Fast vierstündige Diskussion im Fernsehen

Wahlen und Schießbefehl beherrschen die Debatte der Spitzenkandidaten

Weitere Schwerpunkte: Wirtschafts- und Ostpolitik / Kanzlerkandidat Mies: Kein Treffen mit Honecker beabsichtigt / Zum Schluß schwere persönliche Auseinandersetzungen


Auf dem Höhepunkt des Wahlkampfs sorgten Arbeiter der DKP-Betriebsgruppe „Zündung“ mit einem Schlag für Aufregung: durch einen einfachen technischen Trick war es ihnen gelungen, den DKP-Kanzlerkandidaten in die Diskussionsrunde der bürgerlichen Machtaspiranten einzublenden (siehe Foto!).

Doch kaum hatte er begonnen, drängende Fragen und Sorgen der Bevölkerung (Riesenprofite, Massenarbeitslosigkeit, Preisstopp usw.) zu formulieren, hatten die Fernsehtechniker die Panne und mit ihr den Schreck, der den Vertretern der Monopole in die Glieder gefahren war, behoben.

Aber da hatten sie ihre Rechnung ohne das Volk gemacht:

„Die haben sich, ohne auf die Zeit zu achten, breitgemacht, als würde das Fernsehen ihnen privat gehören“  „Am Tatort Bonn fehlte einer, der Aufklärung und Alternativen gebracht hätte.“ So und ähnlich empörte sich die werktätige Bevölkerung. In wenigen Stunden formierte sich eine demokratische Massenbewegung unter der einheitlichen Losung: Fernsehdiskussionsfreiheit für die Parteien des Volkes. Ohnmächtig mußten die Fernsehbonzen nachgeben und für Freitag, den 1. Oktober eine Diskussionsrunde ansetzen. Über den Streit, wer die Moderation übernehmen sollte (DKP: Gautier, KPD: Semler, KBW: Schmierer), wäre die Sendung beinahe geplatzt, hätte nicht der Offenbacher Selbstbedienungsladen für Probleme der Studenten- und Arbeiterbewegung ein günstiges Angebot unterbreitet: einen Mann, begabt mit dem Interesse an der Politik, das ihn noch stets bewogen hat, sich aus ihr rauszuhalten: Ossi Negt.

Dem noch beträchtlichen Teil der Werktätigen, die dem Ereignis nicht beiwohnen konnten, weil der Aufschwung Nachtschichten und Überstunden kostet, erspart die MSZ mit dem Abdruck dieser Diskussion die Mühe, sie aus den verschiedenen Parteiorganen zu rekonstruieren. (Nach den heftigen persönlichen Auseinandersetzungen hatten sich die Redaktionen geweigert, auch die Statements der Konkurrenzparteien abzudrucken.)

Kursiv gesetzter Text ausnahmslos wortwörtliche Zitate aus Publikationen von DKP, KBW, KPD und SB.


Negt: Guten Abend, meine Damen und Herren! Die trotz Aufschwung offenbare Krise der bürgerlichen Gesellschaft eröffnet der Linken immer auch Möglichkeiten der Agitation und neue Chancen für die politische Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse, das Zustandekommen ...

Hutter (anwesendes Mitglied des Ständigen Ausschusses des Politbüros des Zentralkomitees der KPD, Elektromechaniker und Spitzenkandidat seiner Partei): Nieder mit Honecker, nieder mit Schmidt, schlag zu Prolet und weg damit!

Negt: Eigentlich hatten wir vereinbart, daß die einzelnen Vertreter in der Reihenfolge des Alphabeths zu Wort kommen sollen.

Mies: Wir wollen doch alle gemeinsam eine echte demokratische Opposition im Parlament haben und eine Entwicklung unseres Landes zu dauerhaftem Frieden und wirklicher Freiheit.

Hutter: Noch ist dies nicht Ihr Land! Die DKP versucht unser Volk mit pazifistischen Phrasen zu täuschen, damit es umso weniger gerüstet den Vorherrschaftsplänen des Sozialimperialismus gegenübersteht. Sie unterstützt die widerliche Schmidtclique in ihrer Politik der offenen Tür, die in überheblicher Arroganz den Supermächten in den Hintern kriecht. Weil sie die Spaltung Deutschlands bejubelt, die Unterdrückung der DDR durch den Sozialimperialismus als Bruderbund preist und die Unabhängigkeit der BRD und Westberlins verschachern will,  ist sie keine deutsche Partei! Neben dem K ist also auch das D zu streichen!

Helga Rosenbaum (Gemeinderätin in Heidelberg und Spitzenfrau des KBW): Dann sind wir die ersten! Wir wenden uns an die Arbeiter und Angestellten, an alle Besitzlosen und die kleinen Bauern. CDU, SPD und FDP sagen, die Profite müßten gesteigert werden, damit die Gesellschaft aus der Krise herauskommt, die Löhne müßten gesenkt werden, damit die kapitalistische Wirtschaft funktioniert.

Negt: Genau!

Rosenbaum: Diese Lügen zu entlarven, die revolutionären Interessen der Arbeiterklasse bewußt machen, das ist der Zweck der Wahlkampfführung des KBW. Dieses Interesse mit Millionen von Lügen zu verschütten, ist der Zweck der Wahlkampfführung der bürgerlichen Parteien Es gibt keinen Zweifel, daß die Herrschaft der Kapitalisten nicht durch Parlamentswahlen, sondern durch die proletarische Revolution gestürzt werden wird. Dazu braucht die kommunistische Partei die Arbeiterklasse.

Hutter: Seit 1970 gibt es eine Partei, die die revolutionäre Tradition Ernst Thälmanns fortsetzt: die KPD!

Mies: Zu Ihnen Herr Hutter! Die Partei Emst Thälmanns ist die DKP und zwar schon seit 1969. Dies bezeugen Tausende von Werktätigen, die der Partei Ernst Thälmanns angehörten (siehe Foto!). Ein Beispiel von vielen: Alfred Engelhardt, Rentner, Schwarzenbach/Saale äußerte sich gegenüber der UZ; ich zitiere: „ich stimme für die DKP. Wofür denn sonst! Etwa für die Spaltergruppen, die sich kommunistisch nennen, aber Töne spucken wie Franz Josef Strauß? Unmöglich diese Spalter zu wählen, die mit dem Verfassungsschutz im Rücken darauf aus sind, Wähler zu betrügen. Ich bin seit 1928 Kommunist. Die DKP ist die einzige kommunistische Partei, die zur Wahl steht. Und nur die kann man wählen.“ Zu Ihnen Frau Rosenbaum! Genscher erklärte: „Hohe Gewinne sind für die Konjunkturbelebung das Wichtigste, wobei es zu sichern gilt, daß soziale Konflikte vermieden werden.“ Das ist doch ein Beweis, daß die Bevölkerung hinters Licht geführt wird. CDU/CSU, FDP und SPD haben keine Antwort auf die Lebens- und Zukunftsfragen des arbeitenden Volkes. Die DKP ist die einzige Alternative: sie fordert den verstärkten Ausbau des Osthandels; durch ihn wurden in der BRD 500 000 Arbeitsplätze sicherer gemacht.

Hutter: Breschnew und seine Handlanger Honecker und Mies sind die schlimmsten Feinde des deutschen Volkes! Brechnews Hegemoniedoktrin heißt Entspannung, zu deutsch: Abrüstung der westlichen Staaten, Nachlassen in der Verteidigungsbereitschaft, Loslösung vom Natobündnis und die politischen und wirtschaftlichen Tore ganz weit öffnen, damit der russische Tiger mit seinen scharfen Pranken hereinspaziert und sich alles unter die Krallen reißt, was er in sein gefräßiges Maul hineistopfen kann. Das sind die brennenden Fragen der Arbeiterklasse!

Rosenbaum: Das ist chauvinistische Politik und hat mit den Interessen der Arbeiterklasse und des Volkes nichts zu tun. Unsere Forderungen in diesem Kampf sind: Abzug aller fremden Truppen aus Westdeutschland, Auflösung aller fremden Militärstützpunkte in Westdeutschland, Westdeutschland raus aus der NATO!

Mies: Die DKP verspricht niemandem goldene Berge, sondern vertritt realistisch die Interessen der Arbeiter und Werktätigen. Wie auf der Berliner Konferenz z.B., wo wir mit 28 kommunistischen Parteien über die friedliche Zukunft unseres Kontinents berieten. Die DKP vertrat dort die Interessen der Bundesrepublik. Sie ist ein gefragter Gesprächspartner, sie hat gute Beziehungen zu der kommunistischen Welt und ihren Repräsentanten ...

Hutter: Und ob!

Mies: ... Die DKP hat gute Beziehungen zu den kommunistischen Parteien Westeuropas, zu Marchais, zu Berlinguer, zu Cunhal, wie zu allen anderen. Die DKP stellt ihr hohes internationales Ansehen in den Dienst für unser Land!

Hutter: Ihr Land ist die sozialimperialistische Sowjetunion! Was Arbeiterpolitik heißt, hat die KPD immer wieder deutlich zum Ausdruck gebracht. Die modernen Revisionisten(1) unterstützen die politische Unterdrückung in der DDR, ihr Vorbild und Ziel sind die Zuchthausverhältnisse in der DDR und Sowjetunion. Sie bejubeln die Spaltung Deutschlands und werden noch jeden Mord an der Mauer verteidigen. Deshalb weg mit Mauer und Schießbefehl!

Rosenbaum: Die Gruppe Rote Fahne ist vollends zu Kreuze gekrochen. Sie soll ihre Zeitung umbenennen und sich „Schwarz Rot-Goldene Fahne“ nennen. Wir haben schon immer gesagt, daß die GRF die Diktatur des Proletariats zwar viel im Munde führt, aber ganz anderes im Sinne hat: die Herrschaft einer Gruppe von Hallodris wie Horlemann und Semler, die zur Bourgeoisie gehörten und Bourgeois bleiben. So leicht wird aus einem Kapitalistensöhnchen kein proletarischer Revolutionär. Daß diese Leute für ihre Übeltaten auch noch einen Arbeiter vorschicken, zeigt bloß, daß sie genau wissen, was sie treiben, und daß sie Tarnung notwendig haben.

Hutter: Da gibt es nichts „vorzuschicken“ wie beim KBW den „Arbeiter“ Noth aus München (ein Student, der ab und zu während der Semesterferien auch mal einen Betrieb von innen sah), und es nicht mal fertig brachte, seine 200 Stützunterschriften für die Kandidatur zu sammeln. (Er erreichte gerade mal 70).

Mies: Das zeigt, wie wenige auf euch maoistische Falschspieler hereinfallen. Seht euch die UZ vom 17.9. an (wedelt mit der UZ): von den insgesamt 572 Kandidaten der DKP zu den Bundestagswahlen sind 462 Arbeiter und Angestellte. 85 Kandidaten sind unter 25; das Durchschnittsalter aller Kandidaten ist 39. 30% aller Landeslistenkandidaten sind Frauen. Tag für Tag sprachen unsere Kandidaten mit der Bevölkerung. Wir werden auch nach der Wahl Fragen beantworten und Arbeiterpolitik vertreten.

Hutter: Zertreten!

Mies: Ich appelliere an alle fortschrittlich denkenden Menschen: übermorgen ist Wahltag! Nutzen Sie ihn: Stimmen Sie für die eigenen Interessen! Wählen Sie mit beiden Stimmen DKP! Nur wer DKP wählt, stimmt gegen das große Kapital!

Negt: Ich glaube – auch im Interesse der werktätigen Bevölkerung – sollten wir nun zu einem Schluß kommen. Wir stehen nun am Ende eines großen Ereignisses. Die Erfahrung hat gezeigt, daß Einheit zum Erfolg führt, daß proletarische Öffentlichkeit möglich ist.

Hutter: Kämpft mit der KPD, wählt KPD!

Mies: Strichjunge der Bourgeoisie!

Hutter: Mieser Ostblockagent!

Rosenbaum: Arbeiterverräter!

Negt: Andererseits war diese Diskussion auch ein Beweis für die Bedeutung der Versuche des SB, Isolation und Zwang durch die Einbeziehung des „Privatlebens“ in die gemeinsame Arbeit ansatzweise zu überwinden und so Voraussetzungen für die Einheit der sozialistischen Bewegung zu schaffen. Ich schlage vor, wir singen zum Schluß gemeinsam die Internationale anstatt der bourgeoisen Deutschlandhymne.

Hutter: Nicht anstatt! Mit!

*****

Letzte Hochrechnungen des SB-eigenen Meinungsforschungsinstituts ROTPHRAS deuteten schon an, daß dieses Ereignis in der Geschichte der demokratischen Bewegung nicht ohne Folgen bleiben konnte. Es zeichnete sich ein heißes Kopf-an-Kopf-Rennen ab. Die ersten Stellungnahmen zur Wahl vermelden überwältigende Erfolge. Triumphierend reiht die UZ Sieg an Sieg:

„In Hamburg-Eimsbüttel wurden 60% mehr Stimmen für die DKP abgegeben als 1972. In Hamburg-Karolinenviertel konnte die DKP ihren Stimmenanteil verdreifachen. Im Kreis Pinneberg, Schleswig-Holstein konnten die Stimmen durchschnittlich verdoppelt werden. In Ergolsbach/ Niederbayern steigerte die DKP ihren Stimmenanteil bei den Zweitstimmen um 100%, bei den Erststimmen gar um 200%!“

Im gleichen Tenor schmettert die Rote Fahne:

„22 801 Stimmen für die KPD! Dagegen hat die DKP über 60 000 Stimmen weniger bekommen (—34%) als 1972! Genosse Gildemeier erzielte mit 391 Erststimmen als Direktkandidat in Augsburg-Stadt gegenüber 430 DKP-Stimmen ein gutes Ergebnis. Dies gilt auch für das Verhältnis der Zweitstimmen: 249 (KPD) und 339 (DKP). Unsere Partei hat in 37 Wahlkreisen mit ihren Direktkandidaten intensive politische Arbeit geleistet. Dies drückt sich darin aus, daß wir in einem Siebtel der Wahlkreise (37), in denen Direktkandidaten unserer Partei kandidierten, ein Drittel unserer Gesamtstimmen erkämpft haben!”

Schwierigkeiten scheint lediglich der KBW zu haben, natürlich aber nicht mit den Wählern, sondern mit sich selbst. Schon vor dem 3. Okt. ließ sich nicht verheimlichen, daß im KBW ein erbitterter Kampf zweier Linien entbrannt ist. Offensichtlich ist es inzwischen der radikalen Heidelberger Schmierer/Rosenbaum- Gruppe gelungen, die Festung der Bourgeoisie in der KVZ-Redaktion zu stürmen. (Wie die KVZ schon im September mitteilte, ist es dem ZK des KBW gelungen, in der Redaktion des Zentralorgans eine rechtsopportunistische Strömung in Gestalt der Redakteure W.M, B.B. und E.R. zu entdecken.) Es scheint, als hätten sie ihre Position gefestigt: in Heidelberg herrscht Ruhe auf den Straßen; von den Redakteuren B.B., W.M. und E.R, waren gestern im KBW-Büro München keine Fotos mehr zu erhalten ...

aus: MSZ 13 – Oktober 1976

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