giftigkeit eine permanente Bedrohung für die gesamte Erdbevölkerung darstellt und den Rohstoff für die Herstellung von Atombomben liefert.“ (BUU)

Wenn man wie die BUU erst mal die Unsicherheit der bundesdeutschen KKW in ein Problem der Staatsschutzorgane verwandelt hat, dann ist einem auch die blödsinnige Vorstellung vertraut, die eigentliche Gefahr seien Staatsfeinde, die ein paar zusammengeknickte Plutoniumstäbe in ihrer Tasche verschwinden lassen und zuhause ein Bömbchen daraus basteln! Hat man sich die Sicherheit des Staates vor inneren Feinden zum eigenen Problem gemacht, ist die Sorge um seine imperialistischen Zukunftsaussichten konsequent: was hat der Staat noch von der Unterwerfung des Auslands, wenn die Bevölkerung und die Natur vergiftet ist, die er dort ausbeutet! Und ist die Bedrohung durch das gespaltene Atom nicht mehr abzuwehren und man selbst vergiftet, so läßt einen der Gedanke nicht ruhen, was der Staat nur ohne sein Volk machen soll, das er vergiftet hat.

Gegen solche verrückten Bürger, die in der Sorge ums Allgemeinwohl aufgehen und ihm deswegen ins Geschäft pfuschen, weiß der Staat sich noch allemal durchzusetzen: er verpflichtet sie, für das Allgemeinwohl einzutreten, das er ist, und macht sie mit physischer Gewalt gefügig, wenn sie von ihrer Gegnerschaft nicht ablassen. Die Kernkraftwerkgegner richten gegen die unsicheren Kernkraftwerke nichts aus, weil sie für das Wirtschaftswachstum sind, dem die Kernenergie ohne Rücksicht auf die meisten Bürger dienstbar gemacht wird.
Der Staat hat die Kalkulation, welche ihm die BI aufmachen, um ihm den Bau von KKW auszureden, in seinem Energieprogramm längst angestellt; freilich mit dem Ergebnis, daß er den Ausbau unsicherer Atommeiler betreibt. Die Zwecke staatlicher Energiepolitik schließen also die den Bürgern zugemuteten Sicherheitsrisiken ein.

Weil es ihm um das Wachstum und die Wettbewerbsfähigkeit seiner Volkswirtschaft geht und der volkswirtschaftliche Nutzen sich nach dem Wachstum bemißt, das die Profite der Unternehmen zu verzeichnen haben, entscheidet der Staat die Energiefrage danach, wieviel Profit die Elektrizitätsgesellschaften machen, die Ström verkaufen, und wie stark die Kosten für die Energie den Profit der Kapitale schmälern, die den Strom kaufen. Daher stehen alle Aufwendungen für die Sicherheit der KKW den Gewinnen ihrer Betreiber als lästiger Kostenfaktor gegenüber, der, wird er auf den Käufer der Energie abgewälzt, dort als Abzug vom Gewinn sich geltend macht. Rentabel für die Volkswirtschaft wird ein Reaktor also dann betrieben, wenn er unsicher ist – weshalb eine ständige Diskussion um die Wahrscheinlichkeit von Sicherheitsrisiken, deren man sich also sicher ist, den Bau von KKW begleiten.


II. Rentable KKW müssen unsicher sein

Die „Frage der Zumutbarkeit“

Die Bürgerinitiativen erinnern den Staat daran, daß es ihm nur dann gelingt, die Kernkraftwerke zu brauchbaren Mitteln des Wachstums zu machen, wenn er diese Sicherheitsrisiken dosiert. Damit der volkswirtschaftliche Nutzen, den er sich vom Betrieb solcher Anlagen verspricht, nicht durch die aus der Unsicherheit der Reaktoren entspringenden Schäden infragegestellt wird, verlangt er den Energiekonzernen ab, die Kosten für Sicherheitsvorkehrungen gegen den Schaden aufgrund mangelnder Vorkehrungen so abzuwägen, daß der Schaden die Einsparung nicht übersteigt. Deshalb macht er in den atomrechtlichen Genehmigungsverfahren den Bau von KKW davon abhängig, daß die Projektierungen der Konzerne seinen Kriterien genügen, welche das zulässige Maß der Unsicherheit der geplanten Anlage definieren, das der Staat den Bürgern zumutet:

„Die Frage der Zumutbarkeit von Risiken ist immer auch eine Frage der Abwägung.“ (Matthöfer, Kernenergie – eine Bürgerinformation)

Weil es ihm nicht auf die Rentabilität der KKW schlechthin, sondern auf ihren Beitrag zum volkswirtschaftlichen Wachstum ankommt, stellt er am Protest der Bürger gegen die zugemuteten Risiken fest, daß es in seinem Interesse ist, das festgesetzte Maß an Sicherheitsvorkehrungen durch eine neuerliche Abwägung zwischen dem Aufwand für zusätzliche Vorkehrungen und dem Schaden bei ihrer Unterlassung zu überprüfen. Wenn die Leute in Gorleben sich dagegen wehren, den radioaktiven Müll aus den KKW unter ihren Arsch gelegt zu bekommen, so heißt das für den Staat, daß es nicht einmal den Standort für eine Entsorgungsanlage gibt. Er hat also den Bau von KKW genehmigt, ohne die Unterbringung des wirtschaftlich ausgedienten, nichtsdestotrotz radioaktiven Materials, welches nach einigen Jahren Betriebszeit anfällt, auch nur soweit sichergestellt zu haben, daß das Gelände feststeht, in dem die Anlage gebaut werden soll. Und daß es um die Sicherheit der projektierten Entsorgungsanlagen nicht weit bestellt ist, bemerkt die Bundesregierung spätestens an den Ausflüchten eines nicht gerade zimperlichen Landesvaters wie Ernst Albrecht davor, unter seiner Regierung den Landeskindern eine solche Anlage zuzumuten. Der vorläufige Baustop in Brokdorf, den die Lüneburger Richter wegen der ungeklärten Entsorgungsfrage erließen, trägt also mitnichten den Brokdorfern Rechnung; der Staat kann nicht damit rechnen, seinen Atommüll auf ewige Zeiten im Ausland loszuwerden, und selbst ein ödes Zonenrandgebiet läßt sich als Teil seines Staatsgebiets nicht einfach abschreiben, was ihm die ansässigen Bürger nachdrücklich klarmachen.

An der Forderung der Wyhler nach einem Berstschutz stellt er fest, daß selbst ein Wasserrohrbruch im Kühlsystem eines KKW schon ausreicht, das ganze Ding in die Luft und eine radioaktive Wolke über sein Hoheitsgebiet zu jagen – weshalb die Freiburger Richter dem Verlangen der Wyhler nach einem Berstschutz auch Recht gaben, ohne auf ihre Weinberge Rücksicht zu nehmen:

„Die Richter in Freiburg haben sich keineswegs den Argumenten der Wyhler Bürgerinitiativen angeschlossen. Sie haben nämlich die standortgebundenen Argumente der Bürgerinitiativen verworfen.“ (Spiegel)


Ein „absehbarer Schaden“...

Weil der Ablauf der Reaktionen im Kern des KKW technisch nur soweit entwickelt wird, daß die Kraftwerkunionen profitablen Strom produzieren können, und diese Kalkulation die Möglichkeit einer Reaktorkernschmelzung in Kauf nimmt, macht der Staat den Kraftwerkunionen nicht zur Auflage, vom Betrieb dieser technisch noch nicht beherrschten Anlagen abzusehen; die Auflage ist, einen absehbaren Schaden durch zusätzliche Vorsorgemaßnahmen zu mildern. Also soll dem Ganzen ein Betonmantel verpaßt und einer Explosion des Reaktordruckgefäßes die Gefahr einer nationalen Katastrophe genommen werden:

„Je höher ein möglicher Schaden ist, desto sicherere Vorsorgemaßnahmen müssen getroffen werden. Wenn aber eine Trennkammer zerstört wird, dann ist eine nationale Katastrophe nicht auszuschließen.“ (Handelsblatt)

Aus wäre es mit der bundesdeutschen Wirtschaftsmacht, wenn aus dem Gebiet der BRD samt seinen leistungsstarken Bürgern ein großes Seveso würde. Weil der Staat die Leute braucht, die ihm seine Stärke erwirtschaften, zwingt er das Kapital, zusätzliche Vorkehrungen aufzubringen – und widerlegt damit die Phantasien eines KBW, der dem bürgerlichen Staat das Interesse an der Vernichtung seines Volkes und Landes andichtet, um etwas Kritikables an ihm finden zu können:

„Viele Kollegen haben gefragt, wieso die Kapitalisten nicht selbst Angst haben vor der Atomverseuchung der Erde und wieso die Politiker so kurzfristig denken. Darauf gibt es eine einfache Antwort: Die Kapitalisten selbst wissen, daß ihre Macht in der ganzen Welt immer mehr zusammenfällt.“

Weil die Argumente aller Gegner der Kernenergie darauf hinauslaufen, dem Staat die Gefahr der kleinsten Teilchen vor Augen zu führen, treffen sie sich darin mit dem KBW, daß sie den empirischen Beweis nicht schlecht fänden – wie gut stünden sie da mit ihrer Kritik, wenn so ein KKW erst mal hochgegangen wäre. Und da der Staat seine Bürger kennt, ist für ihn die Ursache eines GAU auch nicht die unsichere Anlage, sondern ihre Zerstörung, die dann ja nur von außen ausgelöst sein kann.

Daß es bei der Sicherheit eines KKW eigentlich auf die Technik nicht ankommt, sondern auf die richtige Unterwerfung der Leute unter sie, ist der gemeinsame Standpunkt in den Urteilen von Freiburg und Würzburg, welchen Öffentlichkeit und Bürgerinitiativen nicht entdecken können wollen: der Berstschutz, den die Freiburger Richter als eine notwendige Sache befanden, ist in Grafenrheinfeld nicht nötig. Denn erstens

„ist die Reaktorsicherheitskommission heute überdies der Ansicht, daß ein Bersten des Reaktors unmöglich sei, weil praktisch nicht alle sicherheitstechnischen Einrichtungen gleichzeitig versagen können.“ (Frankfurter Rundschau)

Wenn dieser „große Zufall“ allein von dem Zeitpunkt abhängt, zu dem die Störungen auftreten, wissenschaftlich also eine erwiesene Sache ist, erhält die These seiner Unmöglichkeit den nötigen Nachdruck durch die 700 Millionen Mark, die das KKW in Grafenrheinfeld schon gekostet hat. Zweitens ist also der volkswirtschaftliche Schaden einer in der zweiten Baustufe liegengelassenen Reaktorruine größer als die eventuelle Explosion des KKW – die Baugelder sind investiert und sollen sich rentieren, eine Explosion ist aber noch nicht vorgekommen, also ein Risiko, welches zu tragen dem Unternehmer ja als seine Einkommensquelle zugeschrieben wird.

Drittens hat der Gesetzgeber mit dem „Abwägen aller möglichen Unfallquellen“ gegen die Kosten, die ihre Beseitigung mit sich bringen würde, endlich das richtige Risikobewußtsein bewiesen:

„Der Gesetzgeber hat also noch nicht (vor den einschlägigen Gerichtsverfahren) das volle Risikobewußtsein gehabt, das diesem modernen Energieträger entspricht.“ (Handelsblatt),

was viertens seine bisherige Energiepolitik mit dem unvollständigen Bewußtsein der Staatsmänner entschuldigt, weshalb gerade die Bürgerinitiativen sich zufrieden geben können, hat sich der Staat doch von ihnen das Bewußtsein erhellen lassen und ihren Einwänden dann Recht gegeben, wenn „die betroffenen Bürger ihre Interessen mit der konkreten energiewirtschaftlichen Dringlichkeit eines sofortigen Baubeginns abzuwägen“ bereit waren (Bulletin vom 25.3.77).

So verkaufen die Staatsmänner ihre Fortschreibung des Kernenergieprogramms als mustergültige Sorge um die Probleme der Kernenergiegegner. Und sollte einer immer noch um seine Gesundheit fürchten, dann läßt der hausgemachte Vergleich mit dem Ausland den bundesdeutschen Staat im anheimelndsten Lichte erscheinen:

„Die Bundesregierung hat ein Entsorgungskonzept erarbeitet, das auch(!) wegen seiner besonderen Vorzüge in sicherheitstechnischer Hinsicht international hohe Anerkennung gefunden hat.“ (Bulletin, a. a.O.)


... was die Naturwissenschaftler für gut erachten

In den Gerichtsverfahren, welche Kernenergiegegner anstrengen, geht es also um die Festsetzung des Maßes an Unsicherheit, welches die Rentabilität der KKW erfordert, ohne den volkswirtschaftlichen Nutzen der Kernenergie zu riskieren.

In diesen Verfahren, wo die Ergebnisse der Naturwissenschaft und Technologie nicht Kriterium für den Bau der KKW sind, haben die streitenden Parteien Naturwissenschaftler zur Seite, die den Standpunkt der jeweiligen Partei zum vertretbaren Maß an Unsicherheit mit gutachterlicher Stimme stützen.

Naturwissenschaftler, vom Staat dazu angestellt, die Gesetze der Natur und ihre Anwendung zu erforschen, halten es also für das Natürlichste der Welt, vor Gericht aufzutreten und nicht die Wissenschaft, sondern die Anwender staatlicher Gesetze darüber entscheiden zu lassen, ob das Wissen, zu dem sie gekommen sind, etwas taugt. Weil ihre Ergebnisse als Mittel dienen, um das Gericht davon zu überzeugen, daß das wahrscheinliche Ausmaß der Gefahr aufgrund bestimmter Sicherheitsvorkehrungen entweder noch oder nicht mehr tragbar ist, steht deren Richtigkeit von vorneherein nicht zur Debatte: sie interessieren nur als Material, um mit ihrer Hilfe zu belegen, daß unter diesen oder jenen empirischen Umständen mit größerer oder kleinerer Wahrscheinlichkeit mit Unfällen gerechnet werden kann.

Mit dem Streit um die zulässige Höhe von Schadstoffbelastung verwandeln sie das Problem der Beseitigung von Schäden in die Frage, wieviel Schadstoffe der menschliche Körper aushält und wieviel ihm davon demzufolge zugemutet werden kann. Mit der Diskussion um notwendige Sicherheitsmaßnahmen, die bei Unfällen ergriffen werden müssen, machen sie aus der Frage, wie man die Kernspaltung technisch in den Griff bekommt, das Problem der Vermeidbarkeit der Folgen der Tatsache, daß sie die Kernenergie technisch nicht beherrschen.

Mit der Auseinandersetzung darüber schließlich, ob Schadenswerte und Unfallrisiken überhaupt wissenschaftlich bestimmbar sind, machen sie endgültig klar, was die Funktion ist, die sie als Naturwissenschaftler vor Gericht haben: sie geben sich dazu her, die Tatsache, daß den Staat die Sicherheitsrisiken der KKWs nur als Bedingungen ihres Betriebs interessieren, in ein Problem zu verwandeln, das sich aus naturwissenschaftlichen und technischen Gründen nicht lösen läßt. Mit dem perversen Geschäft, die Erkenntnis und damit Beherrschung der Natur für den Beweis herzunehmen, daß sich die Natur immer nur mehr oder weniger in den Griff kriegen läßt, betreiben die Naturwissenschaftler Agitation dafür, daß es der Staat sein muß, der sich der weniger beherrschten Natur und ihrer Gefahren annimmt. Einem Robert Jungk bleibt es vorbehalten auszusprechen, was die weniger beherrschte Natur ist:

„Die Atomangst von heute gründet sich auf solchen und anderen Unsicherheitsfaktoren. Unsicher sind vor allem die menschlichen Faktoren. Werden Völker, die von leichtsinnigerem(!) Temperament sind, die notwendige Vorsicht walten lassen? Bedeuten die notwendigen(!) verschärften Sicherheitsmaßnahmen nicht, daß die Welt des Atomzeitalters sich(!) in einen riesigen Polizeistaat verwandeln muß?“ (R. Jungk, Bild der Wissenschaft, Sonderheft)


Der Staat kümmert sich um das Restrisiko

Weil die Menschen aufgrund ihrer unberechenbaren Natur nun einmal dazu neigen, mit Radioaktivität zu spielen, propagiert Jungk die Staatsgewalt, weil sie die einzige ist, die den Menschen daran hindern kann, ein Sicherheitsrisiko für die Menschheit zu werden, und gibt zugleich dem Staat zu bedenken, daß er doch seine Gewalt so einsetzen soll, daß die Bürger ihm gar nicht erst zum Sicherheitsrisiko wen den, weil sie sich vom Staat zu sehr eingeschränkt fühlen.

Da kann der Staat Robert Jungk allerdings beruhigen: erstens hat er gar kein Problem damit, Verfassungsschutz und Polizei nach Belieben einzusetzen, wenn er sich in seiner Sicherheit bedroht sieht, und außerdem sorgt er jetzt schon so gut für Leben und Gesundheit seiner Bürger, daß zusätzliche Maßnahmen durchaus unnötig sind. Gerade daß das moderne Leben überall seine Gefahren hat, ist das Schöne an ihm, beweist es doch die Unentbehrlichkeit des Staates:

„Ein Restrisiko der Atomkraft wird bleiben, auch wenn man nur an die friedliche Nutzung und nicht an die Atombomben denkt, die etwa in manchen Eifelbunkern lagern dürften(!). Aber solche Restrisiken gehören nun einmal zur modernen Industriegesellschaft. Ist es nicht so, daß wir alle der noch unbekannten Technik der Kernenergie mißtrauen, während wir die Gefahren etwa des Luft- und Autoverkehrs bereits alt selbstverständlichen Zivilisationspreis hinnehmen?“ (Handelsblatt)

Der Vergleich von Atomkraft und Straßenverkehr (der schließlich nicht deshalb gefährlich ist, weil Autos und Flugzeuge technisch nicht ausgereift wären!) beweist, daß der unberechenbare Mensch beim Staat in besten Händen ist, und daß dieser allein den Menschen die rechte Dosis unvermeidlicher Nebenwirkungen verordnen kann, die die Annehmlichkeiten des technischen Fortschritts eben mit sich bringen. Damit ist auch endgültig bewiesen, daß es gar nicht die KKWs sind, die die eigentliche Bedrohung des Bürgers darstellen:

„Die radioaktive Belastung durch die Nuklearmedizin vervierfachte sich innerhalb eines einzigen Jahres und liegt jetzt bereits doppelt so hoch wie die aus Kernkraftwerken. Die Bundesregierung ist offenbar entschlossen, etwas gegen diese Entwicklung zu tun.“ (Frankfurter Rundschau, 13.4.77)

Der Protest gegen die KKWs verdankt sich nur der Irrationalität einiger wildgewordener Technologiefeinde, die lieber – so das Handelsblatt – gegen Röntgenstrahlen protestieren sollten, was sie aber andererseits nicht brauchen, weil der Staat sich schon drum kümmert, so daß endlich empirisch nachgewiesen ist: der Mensch wäre verloren, wenn der Staat nicht wäre.

Trotz aller Gerichtsurteile und wissenschaftlicher Überzeugungstätigkeit beharren die Bürgerinitiativen auf ihrem Standpunkt, daß es für den Frieden des Staates mit seinen Bürgern am besten ist, wenn er dem technischen Fortschritt Einhalt gebietet, der solche Gefahren für die Menschheit heraufbeschwört. Der Staat hat mit dieser Sorte von Bürgern, die aus lauter Sorge um seine Sicherheit vor ihrer Unzufriedenheit den Verzicht predigen, seine besondere Last: besteht seine Agitation gegenüber den Bürgern normalerweise darin, daß sie von vornherein alle Ansprüche aufzugeben haben, damit er für das Wohl der Nation sorgen kann, so hat er jetzt seine liebe Not damit, diesen Bürgern ihre übertriebene Verzichtsbereitschaft auszutreiben, damit die Versorgung des Kapitals mit billiger Energie nicht gefährdet ist. Die Bürgerinitiativler sind so sehr für den Verzicht, daß sie von Wirtschaftswachstum nichts wissen wollen, für dessen Segnungen sie verzichten sollen; ihr Verzicht ist für sie nicht Mittel, später für sich etwas rausholen zu wollen, sondern hat an der Übereinstimmung mit dem Staat genug. Deshalb sieht sich der Staat genötigt, die Agitation der Normalbürger zum rationelleren Umgang mit der Energie durch die Warnung an die Bürgerinitiativler zu ergänzen, daß ihr Wille zur Bescheidenheit den Interessen der Bürger zuwiderläuft: zur Propaganda für verantwortungsbewußten Energieverbrauch – der Bürger soll sich bei jedem Druck aufs Gaspedal, jedem Anstellen der Heizung und jedem Kauf eines Elektrogeräts wie ein kleiner Staatsmann aufführen und daran denken, wie er dem Staat die Kosten für die Energie sparen kann – tritt die Lüge, in der BRD würden die Leute bald im Dunkeln sitzen, wenn keine KKWs gebaut würden:

„Eine Stromversorgungslücke in der BRD kann nur dann verhindert werden, wenn aus der atomaren Entsorgung keine unangemessenen Verzögerungen entstehen.“ (Handelsblatt, 10.3.)

Indem die Bundesregierung aus ihrer Entscheidung, die nationale Energieversorgung durch den Bau von KKWs unabhängiger und kostengünstiger zu gestalten, den Sachzwang macht, ohne KKWs könnte keine Energie mehr produziert werden und die Bevölkerung müßte bei Kerzenlicht frierend kalten Kaffee trinken, benutzt sie das reaktionäre Eintreten der Bürgerinitiativler für ein Leben ohne die gefährliche Technik, um ihnen die Schuld dafür zu geben, daß sich die Bürger einschränken müssen.

„Es klingt sehr schön und sogar sehr bescheiden, zu sagen: Wir(!) wollen uns mit dem bescheiden, was Deutschland heute hat. Wir sind für das Nullwachstum. Aber dies ist ein Irrweg und bringt all das in Gefahr, was unsere Arbeitnehmer heute aufgrund des Wachstums unserer Wirtschaft erreicht haben.“ (Ansprache des Bundeskanzlers vor der Betriebsversammlung von DESY, Bulletin der Bundesregierung 28.3.77)

Mit der Lüge, der Staat sorge deshalb für das Wirtschaftswachstum, weil es ihm so sehr um die Arbeiter zu tun sein, macht Schmidt deutlich, wozu ihm die Agitation mit den Interessen der Bürger dient: er benutzt die Tatsache, daß sie sich ständig falsche Hoffnungen darauf machen, daß das Wachstum letzten Endes doch ihnen zugutekäme, um sie gegen die Verzichtspropagandisten der Bürgerinitiativen aufzubringen. Weil der Staat bei denen nicht landen kann, an deren Adresse die Aufforderung, doch mal im Interesse des Fortschritts ein bißchen mehr an sich selbst zu denken, gerichtet ist, weil diesen übertreuen Staatsbürgern das Aufgehen im Allgemeinwohl das beste Mittel scheint, sich die KKWs vom Leibe zu halten, nutzt er die falsche Nutzenkalkulation seiner übrigen Bürger dafür, um diese zur Unterstützung seiner Energiepolitik und zur Isolierung der Bürgerinitiativler zu bewegen. Mit dem Argument, die Bürgerinitiativler könnten sich ihre Verzichtshaltung nur leisten, weil sie ohnehin ausgesorgt hätten – „meist haben sie eine bis ans Lebensende gesicherte Stellung“ (ebda) – beweist sich unser Kanzler wieder einmal als Meister der Staatsagitation: indem er die Bürgerinitiativen der Heuchelei überführt, propagiert er die Einigkeit des Staates ausgerechnet mit den Leuten, die, weil die kapitalistische Ökonomie ihnen keine sichere Stellung bietet, sich doch über einen Staat freuen sollen, der mit dem Bau von KKWs nichts anderes im Sinn habe, als ihnen die Chance zu bieten, sich einen Arbeitsplatz zu sichern, womit er ihnen das Aufreiben im Dienste des nationalen Reichtums als ihren Nutzen verkauft.


III. Atomgegner – ein Fall für den Staatsschutz

Der DGB: Sicherheit ist eine Vertrauensfrage

Die bundesdeutschen Gewerkschaften haben nichts Eiligeres zu tun, als sich diese Argumente des Staates zu eigen zu machen:

„Die überdrehten unter den Kernkraftwerksgegnern schert es nicht im geringsten, wenn Legionen von Arbeitnehmern, die im Kernkraftsektor arbeiten, arbeitslos würden. Sie sind blind auch für die Zwänge(!) des internationalen Wettbewerbs und der Exportfähigkeit unserer (!) Industrie.“ (Welt der Arbeit, 15.4.77)

Ausgerechnet die Bürgerinitiativler sollen an der Arbeitslosigkeit schuld sein, die den Arbeitern gegenwärtig durch die Zwänge des internationalen Wettbewerbs und die Sorge des Staates um die Exportfähigkeit seiner Industrie beschert wird. Die Gewerkschaften machen so klar, daß sie das Wohl der Arbeiter durch die Unterwerfung unter diese Zwänge am besten gesichert sehen und deshalb auch nicht vorhaben, durch eigene Anstrengungen für die Arbeiter etwas herauszuholen. Sie erhoffen sich vom technischen Fortschritt, was sie für die Arbeiter nicht rauszuschlagen bereit sind, weshalb für sie die Frage der Sicherheit von KKWs vor vorneherein nur in der Gewißheit besteht, daß diese beim Staat in besten Händen ist:

„Die Frage der Sicherheit von Kernenergie-Anlagen ist letztlich die Frage des Vertrauens in die privatwirtschaftlich organisierte Industrie und in die staatlichen Kontrollorgane.“ (IG-Metall-Vertrauensleute, Frankfurter Rundschau 5.2.77)

Bei diesem grenzenlosen Vertrauen unserer Gewerkschaften darin, daß Staat und Kapital nichts mehr am Herzen liegt als die Sorge um Leben und Gesundheit der Arbeiter, bleibt diesen nur ein Trost:

„In der Nähe von KKWen findet man die meisten Angler. Warum? Weil es dort das sauerstoffreichste und reinste Wasser gibt.“ (KWU-Betriebsräte, Metall 24/76)

Wenn ihnen die Segnungen des technischen Fortschritts in Form von wegrationalisierten Arbeitsplätzen und verschärfter Arbeitshetze zugutekommen, bleiben ihnen wenigstens noch die KKWs, die ihnen für Arbeitslosigkeit und kaputte Knochen einen beschaulichen Ausgleichssport sichern. Petri Heil!

Die übereifrigen Staatsbürger, die auf Wiesen und Deichen gegen das staatliche Energieprogramm zu Felde ziehen, um endlich wieder mit ihrem Staat zufrieden sein zu können, stören das staatliche Geschäft, weshalb er sie als das behandelt, was sie mit solchen Aktionen für ihn sind: seine Gegner. Wenn die Bürgerinitiativler ihren Einsatz für den Staat als das Aufkommen einer „vierten Gewalt“ (Spiegel) feiern, macht er ihnen klar, daß er es nicht schätzt, wenn es neben seiner Gewalt, die um der besseren Effektivität willen dreigeteilt ist, noch eine andere im Lande gibt.

Daß der Staat, an dem ihm soviel gelegen ist, ihn als Staatsfeind behandelt, macht dem Bürgerinitiativler sehr zu schaffen. Er windet sich in dem Zwiespalt, gegen das Energieprogramm zu sein und deswegen vom Staat als Gegner genommen zu werden und demgegenüber seine Staatstreue unter Beweis zu stellen, ohne die Energiepolitik, gegen die er ist, zu schlucken:

„Wir lassen uns nicht aufzwingen, welche Kampfformen wir zu wählen haben, weder von Stoltenberg noch von Gruppierungen, die aufrufen, in Brokdorf am Bauplatz zu demonstrieren.“ (BUU-Marschenkonferenz, Aufruf zur Demonstration in Itzehoe)


Staatsbürgerlicher Ungehorsam ...

Da die Demonstration von Staatstreue und die Behauptung ihres energiepolitischen Standpunkts sich ausschließen, ringen die Bürgerinitiativen sich seit der Schlacht von Brokdorf im vergangenen November immer mehr zu der eindeutigen Stellung durch, das Energieprogramm nur mehr so zu bekämpfen, daß der Staat in seiner Durchsetzung von ihnen nicht gestört wird.

„Eine Demonstration am Bauplatz wird von der einheimischen Bevölkerung zum jetzigen Zeitpunkt nicht befürwortet. Denn eine gewaltsame Auseinandersetzung in der jetzigen Situation, die nicht zu verhindern wäre, gibt der Landesregierung die Möglichkeit, von der Diskussion über Atomenergie weg und zu einer über Gewalt zu kommen. Das wollen wir nicht.“ (ebda.)

Die ihnen unangenehme Erfahrung, nicht nur vom Staat als Staatsfeind behandelt zu werden, sondern auch von jenen Gruppen, die den bestehenden Staat mit einer Politik des besseren Staates bekämpfen, bewegt sie also dazu, nicht nur eine Bauplatzbesetzung als Mittel für die Behauptung ihres Standpunkts nicht mehr in Erwägung zu ziehen, sondern erst gar nicht am Brokdorfer Schauplatz zu demonstrieren.

Der praktischen Bekundung ihrer Staatstreue fügen sie ihre Gegnerschaft gegen die Kernkraftwerke in der Form des Räsonnements hinzu: Wüstenhagen schließt in der „Eskalation des bürgerlichen Ungehorsams“ das „Durchschneiden eines NATO-Drahtes“ nicht aus – tut es aber wie seine Mitstreiter nicht. Die BUU behält sich eine Besetzung des Brokdorfer Bauplatzgeländes als mögliches Mittel vor, demonstriert aber ihre Staatstreue in Itzehoe. Die Bürgerinitiativen realisieren so die Wunschvorstellung eines Politologen vom Bürger, der nicht Untertan, sondern lebendiger Teil der Demokratie ist:

„Erfolgsbewußte Initiativen sollten jedenfalls stets darauf bedacht sein, sich einen jederzeit reaktivierbaren Rest an elementarer Unbändigkeit zu bewahren.“ (Mayer-Tasch. Die Bürgerinitiativbewegung)

Wenn auch die Wissenschaft vom Staat sich solche Ideale leistet und sie beglückt in den Bürgerinitiativen verwirklicht sieht, die Demokratie sorgt grundsätzlich erst einmal dafür, daß die politische Betätigung der Bürger nicht eine Unbändigkeit bewahrt, die das staatlich erwünschte Maß an staatsbürgerlicher Betätigung des Privatmanns überschreiten könnte. Sie zwingt die kämpferischen Bürgerinitiativler mit der Isolierung vom gesellschaftlichen Leben und mit physischer Gewalt, den Abwehrkampf gegen das Atom eindeutig in einen Abwehrkampf gegen staatsfeindliche Kräfte zu verwandeln, denen die Atomgegner trotz ihrer Liebe zum Staat Auftrieb geben. Diesem Anliegen ihres Staates nachzukommen, haben die Bürgerinitiativen mittlerweile zu einem Schwerpunkt ihrer Aktivitäten gemacht: mit Unvereinbarkeitsbeschlüssen, mit nachträglicher Distanzierung von den „Chaoten“, mit Spaltungen von Bürgerinitiativen, die den zurückgebliebenen Revisionisten(1) als böse Machenschaften des Staates und seiner Helfershelfer erscheinen, weil sie in ihrer Begeisterung für die Atomgegner nicht wissen wollen, wer im Anti-Atom-Kampf auf der Strecke bleibt.


... mit „ungeschriebenem Radikalenerlaß“ ...

Die ideale Variante dieses Abwehrkampfes durfte jene aufgetakelte Hausfrau aus Gorleben dem Fernsehpublikum verkünden, die mit aufgeregter Stimme darauf hinwies, in ihrer Bürgerinitiative gebe es garantiert keine Kommunisten, denn erstens sei Gorleben so klein, daß jeder Fremde auffalle und zweitens hätten die Bürgerinitiativen ein Meldesystem eingerichtet, mit dem herannahende Kommunisten lückenlos aufgespürt werden könnten.

Auch wenn dieser hausgemachte Verfassungsschutz den schönen Nachweis erbringt, daß der Antikommunismus den Menschen im Blut liegt –

„Die Niedersachsen sind ein stures Volk und die Lüchow-Dannenberger sind noch die stursten. Ochsenblut, sagt man, fließt durch ihre Adern. Revolutionäre Hitzköpfe haben es hier schwer,“ (FR 26.2.77) –

verläßt sich der Staat nicht einfach auf den „ungeschriebenen Radikalenerlaß“ (Gross) der Bürgergerinitiativen. Angesichts der praktizierten Beteuerung der Kernkraftwerks-Gegner, daß sie keine Gegner des Staates seien, fordert der Staat sie auf, dann auch gefälligst alles zu unterlassen, was ihn nötigt, sie als Staatsgegner zu behandeln.

„Die Mahnung, sich bei Demonstrationen nicht zu Gewalt überreden oder hinreißen zu lassen, ist das eine. Aber auch das andere ist mir wichtig, nämlich all denen, die zum friedfertigen Protest entschlossen sind, eines zu sagen: Die vielschichtigen Probleme unserer Energiepolitik können nicht in einem Klima diskutiert werden, in dem sich Argumente und Gefühle und Halbwahrheiten so sehr vermischt haben, daß nicht mehr alle, die heute zum Thema reden, auch zu einem ruhig-sachlichen Urteil in der Lage sind. Doch gerade auf das nüchterne, sachliche Urteil kommt es an.“ (Erklärung des Bundeskanzlers zum Bau von Kernkraftwerken, 17.2.77)


... ruft die Volksfreunde auf den Plan

So sehr sich die Staatsagenten auf den Antikommunismus der Anti-Atom-Initiativen verlassen können, betreiben diese doch von sich aus das Geschäft der „Entmischung“, so wenig lassen die Kernkraftwerksgegner von ihrer Initiative ab und weigern sich, die ganze Energiefrage der Sachlichkeit ihrer parlamentarischen Behandlung zu überantworten. Allein damit geben sie aber trotz ihrer antikommunistischen Aktivitäten den revisionistischen(1) Gruppen Gelegenheit, die Kernkraftwerks-Gegnerschaft in eine Volksbewegung gegen den Staat umzulügen und diese Lüge praktisch zu beweisen.

„Die Volksbewegung hat das Kernenergieprogramm bereits ins Wanken gebracht“ (weswegen es die Bundesregierung soeben fortgeschrieben hat) „und die bürgerlichen Kräfte erheblich zersetzt. Der Zusammenschluß im Kampf gegen das imperialistische Energie, Programm muß sich in den Maidemonstrationen ausdrücken.“ (KVZ-extra)

Die handfeste Absage der KKW-Gegner an Ideale vom besseren Staat hindert die Revisionisten nicht, die Tatsache der Atomkraftgegnerschaft als den Ruf der Massen nach einem wahren Volksstaat zu interpretieren. Mit der Leugnung der Tatsache, daß der westdeutsche Volksstaat erfolgreich das Volk als das seine beweist, schaffen sich die Revisionisten die Grundlage dafür, so zu handeln, als wären die Bürgerinitiativen bereits das Volk des Staates, für den die Revisionisten kämpfen – ein Illusionismus, der sie die Notwendigkeil vergessen läßt, die KKW-Gegner überhaupt noch für ihre Politik zu agitieren. Die DKP gibt dieser Illusion dadurch „Ausdruck“, daß sie gleich auf die Propagierung ihrer Ziele verzichtet und die Bürgerinitiativler als ihre Gefolgsleute reklamiert, weil auch DKP-ler in den Initiativen arbeiten. Ihr ist keine Bürgerinitiative zu reaktionär, um sich ihr nicht mit „alternativen Forderungen nach einer nationalen Energiepolitik unter demokratischer Kontrolle“ (UZ, 4.4.77) zu akkommodieren. Die jungen DKP-ler im Spartakus übertreffen die Mutterpartei darin sogar noch, indem sie es 1. zu ihrem eigentlichen Ziel machen, „auf alle Fälle zu verhindern, daß neugewonnene Kräfte die Bewegung wieder verlassen“ (MSB-Zeitung), was 2. den aktiven Einsatz gegen die „Chaoten“, die lästigen Konkurrenten der DKP in Sachen besserer Staat, mit sich bringt, weshalb 3. die DKP von der Spaltung aller möglichen Initiativen lebt – und das noch nicht einmal schlecht, trägt sie doch mit ihrer Anbiederung an die initiativen Bürger dazu bei, daß die als „Chaoten“ gebrandmarkte Konkurrenz ohne die Bürger initiativ bleibt.

Den revisionistischen Vereinen, die das „K“ vorne tragen, fällt an ihrer Bekämpfung als „Chaoten“ nur auf, daß diese Abfuhr nicht sein kann, wähnt man sich doch in der Gegnerschaft zum Staat darin mit den Bürgerinitiativen einig, daß der Staat eine feine Ordnungsmacht ist, wenn er sich nur in Übereinstimmung mit seinen Bürgern bringt. Den Nachweis der DKP, daß in den Initiativen eigentlich die Staatsgegner vereint sind, komplementieren die K-Gruppen durch die Demonstration, daß an Rhein, Elbe und Main tatsächlich gegen Polizei und BGS gekämpft wird – wobei sie es geflissentlich übersehen, daß sie es sind, die dort den Kampf bestreiten. Der Kampf gegen die staatlichen Ordnungskräfte dient ihnen als Beweis der Stärke, die sie sich mit der Reklamation der Bürgerinitiativler als ihre Gefolgsleute zuschreiben, weshalb sie entsprechend dieser Illusion den Kampf als paramilitärische Operation führen: die Volksmassen vermeintlich hinter sich, tun sie so, als könnten sie dem Staat die Machtfrage stellen – eine Abstraktion von den Machtverhältnissen, die in der physischen Blessur ihre Erfüllung und in der totalen Unterlegenheit ihr böses Erwachen findet. Ihnen ist jede Niederlage noch als Beweis willkommen, die eigenen Ziele erreicht zu haben – die Massen kämpfen, weil es einen Kampf gab, auch wenn er nicht der „Volksbewegung gegen das imperialistische Energieprogramm“ Ausdruck verlieh. Diesen Ausdruck zu bewerkstelligen, wird auch gleich zum Beweggrund, dieselbe Wahnsinnspolitik fortzuführen, im Mai und allen darauf folgenden Monaten.


„Können tut die Bourgeoisie, aber wird sie auch wollen?“

Der einzige, dem die Revisionisten aller Couleur einen Dienst erweisen, ist der bürgerliche Staat. Sie machen ihn darauf aufmerksam, daß trotz aller Staatsbürgertreue das Individuum auch an sich selbst denkt und dabei darauf kommen kann, daß die staatlichen Maßnahmen seiner Entfaltung nicht förderlich sind. Die Kämpfe, die die Revisionisten in Grohnde der Polizei und dem Bundesgrenzschutz lieferten, beantwortete Albrecht mit der Forderung nach einem Verbot kommunistischer Gruppen. Zwar befanden die liberal-sozialdemokratischen Geister die konservative Forderung zum jetzigen Zeitpunkt als unnötige Maßnahme, die der geringen Stärke der Kommunisten eine Aufwertung gäbe und Organisationen in den Untergrund schicken würde, wo der Staat de viel schwieriger im Griff halten kann. Doch nahmen die Reformer den Anstoß wachsam auf und riefen den Demokraten in jedem Bürger auf, solidarisch zu seinem Staat zu stehen:

„Mit einem Verbot ist das Problem nicht weg. Wenn sich die Volksmassen von denen trennen, ist deren politische Wirksamkeit gleich Null. Ohne Kulisse sind das Würstchen.“ (Gross; Spiegel 14/77)

Wenn es notwendig ist, scheut auch ein Liberaler keine Maßnahme, mit der er den Bürger lehrt, was staatlich garantierte Freiheiten sind. Der niedersächsische Innenminister legte noch einmal das Kriterium für dieses Konditional klar: sobald der Staat seine Bürger vor Feinden schützen muß, weil die Bürger ein falsches Feindbild haben, greift er zu jeder Maßnahme, um die gefährdete Kulisse für sich zu retten. Die Frage des KBW angesichts der Verbotsdrohungen: „Wollen tut die Bourgeoisie, aber wird sie auch können?“ (KVZ, 24.3.77) legt Zeugnis ab von der Gefährlichkeit des Revisionismus, der den Staat bereits auf den Materialismus seiner Bürger achten läßt, wenn ihm dieser noch gar nicht gefährlich ist. Der paramilitärische Aufmarsch von Revisionisten hält den Staatsmännern für eine Agitation her, welche den Egoismus der Individuen schon dann als Staatsfeindschaft brandmarkt, wenn dieser Egoismus sich freiwillig am Staatswohl relativiert.

Und die Schüsse von Karlsruhe, die drei Staatsdiener ums Leben brachten, nützen deren Vorgesetzte – an vorderster Front der Kanzler (vgl. S. 1 dieser MSZ) – , um den Deutschen auch angesichts von Bürgerinitiativen den „leisen Schauer des Anarchischen“ (Spiegel) den Rücken herunterlaufen zu lassen.

 

aus: MSZ 16 – April 1977

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