Der Kongreß des Jahres:

1500 Philosophen auf einem Haufen


Zwar hat der neulich in Düsseldorf abgehaltene Philosophengipfel weder für die Menschheit noch für sonst wen etwas Greifbares gebracht. Richtig kritisiert ist er damit aber noch nicht. Schließlich erwartet man von einem 16. Weltkongreß der Philosophie etwas anderes als von einem Gipfeltreffen der Staatsmänner, einem Kongreß von Krebsforschern oder einer Jahrestagung des Hundezüchtervereins. Bei einem Konklave in Rom wartet alle Welt immerhin auf den Neuen. Von 1.500 Philosophen auf einem Haufen erwartet man sich streng genommen überhaupt nichts. Sicher ist es nicht schlecht, daß zum ersten Mal endlich ein Deutscher namens Alwin Diemer zum Präsidenten der „Internationalen Philosophischen Föderation“ gewählt worden ist. Aber wenn dieser Alwin I. im ersten und einzigen Satz seiner Amtszeit (beim Sokrates!) schwört, „auch er lehne eine Philosophie als Propagandainstrument (!) zur Verbreitung »der« Wahrheit ab“ (SZ), dann ist niemand enttäuscht, weil klar ist, daß nichts auf dem Spiel gestanden hat. Die Wahrheit ist ja, zumal in diesen Zeiten, eine Sache des Glaubens. Sehr schön ist andererseits das Bekenntnis des obersten Philosophen, daß die heutigen Philosophen durchaus nichts anderes mehr wollen, als Propaganda zu machen für andere und anderes (und was kann dies andere wohl sein, wenn es nicht die Wahrheit ist?). Das Peinliche an diesem Opportunismus ist nur, daß die Philosophen die Spinner bleiben, die es mit dem Allerletzten, z.B. der Wahrheit haben!


Wesen höherer Art?

Denn das hat der Herr Bundespräsident den versammelten Philosophen aus den (nichtpopperschen) „Drei Welten“ sogleich unter die Nase gerieben:

„Ein Mensch, der die ganze (!) »Kritik der reinen Vernunft'«oder »Sein und Zeit« von vorne bis hinten gelesen hat und anschließend auch noch behauptet, er habe sie verstanden (!), muß einem Normalmenschen als ein Wesen höherer Art erscheinen.“

Das war der erste Höhepunkt einer Rede, die allgemein als das eigentliche philosophische Ereignis dieses Gipfels empfunden wurde, und zwar deswegen, weil Herr Scheel, seines Amtes gemäß, so deutlich politisch wurde. Zur philosophischen „Fachdiskussion“ wollten Scheel nur noch „Erinnerungen an Begriffe wie »Überbau« und »Unterbau« einfallen“ sowie die versöhnliche Mitteilung, er habe „in über 30 Jahren politischer Tätigkeit nahezu täglich auf die eine oder andere Weise mit Karl Marx zu tun“ gehabt. Dann ließ er es mit der Anpinkelei gut sein, verließ das „schlüpfrige Gelände“ der Philosophie und stellte dem still lauschenden Kongreß kurz den Trick mit der Wahrheit vor und vor allem – klar.

1. Der demokratische Staat hat, wie alle Fragen des Volkes, so auch die Frage des Philosophen nach der Wahrheit, längst entschieden. Wie z.B. für das Aushandeln von Tarifen hat er für die Suche nach der Wahrheit Regeln erlassen, steht also zur Wahrheit in keinem „direkten Verhältnis“.

2. Die Regel heißt „Meinungsfreiheit“ und bedeutet den Zwang, nach der Wahrheit lieber nicht zu suchen, („Bescheidenheit der Demokratie“)

3. Die Wahrheit oder Falschheit der Regel „Meinungsfreiheit“ zu diskutieren, ist ein Verstoß gegen die Regel, weil der demokratische Staat ja keine Frage der Wahrheit ist.

Von der immanenten Logik dieser Regel getrieben, verriet der gut präparierte und wie immer gut gelaunte Scheel noch der demokratischen Weisheit letzten Schluß:

4. Die Wahrheitsfrage ist also gar keine nach der Wahrheit, sondern die Sorge darum, ob überall auf der Welt Meinungsfreiheit herrscht.

So kamen die Philosophen aus dem Osten, die wieder einmal „straff organisiert“ und „deutlich überproportioniert“ (Presse) auf dem Gipfel erschienen waren, gleich in den Genuß, vom gastgebenden Staatspräsidenten brutal als Kommunisten beschimpft zu werden, die mit den Menschenrechten auf Kriegsfuß stehen. Sie forderte Scheel nachdrücklich auf, sich nicht an die von ihm erklärte Regel zu halten, sondern mutig für die Wahrheit einzutreten – allerdings natürlich nur bei ihnen daheim! An den Schluß seiner Rede stellte der Bundespräsident die Direktiven, die der Philosophengipfel zu erfüllen habe, die er in der Aufgabe zusammenfaßte: „Können wir (!) dem Erkenntnisdrang der Wissenschaft weiter freien Lauf lassen?“ Damit war denn auch die Spannung vertrieben, die Ostler brauchten nicht abreisen.


Das neue Universum

Mit dem, wie man hörte erst nach harten Ost- West-Verhandlungen zustandegekommenen „Generalthema“: „Die Philosophie und die Weltauffassungen der modernen Wissenschaften“ hatten die Philosophen bereits vorher beschlossen, die Scheelsche Schulaufgabe zu lösen. Das offensive Eingeständnis, daß die Philosophie welthistorisch gesehen ausgeschissen hat – das einzige Thema, das mit Philosophie zu tun hatte, hieß bezeichnenderweise: „Der Universalienstreit heute“ (!) – das ebenso offensive Bekenntnis, Schmarotzer der Einzelwissenschaften zu sein, die Lüge, die Wissenschaften hätten „Weltauffassungen“ – dies zusammengenommen war die Basis für die Philosophen, sich als Parteigänger gegen die Wissenschaft aufzuführen. In der Sektion „Die Idee des Universums“ ging es gegen die Physik (mit Physikern, die sich gern als Philosophenkasperl aufführen), die Sektion „Die Herausforderung der Philosophie durch die moderne Biologie“ war deshalb eingerichtet worden, weil demnächst eine Philosophin ein Kunstbaby bekommt. Die Philosophen erklärten sich auch bereit zur „Beherrschung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts“, von dem sie ja erstens so viel Ahnung haben und für dessen Beschränkung der Staat ja bekanntlich die Philosophen ruft. Sehr aktuell die Sektion über: „Die wissenschaftliche Begründbarkeit von Normen“, bei der bereits durch die philosophische Sprachregelung des Themas – „Begründbarkeit“ – klargestellt wurde, 1. daß Normen (Moral, Werte, Staatsgewalt) sein müssen, 2. den Massen Normen nicht angeboren sind und 3. das Geschäft des Moralphilosophen darin besteht, jenseits der existierenden Ordnung diese Ordnung auch noch in ihrer Möglichkeit zu „konstruieren“. Wie das gehen soll, wurde in der Sektion „Bewußtsein, Hirn und Außenwelt“ erörtert. Die Diskussion biß sich allerdings an der Frage fest, ob das Hirn als Sitz des Bewußtseins zur Außenwelt gehöre oder ob vielmehr die Außenwelt mittels des Hirns ins Bewußtsein aufgenommen sei, oder ob es sich vielmehr bei allen dreien, dialektisch gesehen, nur um unterschiedliche Aggregatszustände der Materie handle.


Patzig für Deutschland

Die Veranstaltung hat den Beweis erbracht – für den, der ihn noch haben möchte –, daß sich die Philosophen mit ihrer Propaganda für das Irrationale streng nach der Konjunktur des Staates ausrichten (Sozialphilosophie war diesmal kein Thema). Der Staat hat seinen Bürgern seine Philosophen hergezeigt und den Leistungsstand der deutschen Philosophie demonstriert: „Für Deutschland faßte Patzig präzis zusammen: die rationale Diskussion über Normen sei möglich.“ (!!) Das Hauptvergnügen des Philosophengipfels bestand darin, die bornierten Philosophen aus dem Ostblock in die Pfanne zu hauen. Das ist natürlich nicht ungerecht: noch bei den größten Spinnereien und Irrationalismen westlicher Philosophen pflegen die Ostler mit größter Regelmäßigkeit den gesetzmäßigen Sieg des Dialektischen Materialismus und des Friedensprogramms der KPdSU zu entdecken, wodurch ein fruchtbares philosophisches Gespräch verständlicherweise nicht zustandekommt, auf das man in diesem Fall aber verzichtet hat und jedesmal in „Gelächter“ ausgebrochen ist, wenn ein Ostdialektiker sich „entlarvt“ hat.

Zweifellos war das Schönste an den 1.500 Philosophen auf einem Haufen, daß dieser Haufen in Deutschland war. Daß das Ganze vorbildlich organisiert war. Daß die deutsche Delegation (und der Westen überhaupt) gut abgeschnitten hat. Daß, wie gesagt, jetzt Alwin I. residiert. Für den unaufhaltsamen Aufstieg Deutschlands in der Weltpolitik war der Philosophengipfel nicht schlecht. Daß 1904 das erste Mal ein Weltkongreß der Philosophen in Deutschland tagte, wurde zwar in der Presse hervorgehoben, hat aber wirklich nicht viel zu sagen.

 

aus: MSZ 25 – Oktober 1978

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